Wenn Mareike nicht gewesen wäre, hätte ich es vermutlich gar nicht ins Theater geschafft. Ich war froh, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wie es um mich stand, denn durch ihre unbekümmerte Vorfreude war ich so abgelenkt, dass mir meine Nervosität nicht anzumerken war. Schwerer wurde es, als wir unsere Sitzplätze einnahmen und ich sofort an das erste Mal denken musste, als ich Caroline im Theater gesehen hatte, und wie dieser Abend dann ausgegangen war. Mich überkam eine solche Angst, dass sich die Situation von damals wiederholen könnte, dass mir von einer Sekunde auf die andere speiübel wurde.
Zum Glück war Mareike mit anderen Dingen beschäftigt. „Meine Güte, was für ein hübsches Theater!“, raunte sie mir aufgeregt zu. „Schon allein deswegen lohnt es sich, hierher zu kommen. Schau doch mal die schönen Figuren überall!“ Sie wies auf die Säulen zwischen den Rängen. „Vielleicht sollte ich Torsten ein Abonnement für uns beide zu Weihnachten schenken. Er findet Caroline Stein sowieso klasse.“
Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es sein musste, hier regelmäßig zu spielen, in diesem historischen Theater, wo schon so viele Legenden aufgetreten waren. Ob Caroline wohl großes Lampenfieber gehabt hatte, als sie das erste Mal hier aufgetreten war? Das Berliner Publikum war bekannt dafür, nicht gerade zimperlich zu sein, aber
Viel Lärm um nichts hatte bisher ausschließlich gute Reaktionen bekommen. Ob Caroline Kritiken überhaupt las? Wir hatten nie darüber gesprochen.
„Es geht los“, flüsterte Mareike, und tatsächlich gingen nun die Lichter aus. Ich schloss meine Augen, um gegen meine Übelkeit anzukämpfen. Ich fürchtete mich davor, Caroline zu sehen. Erst als ich das Rauschen des Vorhangs hörte, öffnete ich halb meine Augen und spähte auf die Bühne.
Es ist nur ein Theaterstück, versuchte ich mir selbst zu sagen.
Entspann dich, Fanny, und genieße die Vorstellung.
Mareike stieß mir in die Rippen, als Beatrice die Bühne betrat. „Das ist sie!“, raunte sie mir zu, als ob ich es nicht selbst wüsste.
Auch wenn ich von der Handlung nicht viel mitbekommen habe, muss ich sagen, dass es wirklich ein Genuss war, Caroline spielen zu sehen. Genauso überzeugend, wie sie das introvertierte Leiden der Maria Stuart gespielt hatte, verkörperte sie nun die freche Beatrice, Tochter des Gouverneurs von Messina, die mit ihrem losen Mundwerk alle Männer herausforderte. Besonders Beatrices Wortgefechte mit ihrem zukünftigen Bräutigam Benedikt waren so charmant in Szene gesetzt, dass es ständig Zwischenapplaus gab. Caroline zeigte eine Spielfreude und eine Energie auf der Bühne, dass das Publikum ihr vom ersten Augenblick an zu Füßen lag.
Während Mareike sich neben mir köstlich amüsierte, saß ich stumm in meinem Sitz und beobachtete das Geschehen. Obwohl die Figur der Beatrice ganz anders war als Caroline selbst, erkannte ich sie in vielen kleinen Dingen wieder, in einer Geste, oder einem Tonfall, oder einem Lachen. Und dieses Erkennen weckte eine solche Sehnsucht in mir, dass ich vor mir selbst Angst bekam. Warum konnte ich Caroline nicht loslassen? Wieso konnte ich nicht einsehen, dass dieses dumme Gefühl mein Leben kaputt machte? Während das Publikum lachte und klatschte, wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel. Ich wollte diese Frau so sehr. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen Menschen so sehr gewollt. Was musste passieren, damit das aufhörte?
Ich schrak zusammen, als plötzlich das Licht anging und tosender Applaus um mich herum ausbrach. „Pause!“, rief Mareike neben mir, während sie euphorisch klatschte. „Trinkst du einen Sekt mit mir?“
„Ja, gern.“ Ich hielt den Atem an, als die ersten Schauspieler auf die Bühne kamen und sich verbeugten. Caroline war erst beim zweiten Schwung dabei, gemeinsam mit Benedikt, Leonato und Hero, und der Beifall stieg sofort frenetisch an. Die vier Schauspieler lächelten ins Publikum und breiteten ihre Arme aus, während sie sich verbeugten. Als sie sich zeitgleich aufrichteten, schaute Caroline zufällig in meine Richtung. Hatte sie mich gesehen? Ich bildete mir ein, dass sich für einen kurzen Moment ihr Atem veränderte. Ein Winken für das Publikum, ein strahlendes Lächeln, dann waren alle von der Bühne.
„Meinst du nicht, dass Torsten sich über ein Abonnement freuen würde?“, fragte Mareike, als wir im Pulk der Zuschauer den Saal verließen.
„Ich denke schon“, sagte ich geistesabwesend. Hatte Caroline mich wirklich gesehen, oder ging jetzt meine Phantasie mit mir durch? Konnte man von dort oben überhaupt einzelne Gesichter identifizieren? Immerhin saßen wir in der zehnten Reihe, weiter vorn hatte ich keine Tickets bekommen. „Warte mal, Mareike.“ Ich hielt Mareike an der Schulter fest. „Ich glaube, ich muss kurz mal an die Luft. Könntest du mir schon mal einen Orangensaft mitbringen?“
„Geht es dir nicht gut?“ Mareike musterte mich besorgt.
