Ich hörte das Klappern von Carolines Absätzen, als sie die Kellertreppe nach oben stieg. Selbst wenn ich ihr hätte folgen wollen, hätte ich es nicht gekonnt. Ich starrte wie gelähmt auf die Wolldecke, die sie mir vor die Füße geworfen hatte und versuchte, durch den dumpfen Nebel in meinem Kopf hindurch zu denken. Hatte sie wirklich gesagt, dass sie sich in mich verliebt hatte?
Ich schlang meine Decke fester um mich und stützte meinen Kopf in meine Hände. Ich spürte einen unbändigen Drang, sie zurückzuholen, ihr alles zu gestehen, alles zu sagen, sie gegen die Kellerwand zu drücken und sinnlos zu küssen. Ohne Rücksicht. Ohne ein Morgen. Aber das war unmöglich. Wenn ich jetzt nicht zur Vernunft kam, konnte das mein Leben zerstören.
Bisher war Caroline wie eine schöne Illusion für mich gewesen, eine unerfüllbare Sehnsucht, die mein Herz schwer werden ließ und meinen Kopf endlos beschäftigen konnte. Sie war so weit weg, so unerreichbar gewesen, dass ich mich irgendwie damit hatte arrangieren können. Aber jetzt… auf einmal hatte ich eine Wahl… Jedenfalls vielleicht…
Niemals hatte ich daran gezweifelt, dass Lennart und ich zusammen alt werden würden. Ich liebte ihn, ich konnte mir sogar vorstellen, eines Tages Kinder mit ihm zu haben. Er gab mir Sicherheit und Geborgenheit, ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Und Caroline? Was wusste ich von ihr, außer dass sie mich um den Verstand brachte? Es war kompletter Wahnsinn, wenn ich meine gut funktionierende Beziehung für einen Menschen aufs Spiel setzen würde, den ich kaum kannte. Wer garantierte mir, dass es nicht nur ein Strohfeuer war? Eine Schwärmerei, die vorbeiging, sobald die Realität sie einholte? Immerhin war Caroline eine Frau, und ich hatte mich vorher noch nie in eine Frau verliebt. Nein, ich konnte ihr nicht sagen, was ich für sie empfand. Es war ausgeschlossen.
Von oben drangen die Klänge des Klaviers in den Keller. Kikki würde sich bestimmt schon fragen, wo ich mit dem Wein blieb. Ich erhob mich, noch halb benommen, von der Kiste. Mir war leicht schwindelig, und ich musste mich an der Wand abstützen. Vorsichtig lud ich die beiden Weinkartons auf meine Schultern und stieg langsam, Schritt für Schritt, die Treppe hoch. Oben angekommen, wurde ich regelrecht erschlagen von dem dichten Gedränge und dem Lärm im Raum. Der Pianist spielte gerade „I got a feeling“ von den Black Eyed Peas, und die Leute tobten auf der Tanzfläche. „Tonight’s gonna be a good night!“, brüllten sie im Chor. „Let’s do it! And do it! Let’s live it up and do it!“
Die Black Eyed Peas hatten keine Ahnung vom Leben. Nichts würde ich tun, überhaupt nichts. Ich seufzte resigniert, als ich die Weinkisten abstellte. Kikki merkte, dass ich mich an den Tresen lehnte, und drängelte sich durch die Menge zu mir. „Ist alles in Ordnung, Fanny?“, fragte sie besorgt. „Du siehst kreidebleich aus.“
„Mein Kreislauf schwächelt nur etwas.“ Ich setzte mich auf einen Barhocker. „Das geht gleich wieder.“
„Bist du sicher?“ Sie schaute mir prüfend ins Gesicht. „Vielleicht solltest du dir besser ein Taxi rufen?“
„Nein, nein.“ Es war lieb gemeint, aber ich wollte einfach nur meine Ruhe haben. „Lass mich mal ein bisschen Pause machen.“
„Na gut, aber sag Bescheid, wenn du was brauchst.“
Ich nickte und schenkte mir ein Glas Wasser ein, als Kikki einem Gast sein Tomaten-Mozzarella-Sandwich bringen musste. Mir war noch übel, und es war sicher besser, wenn ich eine Weile sitzen blieb. Ob Caroline schon gegangen war? Meine Augen durchforsteten den Raum und entdeckten sie in der Mitte der Tanzfläche. Cordula war bei ihr. Die beiden tanzten, zusammen mit ein paar anderen Leuten, eine Art Miniflashmob zu Haralds eigenwilliger Interpretation von Madcons „Glow.“ Ich fand es unfassbar, wie Caroline dort wild herumspringen und gute Laune versprühen konnte, als sei nichts geschehen. Wie viele Gesichter hatte diese Frau?
