Um ehrlich zu sein, ging die Phase Zwei meines Plans schon in dem Augenblick den Bach runter, als Caroline durch die Tür meines Restaurants kam. Sie trug ein sehr körperbetontes rotes Kleid, das sich perfekt um ihren schlanken Körper schmiegte, und um den Hals eine wunderschöne silberne Kette, die sofort alle Blicke auf sich zog. Ihr Haar trug sie offen, wie sie es zu tun pflegte, wenn sie nicht gerade von einer Vorstellung kam, was ihre ebenen Gesichtszüge noch schöner hervorhob. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihre blonden Locken beneidete, die sanft und weich auf ihre bloßen Schultern fielen. Es war ein Glück, dass ich gerade kein Tablett in der Hand hielt, denn es wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit auf unserem historischen Steinfußboden gelandet.
Auch die anderen Gäste kamen in eleganter Garderobe, so dass in kürzester Zeit eine feierliche Stimmung im Lokal Einzug hielt. Schon Stunden vorher hatten wir der bereits bestehenden Weihnachtsdekoration noch kleine Details hinzugefügt und alle Tische festlich geschmückt. Da wir für die Allgemeinheit nicht geöffnet hatten, war genügend Zeit gewesen, sorgsam auszuwählen, welche Kleinigkeiten sich noch besonders gut machen würden. Die Grenze zwischen Kitsch und Kunst ist ja nicht immer leicht zu ziehen, doch ich fand, dass uns die Dekoration in diesem Jahr gut gelungen war. Die brennenden Kerzen überall taten ihr Übriges, und das Restaurant erstrahlte in schönstem Glanze.
Eigentlich freue ich mich jedes Jahr auf diese Weihnachtsfeier, denn ein kurzweiliger Abend ist immer garantiert. Schließlich ist das Lokal randvoll mit kreativen Menschen, und viele lassen sich für die Weihnachtsfeier etwas Originelles einfallen. Oft ist es fast schon wie ein kleines, einmaliges Varieté für eine geschlossene Gesellschaft. Außerdem trägt jedes Jahr ein Pianospieler des Opernhauses zur festlichen Stimmung bei, indem er unermüdlich feinsten Jazz und Swing, und zu späterer Stunde auch schnulzige Weihnachtslieder aus aller Welt, an seinem Flügel spielt.
Ich war zuversichtlich, dass mir all die zu erwartenden Beiträge und Einlagen dabei helfen würden, mich von der Anwesenheit Caroline Steins abzulenken. Nichtsdestotrotz benötigte ich einen Notfallplan für den Abend, damit ich in den folgenden Tagen nicht wieder komplett auf Phase Eins meines Programms zurückfiel. Mein Notfallplan bestand aus folgenden Regeln: Erstens keinen Blickkontakt (ich würde Caroline nur anschauen, wenn sie gerade nicht zu mir sah), zweitens keine Wortwechsel (mit Ausnahme der Bestellungsaufnahme), und drittens eine nicht zu überschreitende Bannmeile von mindestens drei Metern.
In den ersten drei Stunden des Abends klappte alles prächtig. Ich war so mit der Versorgung der Gäste beschäftigt, dass ich kaum zum Luftholen kam. Zwar waren wir in voller Besetzung, aber trotzdem kamen wir mit den Bestellungen kaum hinterher. Da die Stimmung unter den Gästen sehr gut war, wurde jedoch niemand ungeduldig. Im Gegenteil, unsere beiden Spezialmenüs wurden mehrfach lobend hervorgehoben. Es war ein schönes Gefühl zu merken, dass die Feier den Gästen gefiel und sie mit uns mehr als zufrieden waren.
Ich war selbst erstaunt über meine gute Laune. Teilweise scherzte ich mit den Gästen, als sei ich als Animateurin angestellt, aber ich war einfach erleichtert, dass alles so gut lief. Vielleicht wollte ich Caroline auch ein bisschen zeigen, dass ich mich sehr wohl auch ohne sie amüsieren konnte. Wie auch immer, mein Notfallplan, den ich die ersten Stunden so erfolgreich eingehalten hatte, geriet plötzlich ins Wanken, als etwas geschah, womit ich nicht gerechnet hatte. Nach dem dritten Glas Rotwein begann die Intendantin des Theaters, Marla Hansen, mit Caroline zu flirten.
Ich fand es unmöglich. Ich fand es schamlos. Ich fand es billig und bodenlos dreist. Hatte die Frau überhaupt kein Feingefühl? Jeder im Saal wusste, dass Marla lesbisch war, aber in welche Lage brachte sie Caroline? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich Caroline ihr gegenüber geoutet hatte, aber vielleicht ahnte die Intendantin etwas. Lesben sollen sich ja angeblich untereinander erkennen. Doch ob sie es nun wusste oder ahnte oder keines von beidem, ich fand es unsäglich, dass sie Caroline in solch eine Situation brachte, zumal Marla ihre Chefin war. Was sollte Caroline anderes tun, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen?