„Doch, aber es ist so stickig hier drinnen.“ Ich wies auf die vielen Menschen. „Ich bin sofort wieder zurück, okay?“
„Na klar, geh nur.“ Mareike hatte sich schon ans Ende der Schlange gestellt. „Ich halte dir einen Platz frei.“
„In Ordnung.“
Ich schloss mich dem Strom der Menschen an, die zum Ausgang strebten, vermutlich alles Raucher, denn ein anderer Grund, sich der nassen Kälte vor dem Haus auszusetzen, fiel mir nicht ein. Draußen stellte ich mich etwas abseits von der Menschenmenge und zog mein Handy aus der Handtasche. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass mir meine Finger einigermaßen gehorchten, als ich begann, eine Nachricht zu tippen:
Können wir uns nachher sehen?
Eine adäquate Anrede und mein Name wären sicher sinnvoller gewesen, aber ich wusste, dass ich die SMS wieder löschen würde, wenn ich zu lange darüber nachdachte. Ich schloss die Augen, als ich auf „Abschicken“ drückte, und betete, dass Caroline ihr Handy eingeschaltet hatte.
Tatsächlich vibrierte es nur wenige Sekunden später in meiner Hand.
Sie haben eine neue Nachricht, informierte mich mein Mobiltelefon. Mein Herz klopfte bis zum Hals, als ich die SMS öffnete.
Ja.
Ich lehnte mich an die kalte Wand des Theaterhauses und atmete tief durch. Sie war einverstanden. Der erste Schritt war getan. Ich klickte auf Antworten und schrieb zurück:
Wo?
Diesmal dauerte es etwas länger, bis ich eine Reaktion erhielt.
15 min. Buehnenausgang.
Sollte das heißen, dass sie nur fünfzehn Minuten Zeit hatte, oder dass ich fünfzehn Minuten nach Ende des Stückes zum Bühnenausgang kommen sollte? Wie auch immer, ich würde dort sein. Komme, was da wolle.
Ich klickte nochmals auf Antworten und bestätigte ihren Vorschlag mit einem kurzen
Ok. Als ich mein Handy wieder einsteckte, konnte ich nicht sagen, ob meine Freude oder meine Furcht überwog. Vielleicht hielt es sich ungefähr die Waage.
Meine Knie zitterten noch, als ich in das Theaterhaus zurück ging und mich aufmachte, Mareike im Gewühl ausfindig zu machen. Ich fand sie an einem Tisch, ganz in der Nähe des Getränkeausschanks, wo sie zwei Plätze für uns besetzt hatte. „Das wurde aber auch Zeit“, sagte sie und schob mir meinen Orangensaft hin. „Ich wollte dich schon als vermisst melden.“
„Es tut mir leid, ich hatte noch einen Anruf“, entschuldigte ich mich und setzte mich zu ihr. „Würde es dir etwas ausmachen, wenn du nach der Vorstellung allein nach Hause fährst? Ich komme dann später mit der Straßenbahn nach.“
Mareike lachte. „Erzähl mir nicht, du hast ‘nen Typen kennengelernt, während ich hier stundenlang in der Schlange stand.“
„Nein, das ist es nicht.“ Ich schüttelte den Kopf. „Aber ich würde nachher noch gern kurz mit Caroline Stein sprechen, weil wir noch etwas zu klären haben.“
„Du hast was mit Caroline Stein zu klären?“, fragte Mareike verblüfft. „Machst du Witze?“
„Nein, es hat was mit meinem Restaurant zu tun“, log ich. „Du weißt doch, dass sie letztes Jahr in unserem Theater aufgetreten ist.“
„Hat sie das Mobiliar zerschlagen, oder was?“, Mareike sah mich skeptisch an. „Na gut, na gut.“ Sie hob die Hände, als ich nicht antwortete. „Ich will nicht indiskret sein. Aber morgen, wenn wir frühstücken, könntest du mir wenigstens ein klitzekleines Bisschen von ihr erzählen, okay?“
„Okay.“ Ich trank den Rest meines Orangensafts aus. „Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel. Wir haben ja noch drei schöne Tage zusammen.“
„Ach, kein Thema“, winkte sie ab. „Aber bist du sicher, dass ich nicht auf dich warten soll?“
„Das ist lieb, aber ich weiß nicht, wie lange es dauern wird.“
„Wie du meinst.“ Mareike erhob sich, als das erste Klingeln ertönte. „Dann lass uns mal den zweiten Teil genießen. Die Aufführung ist wirklich toll.“
Ich muss gestehen, dass ich vom zweiten Teil des Stückes noch weniger mitbekommen habe als vom ersten. Ich war so damit beschäftigt, dass ich Caroline im Anschluss sehen würde und was ich ihr sagen würde und was sie dann vielleicht antworten würde und was ich dann wiederum sagen würde, dass ich mit dem Verfolgen der Handlung hoffnungslos ins Hintertreffen geriet.
Was Caroline wohl gedacht hatte, als sie meine SMS erhielt? Ich könnte gut verstehen, wenn sie mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben wollte. Schließlich hatte ich in den letzten elf Monaten nichts anderes versucht. Ich war nur hier in Berlin, weil es mir nicht geglückt war, mit der Vergangenheit abzuschließen. Vielleicht war es Caroline dafür umso besser gelungen? Warum sollte jemand wie sie lange allein bleiben? Vielleicht wartete nach der Vorstellung ihre Freundin auf sie, weshalb sie auch nur fünfzehn Minuten Zeit für mich erübrigen konnte? Vielleicht wartete die Freundin aber auch schon zu Hause und war gerade dabei, das Badewasser einzulassen, damit die beiden nach der Vorstellung gemeinsam entspannen konnten?
Ich kniff mir in den Oberarm.
Hör auf damit, Fanny! Besinn dich lieber auf das, was du ihr sagen möchtest, anstatt darüber nachzudenken, wie ihr Leben jetzt aussehen könnte.
To be continued