Gegen 11 Uhr war ich soweit, dass die Weihnachtstorte dekoriert und der Dattelkuchen im Ofen war. Die Wohnung blitzte, und das Mittagessen war so vorbereitet, dass ich nur noch den Herd anstellen musste, wenn ich wieder zurückkam. Ich nahm eine Flasche von unserem Lebkuchenlikör aus dem Schrank und packte sie zu dem selbstgemachten Mandelstollen, den ich schon für Caroline bereitgestellt hatte. Beides legte ich in einen roten Karton, den ich noch nicht zuschnürte, damit ich eine Karte hineinlegen konnte, falls ich das Päckchen bei einer Nachbarin abgeben musste. Die Karte hatte ich schon beschrieben, da die Wahrscheinlichkeit, Caroline am Heiligabend anzutreffen, nicht besonders hoch war. Ich war mir auch gar nicht sicher, ob ich sie überhaupt sehen wollte. Aber ich wollte einen Weg finden, um Frieden zwischen uns zu schaffen, und ich fand, dass Weihnachten der perfekte Tag dafür war.
Seit Anfang der Woche schneite es draußen, und ich entschied, das Auto stehen zu lassen und zu Fuß zu gehen. Bis zu Carolines Wohnung waren es etwa dreißig Minuten, und ein bisschen frische Luft würde mir sicher guttun. Also vergrub ich mich in meiner Winterjacke, schlug mir meinen grünen Wollschal um die Schultern und stapfte los. Es war erstaunlich wenig Betrieb auf den Straßen, offenbar hatten auch viele andere Leute beschlossen, ihr Auto heute unbenutzt zu lassen. Dadurch war es so leise, dass ich das Knirschen unter meinen Füßen hören konnte, während ich durch den Schnee stapfte.
Rüdiger hatte mir mal erzählt, wo Caroline wohnte, und seitdem war ich häufiger an ihrer Wohnung vorbeigefahren. Sie lag praktisch fast auf meinem Heimweg, wenn ich aus dem Restaurant kam. Das Haus, in dem Caroline wohnte, bestand aus drei möblierten Ferienwohnungen, jeweils mit zwei Zimmern plus Küchen und Bad, was der Grund dafür gewesen war, dass sie über einen Umzug nachgedacht hatte. Zwar hatte sie ein eigenes Haus in Berlin, aber wenn sie ihren Vertrag verlängert hätte, wäre es in der Tat sinnvoll gewesen, sich eine angenehmere Bleibe zu suchen. Nun, da sie wusste, dass sie im Juni wieder nach Berlin zurückgehen würde, hatte sie diesen Plan sicher aufgegeben.
Jedes Mal, wenn ich an ihrer Wohnung vorbeigefahren war, hatte ich nachgesehen, ob im Hochparterre Licht brannte. Natürlich war das ganz und gar albern, denn was für einen Unterschied machte es, ob sie zu Hause war oder nicht. Aber irgendwie übte es eine beruhigende Wirkung auf mich aus zu sehen, dass sie da war.
Mein Herz klopfte bedenklich, als ich in ihre Straße einbog, und ich tastete nach der Karte in meiner Jackentasche. Alles war gut, sie war noch da. Im obersten Stockwerk ihres Hauses konnte ich schon einen Weihnachtsbaum mit elektrischen Kerzen erkennen, aber noch war ich zu weit weg, um das Hochparterre einsehen zu können. Als ich mich dem Haus langsam näherte, setzte ein leichter Schneefall ein, der zunehmend dichter wurde. Ich wickelte meinen Schal fester um meine Schultern. Der Rückweg würde wahrscheinlich unangenehmer werden.
Ich hatte Glück. In einem der Fenster, vermutlich vom Wohnzimmer, brannte Licht. Ich atmete tief durch und stieg die Außenstufen zu Carolines Wohnungstür hoch. Es überraschte mich nicht, dass ihr Name nicht an den Klingelschildern stand, denn das war bei Ferienwohnungen nichts Ungewöhnliches. Außerdem würde ich auch nicht für alle sichtbar meinen Namen auf mein Klingelschild schreiben, wenn ich Caroline Stein wäre.
Aber welcher von den drei Namen auf den Klingelschildern mochte der Richtige sein? Ich entschied mich für den unteren Namen, Lewitzki, da es mir logisch erschien, dass er zum Hochparterre gehörte.
Nichts tat sich. Hatte sie mein Klingeln nicht gehört? Gerade wollte ich ein zweites Mal auf den Knopf drücken, da ging das Licht im Flur an und die Haustür öffnete sich. Die Frau, die in Türrahmen erschien, musterte mich neugierig. Sie hatte langes, schwarzes Haar, trug einen Jogginganzug und war definitiv nicht Caroline. „Kann ich Ihnen weiterhelfen?“, fragte sie mich.