Als Harald ein langsameres Lied anschlug, zerstreute sich der Pulk, und alle bewegten sich wieder normal. Es überraschte mich nicht, dass Rüdiger und auch Marla in der Nähe von Caroline tanzten. Sie kamen mir vor wie Spieler, die auf ihren nächsten Stich warteten. Angewidert schaute ich in eine andere Richtung.
Am Rande der Tanzfläche hatte sich offenbar ein neues Pärchen gebildet. Lukas und Susanne, die schon monatelang umeinander herumgeschlichen waren, lagen sich verliebt in den Armen und schienen die Welt um sich herum vergessen zu haben. Auch andere Paare fanden sich zu Maria Menas „All this time“ zusammen, aber die meisten tanzten wie Caroline allein und bewegten sich versunken im Takt der Musik. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich mit Caroline tanzen würde, mitten unter allen anderen, ganz ohne Furcht, so wie Lukas und Susanne. Wie ich meine Arme um ihre Taille legen würde, so wie es Dagmar bei Manne tat, und wie ich meinen Kopf an ihre Schulter lehnen würde, so wie Astrid bei Lutz. Wie meine Wangen die weiche Haut ihrer Schultern berühren würden, und meine Lippen über die feinen Schwingungen ihrer Schlüsselbeine fahren würden. Wie sie mich noch näher an sich ziehen würde, so dass es scheinen würde, als wären wir eine Figur, ein Wesen. So nah, dass unsere Geschlechter sich berührten. Und dann, irgendwann, würde sie sich zu mir beugen und…
„Fanny, was sollen wir mit den zwei Eisportionen machen?“, rief mir Amanda ins Ohr. „Die schmelzen da jetzt vor sich hin und werden nicht abgeholt.“
Ich schrak zusammen. „Was?“
„Sorry, hast du mich nicht rufen gehört?“ Amanda deutete mit dem Zeigefinger auf einen Tisch am Fenster. „Dort drüben hatte jemand zweimal Eis mit heißen Himbeeren bestellt, aber es nie abgeholt.“
„Wie lange ist das her?“
„Ungefähr eine halbe Stunde.“
„Dann räum es ab. Wenn es jemand vermisst, kann er sich ja melden.“
„Okay, mache ich.“ Amanda war schon unterwegs zu dem Tisch.
Ich rieb mir mit den Handflächen übers Gesicht. Wann war diese Party endlich vorbei? Ich wollte nach Hause, zu Lennart. Ich wollte, dass Caroline endlich aufbrach, und ich nicht die ganze Zeit versucht war, zu ihr zu gehen. Ich stieg von meinem Hocker und half Amanda, das leere Geschirr abzuräumen. Schon morgen würde Caroline aus meinem Leben verschwunden sein, ich musste nur noch ein paar Stunden durchhalten, dann hatte ich mein altes Leben zurück.
Gegen halb fünf Uhr morgens suchten die ersten Gäste nach ihren Mänteln, und es entstand eine allgemeine Aufbruchsstimmung. Ich war gerade dabei, Gläser zu spülen, als Caroline vor mir am Tresen auftauchte. Sie war schon im Mantel und hatte die große Mütze auf ihrem Kopf, die sie auch bei der Wohnungssuche getragen hatte. „Ich möchte mich noch verabschieden“, sagte sie, als sie zu mir trat. „Vielen Dank, Fanny. Es war ein wundervolles Fest.“
„Das freut mich.“ Ich traute mich nicht, sie anzusehen. Die ganze Zeit über hatte ich mir gewünscht, dass sie aufbrechen würde, und jetzt, da sie ging, wollte ich, dass sie blieb.
„Ja… dann gehe ich wohl mal“, sagte Caroline zögernd. „Ich wünsche dir schöne Weihnachten und alles Gute, Fanny.“
Es war ein Abschied für immer. Sie wusste es, und ich wusste es, und ich fühlte eine solche Traurigkeit in mir, dass ich nicht sprechen konnte. Tränen schossen mir in die Augen, als ich vom Spülbecken aufsah. „Ich wünsche dir das Beste auf der Welt“, stieß ich hervor. „Das Allerbeste.“
Sie nickte und sah mich lange an. „Ich mache mich dann mal… auf den Weg.“
„Hey Caro!“, rief Rüdiger Kurat und legte von hinten seinen Arm um Caroline. „Soll ich dich nach Hause bringen? Wir haben fast denselben Weg.“
„Ja gern.“ Caroline hakte sich bei ihm ein. Als sie mit ihm wegging, drehte sie sich noch einmal um und schaute zu mir herüber. Dann waren sie aus der Tür.
To be continued....