Jedenfalls hoffte ich, dass sie das tat. Ich erwischte mich dabei, wie ich Carolines Verhalten genau beobachtete. Marla war eine attraktive Frau, zwar um einiges älter als Caroline, aber trotzdem noch in den besten Jahren. Was war, wenn Caroline sie auch anziehend fand? Vielleicht hatten die beiden sogar längst eine heimliche Affäre, von der niemand etwas wissen durfte? Bei dem Gedanken überkam mich eine leichte Übelkeit. Ich nahm sehr wohl wahr, dass Caroline sich freundlich aber deutlich von Marla distanzierte, aber wer wusste schon, ob sie das nur in der Öffentlichkeit tat?
Meine gute Laune war schlagartig dahin. Musste ich tatenlos zusehen, wie Marla in meinem eigenen Restaurant ihre Hand auf Carolines Knie legte? Keineswegs! Ich überlegte fieberhaft, was zu tun war, und begab mich zum Tresen, um dort ein Glas von unserem selbstgemachten Lebkuchenlikör einzuschenken. Damit ging ich zu Marla, stellte ihr das Glas vor die Nase und sprach sie an. Mir war bewusst, dass ich dazu die Drei-Meter-Bannmeile zu Caroline durchbrechen musste, aber besondere Situationen erforderten nun einmal besondere Maßnahmen. „Die Presse ist voll des Lobes über die gelungene Spielzeit“, sagte ich zu Marla. „Dieser kleine Gruß geht aufs Haus, als Ausdruck meiner Hochachtung dafür, was du aus diesem Theater gemacht hast.“
Tatsächlich drehte Marla sich nun von Caroline weg in meine Richtung. „Hey, das ist ja nett von dir, Fanny“, sagte sie erfreut. „Ja, ich muss sagen, dass ich sehr stolz darauf bin, was wir dieses Jahr geleistet haben. Wie immer war es ein Gemeinschaftswerk, und der Likör gebührt eigentlich allen.“
„Ja, du hast ein ausgezeichnetes Ensemble“, stimmte ich ihr zu. „ Aber das Theater verdankt den Erfolg deiner Federführung.“
„Danke Fanny.“ Marla lächelte geschmeichelt. „Aber du könntest zumindest unserer Caroline noch ein Likörchen spendieren.“ Sie legte ihre Hand auf Carolines Schulter. „Als Ausdruck deiner Hochachtung für ihre herausragende Leistung als
Maria Stuart.“
„Selbstverständlich bekommst du auch einen Likör, Caroline“, sagte ich höflich. Zweite Regel durchbrochen, aber was sollte ich machen? „Natürlich nur, wenn du möchtest.“
Caroline hob abwehrend die Hände. „Oh, nein danke. Ich habe schon genug Alkohol getrunken heute Abend.“
„Wie schade“, bedauerte Marla und sah Caroline tief in die Augen, als sie ihr Likörglas hob. „Vielleicht später?“
Ich schnappte Marla das Glas aus der Hand, kaum dass sie ausgetrunken hatte. „Wie wäre es, wenn wir die Stühle und Tische ein wenig zusammenrücken und uns eine Tanzfläche schaffen“, fragte ich, ohne nachzudenken. „Harald hat doch bestimmt auch flotte Popsongs auf Lager.“
Marla verzog das Gesicht, aber Caroline schien die Idee zu gefallen. Also ging ich hinüber zum Pianisten und fragte ihn, ob er uns etwas Rockigeres präsentieren konnte. Er war gleich Feuer und Flamme, und in wenigen Minuten hatten wir mit mehreren Leuten einen Teil des Raumes in eine akzeptable Tanzfläche umgewandelt. Ich warf einen Blick zu Caroline und Marla hinüber. Wenn Caroline jetzt nicht die Gelegenheit nutzte, sich von Marla zu entfernen, war das der Beweis, dass sie es nicht wollte.
Tatsächlich stand Caroline nun auf und steuerte auf die Tanzfläche zu. Dazu musste sie durch eine schmale Gasse aus Tischen bewegen, und als sie direkt an mir vorbeiging, sah sie mich an und hauchte mir ein lautloses
Danke entgegen. Ich lächelte zurück und nickte unmerklich. Regel Drei dahin, aber was soll’s. Die Hauptsache war, dass Caroline verstanden hatte und dass sie nun auf der Tanzfläche war. Meine gute Laune kehrte schlagartig zurück.
To be continued....