„Entschuldigen Sie… die Störung“, stotterte ich. Hatte Rüdiger mich etwa angeflunkert? Wohnte Caroline gar nicht hier? Das sähe dem Großmaul ähnlich! „Ich… ähm… ich wollte eigentlich zu Caroline…“
„Caroline Stein?“
Ich nickte.
Die Frau drehte sich um. „Chubby, kannst du mal kommen?“, rief sie in die Wohnung. „Hier ist jemand für dich.“
Chubby?
Kurz darauf erschien Caroline an der Tür, ebenfalls im Jogginganzug.
Ich weiß nicht, irgendetwas knallte bei mir durch. Ich sah von einer zu anderen, wie sie da standen, nebeneinander, so nah, dass ihre Schultern sich berührten, und ich wollte nur weg. „Das ist für dich“, sagte ich und drückte Caroline mein Päckchen in die Hand. Dann drehte ich mich um und lief so schnell ich konnte die Treppen hinunter.
„Fanny, warte!“
Ich lief und lief, ohne mich noch einmal umzudrehen. Der Schnee fiel mir in dichten Flocken ins Gesicht, so dass ich kaum die Hand vor Augen sehen konnte, aber ich kannte ja die Strecke. Irgendwann ging mir dann die Luft aus, und ich musste stehenbleiben, um Atem zu schöpfen.
Erst jetzt wurde mir bewusst, was geschehen war. Ich lehnte meinen Kopf gegen eine Straßenlaterne und fing an, bitterlich zu weinen. Ich konnte einfach nicht mehr, ich war es so leid, was diese Frau mit mir machte. Und ich war so wütend auf mich selbst. Warum konnte es mir nicht egal sein, wenn sie eine Freundin hatte? Ich war es doch, die Lennart nicht aufgeben wollte. Es war doch alles so, wie ich es wollte. Warum tat es dann so verdammt weh?
Ich suchte in meiner Hosentasche nach einem Taschentuch und putzte mir die Nase. Was sollte ich jetzt machen? So verheult konnte ich doch nicht nach Hause gehen. Wie sollte ich das Lennart erklären?
„Fanny?“
War das Carolines Stimme? Ich konnte durch das Schneetreiben kaum etwas erkennen, aber ich sah eine Gestalt auf mich zukommen.
„Warum läufst du denn weg?“ Caroline blieb atemlos vor mir stehen.
„Es ist Heiligabend, ich hab’s eilig“, murmelte ich, aber ich merkte schon an ihrem Gesicht, dass sie mir kein Wort glaubte. Sie trug immer noch ihre graue Jogginghose und hatte sich offensichtlich nur eine Jacke übergezogen. „Du solltest wieder zurückgehen“, sagte ich. „Sonst erkältest du dich noch.“
„Hast du geweint?“, fragte sie.
„Das ist vom Schneetreiben.“
Sie schüttelte den Kopf. „Angela ist meine Schwester, weißt du. Wir fahren nachher zusammen zu meinem Bruder.“
Ich wurde rot. „Ich muss jetzt gehen“, sagte ich. „Mein Freund wartet auf mich.“
Aber sie hielt mich am Ärmel fest. „Warum bist du gekommen?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Es tut mir leid, dass ich mich auf der Weihnachtsfeier so dämlich benommen habe. Ich wollte dich nicht verletzen.“
Sie lächelte. „Entschuldigung angenommen.“
"Okay." Es war nicht der geistreichste Kommentar, aber zu mehr war ich nicht in der Lage.
Caroline zog eine Hand aus ihrem Handschuh und fuhr mit ihrem Daumen über meine Wange, ganz sanft. „Du hattest Angst. Genau wie ich.“
Ich machte den Fehler, ihr in die Augen zu sehen. „Ich kann das nicht“, flüsterte ich.
„Ich weiß. Ich hab verstanden.“ Und dann beugte sie sich zu mir und küsste mich. Und diesmal küsste ich zurück. Ich schloss die Augen und ließ mich hineinfallen in den Kuss, mehr noch, ich suchte ihre Lippen, suchte sie immer wieder. Sie drückte mich stärker gegen den Laternenpfahl, und ich stöhnte, als ich das kalte Eisen in meinem Rücken fühlte.
Hör nicht auf, dachte ich,
hör nie wieder auf.
Schließlich ließ sie von mir ab. „Mach’s gut“, flüsterte sie, und als ich die Augen öffnete, sah ich, dass ihr eine Träne die Wange hinunterlief. „Frohe Weihnachten, Fanny.“
To be continued...