Holger stand schon wie vereinbart am Bühnenausgang und wartete auf mich, als ich um die Ecke bog. „Na, hat es dir gefallen, Fanny?“, fragte er, als er mir entgegenkam.
„Es war sehr, sehr gut.“ Ich umarmte ihn zur Begrüßung. „Eine hervorragende Inszenierung.“
Er drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Ist die Maria nicht zum Dahinschmelzen?“, fragte er in schwärmerischem Tonfall. „Was für eine Königin!“
„Ja, sie war wirklich großartig.“
„Und diese Kostüme… ein Traum.“ Er verdrehte die Augen gen Himmel.
Offen gesagt, stand mir nicht der Sinn danach, mit einem schwulen Bühnenarbeiter über die Kleidungsstücke von Maria Stuart zu diskutieren, und außerdem hatte ich anderes vor. „Wollen wir dann gehen?“, fragte ich ihn deshalb. „Ich würde Caroline gern noch erwischen, bevor sie weg muss.“
„Na klar. Ich hoffe, für mich springt eine freie Mahlzeit dabei heraus?“, scherzte er. „So ohne weiteres führe ich nämlich keine Leute hinter die Bühne.“
Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Das nächste Mal, wenn du kommst, gehen Essen und Trinken aufs Haus.“
„Danke, du bist die Beste!“ Holger lachte. „Na gut, Fanny, dann komm mal mit.“ Er fuhr fort, von Maria Stuarts Kleidern zu schwärmen, während er mich durch den langen, schmalen Flur zu den Garderoben führte. Nach Stoffen und Farbe roch es hier und nach irgendetwas Undefinierbarem, das ich nicht einordnen konnte, obwohl es typisch für Theaterkulissen war. „Caroline Stein hat selbstverständlich eine eigene Garderobe“, erklärte Holger, als er vor einer Tür stehen blieb. „Ich klopfte lieber mal und schaue nach, ob sie überhaupt bereit ist, Besuch zu empfangen.“
Mein Herz schlug schneller, als ich Carolines verzögertes „Ja bitte?“ von drinnen hörte. Holger gebot mir zu warten und trat erst einmal allein durch die Tür. Er schloss sie hinter sich, so dass ich nicht hören könnte, was drinnen gesprochen wurde. Seine tiefe Männerstimme drang zwar bis auf den Flur, doch ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Es dauerte aber nicht länger als zwei Minuten, dann kam er wieder heraus. „Geht klar“, sagte er und grinste.
„Hast du ihr gesagt, dass ich es bin?“
„Ja, wieso?“
„Nur so.“ Ich klopfte zaghaft gegen die Tür. „Danke, Holger.“
„Gern geschehen.“ Er hob grüßend die Hand und zog von dannen.
Die ganze letzte Woche war ich so wütend auf Caroline gewesen. Noch gestern Abend, als ich im Bett lag, hatte ich im Geiste große Reden über Höflichkeit und Respekt geschwungen. Doch Maria Stuart hatte mir irgendwie den Wind aus den Segeln genommen, und nun hatte ich Mühe, mich zu erinnern, weshalb ich eigentlich gekommen war.
Als von drinnen ein „Ja“ ertönte, gab ich mir einen Ruck und öffnete die Tür. Caroline saß vor dem Spiegel und war dabei, sich abzuschminken. „Hallo Fanny“, sagte sie, als ich hereinkam, und schaute zu mir herüber. Für einen kurzen Augenblick wirkte sie wie ein Reh, das in den Lichtkegel eines Scheinwerfers geraten war, dann entspannte sich ihr Gesichtsausdruck, und sie wandte sich wieder ihrem Spiegel zu. „Was verschafft mir die Ehre?“
Ich fand es zwar etwas befremdlich, dass sie sprach, als befänden wir uns noch im 16. Jahrhundert, aber was mich eigentlich erschreckte, war die Kälte in ihrer Stimme. Ich war nicht darauf vorbereitet, auf einen Eisblock zu treffen.
Was hatte ich Caroline getan? Nichts! Ich zog mir unaufgefordert einen Stuhl heran und setzte mich zu ihr. „Es war eine phantastische Vorstellung“, lobte ich, als hätte sie nichts gesagt. „Ich bin sehr froh, dass ich sie mir angesehen habe.“
„Das freut mich.“ Caroline warf ein Wattepad in den Papierkorb und nahm sich einen neuen. Sie würdigte mich keines Blickes.
Als ich nichts darauf erwiderte, trat eine unangenehme Stille trat ein, und ich überlegte, ob ich wieder gehen sollte. „Hast du inzwischen eine Wohnung gefunden?“, fragte ich schließlich.
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß noch nicht, ob ich bleiben werde.“
„Aha.“ Ich versuchte, mir meinen Schreck nicht anmerken zu lassen. Gab es Schwierigkeiten mit der Verlängerung ihres Vertrages? Wollte die Intendantin sie doch nicht, oder hatte Caroline sich dagegen entschieden? Was auch immer der Grund war, er ging mich nichts an. Wichtiger war jetzt, dass ich aufhörte, um den heißen Brei herum zu reden. „Caroline, können wir mal reden?“
„Ich glaube nicht, dass es etwas zu reden gibt.“
Ich holte tief Luft. „Du hast mich geküsst.“
„Ja, ich weiß.“ Sie ließ ihre Arme sinken und drehte sich zu mir. „Und das tut mir auch wirklich sehr leid. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.“
Ich schüttelte den Kopf. „Caroline…“
„Es wird nicht wieder vorkommen.“ Sie wandte sich wieder ihrem Spiegel zu. „Wenn du jetzt bitte gehen würdest…“
Auch wenn es unhöflich war, rührte ich mich nicht von der Stelle. „Warum können wir das nicht regeln wie zwei erwachsene Menschen?“, hakte ich nach. „Nur weil das passiert ist, heißt das doch nicht, dass wir uns jetzt dauernd aus dem Weg gehen müssen. Ich kann dir versichern…“
„Ich habe noch eine Bitte“, unterbrach sie mich. „Wie du dir wahrscheinlich denken kannst, möchte ich nicht, dass das die Runde macht.“
Ich starrte sie ungläubig an. Das war das Einzige, was sie interessierte? Dass niemand etwas mitbekam? „Für wen hältst du mich?“, fragte ich verletzt. Glaubte sie wirklich, ich hätte nichts Besseres zu tun, als das überall herumzuerzählen? Ich wollte noch etwas hinzufügen, aber ein Blick in ihre Augen hielt mich davon ab. Es war so viel Angst darin, dass ich erschrak. Mir wurde schlagartig klar, warum Caroline nichts gegen die Gerüchte um Rüdiger Kurat unternahm. Sie waren die perfekte Tarnung. Caroline war weder experimentierfreudig noch bisexuell noch auf der Suche nach irgendwelchen Abenteuern. Sie stand auf Frauen.
Aber auch wenn mir klar war, dass es das Ende ihrer Karriere bedeuten könnte, wenn herauskam, dass sie lesbisch war, musste es doch möglich sein, wie vernünftige Menschen miteinander zu reden. Gerade wollte ich ihr versichern, dass sie von mir nichts zu befürchten hatte, da klopfte es an der Tür und Cordula trat herein. Cordula spielte im Stück die Amme von Maria Stuart, und war meistens im Restaurant noch mit von der Partie. „Caro, hast du Lust…“, fragte sie, aber unterbrach sich, als sie mich entdeckte. „Oh, Fanny“, rief sie überrascht. „Was tust du denn hier?“
„Wir hatten noch etwas Organisatorisches zu besprechen“, sagte Caroline, ehe ich antworten konnte, und machte eine Geste in meine Richtung wie jemand, der seiner Dienerin gebot, sich aus dem Raum zurückzuziehen. „Wir sind aber gerade fertig.“
Ich warf ihr einen wütenden Blick zu. Wenn sie ihr Geheimnis wahren wollte, war das ja schön und gut, aber musste sie mich deswegen behandeln wie ihr Fußvolk? Ich hätte Caroline gern an den Kopf geworfen, wie unmöglich ich ihr Verhalten fand, aber die Anwesenheit von Cordula hinderte mich daran. Also verabschiedete ich mich demonstrativ mit einen Knicks und sagte in nasalem Tonfall: „Eure Hoheit können sich ganz auf mich verlassen.“ Hoffentlich verstand Caroline bissige Ironie.
Erhobenen Hauptes verließ ich die Garderobe, nur um auf dem Flur in Tränen auszubrechen. Ich war so verletzt, wütend und enttäuscht. Ich hatte mich ja auf einiges eingestellt, aber nicht darauf, einer Eiskönigin zu begegnen. Wie hatte ich nur auf die Idee kommen können, dass mich mit dieser Frau irgendetwas verband? Königinnen und Diven waren ziemlich aus der Mode, und ich verspürte nicht die geringste Lust, mit ihnen näher zu tun haben.
To be continued...