Nach dem dritten Klingeln an der Wohnungstür gab Alicia auf.
„Wäre auch zu einfach gewesen“, brummte Cary und holte einen schmalen Kasten aus seiner Aktentasche.
„Willst du die Wohnung aufbrechen?“ Alicia sah sich beunruhigt ihm Hausflur um. Es gab noch weitere Wohnungen auf der Etage, und der Lärm würde garantiert die Nachbarn hervorlocken.
„Hast du eine bessere Idee?“
„Wie wäre es mit der Polizei?“ Alicia war zwar bewusst, wie wenig Kalinda daran gelegen war, die Polizei in ihre privaten Angelegenheiten zu verwickeln, aber Cary hatte draußen ihren Wagen entdeckt, und es war kein gutes Zeichen, dass diese nun die Tür nicht öffnete.
„Wir schauen erst nach, was los ist.“ Cary nahm ein paar Werkzeuge aus seinem Kasten und machte sich an der Tür zu schaffen. Erstaunt verfolgte Alicia, wie das Türschloss schon nach zwei Minuten lautlos nachgab. „Was guckst du so?“, raunte er. „Ich habe bei der Staatsanwaltschaft gearbeitet, ich weiß, wie man Wohnungen aufbricht.“
Wie sie erwartet hatten, war Kalinda nicht zu Hause, und sie machten sich sofort daran, nach Dingen zu suchen, die einen Hinweis darauf geben könnten, wo sie sich aufhielt. Alicia blinzelte, als sie sich in den Räumen umsah. Hier wohnte Kalinda? Kein Wunder, dass sie niemanden zu sich einlud. Jedes Hotelzimmer war wohnlicher eingerichtet. Außer einem riesigen Kleiderschrank und einem Bett waren kaum Möbel vorhanden. Diejenigen, die es gab, waren allerdings teure Designermöbel.
In einer Wand im Schlafzimmer fanden sie ein etwa dreißig Zentimeter großes Loch, hinter dem sich eine Art Schacht befand. Lange konnte das Loch noch nicht vorhanden sein, denn direkt darunter auf dem Fußboden lagen noch die herausgeschlagenen Gipsbrocken. „Hier muss jemand etwas aufbewahrt haben“, stellte Cary fest, als er den Raum hinter dem Loch näher inspizierte. „Vielleicht hat Kalinda sich doch davon gemacht, ohne ihr Geld bei Lockhart & Gardner abzuholen.“
Alicia antwortete ihm nicht, denn sie hatte etwas entdeckt, was seine Theorie unmittelbar zunichte machte. Hinter Kalindas Bett lag eine leere Tasche, daneben, achtlos ausgebreitet, Kleidungsstücke, Patronen, eine Pistole und mehrere Stapel von eingetüteten Geldscheinen. Als Alicia sich bückte, entdeckte sie grauweißen Staub auf den Tüten, der nahelegte, dass diese in dem Fach hinter der aufgeschlagenen Wand gelagert hatten.
Der Anblick, der sich Alicia bot, deutete nicht auf einen Umzug hin, und sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. „Falls Kalinda vorgehabt haben sollte zu gehen, hat sie es zumindest nicht zu Ende geführt“, widersprach sie Cary mit rauer Stimme.
Cary trat zu ihr. „Eingepackt und wieder ausgepackt?“, fragte er stirnrunzelnd. „Das ergibt keinen Sinn.“
„Es ergibt auch keinen Sinn, dass sie nichts mitgenommen hat.“ Alicia ging zum Kleiderschrank und stieß ihn auf. Sie taumelte leicht zurück, als ihr der Duft von Kalindas Sachen entgegenströmte. Konnten sie überhaupt sicher sein, dass sie noch am Leben war? Alicia mochte den Gedanken nicht zu Ende denken. „Es sieht nicht aus, als ob hier irgendetwas fehlt“, rief sie Cary zu, der das Schlafzimmer wieder verlassen hatte.
„Ist dir der Sessel bei der Wohnungstür aufgefallen?“, fragte er vom Flur aus. „Der steht sicher normalerweise bei dem zweiten Sessel an der Wand.“
Alicia fühlte sich unfähig, ihm zu folgen und setzte sich auf Kalindas Bett. „Und was heißt das deiner Meinung nach?“, rief sie in Richtung Flur.
„Vielleicht, dass sie damit die Tür versperrt hat?“ Cary erschien wieder an der Türschwelle. „Oder in dem Sessel auf jemanden gewartet hat?“
Alicia schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass Cary nur helfen wollte, aber für Detektivspiele fehlte ihr die Kraft.
„Ich habe aber noch etwas.“ Er hob triumphierend einen Papierfetzen in die Luft. „Das habe ich auf dem Sessel gefunden. Es lag in der Ritze hinter dem Sitzkissen.“
„Was ist es?“ Alicia heftete ihre Augen auf das Papier. „Eine Adresse?“
„Eine Handynummer.“
Schweigend zog Alicia ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Telefonnummer auf dem Zettel. „Es ist Kalindas Handschrift“, sagte sie zu Cary, während sie auf das Freizeichen wartete.
„Hallo?“, meldete sich eine männliche Stimme.
„Hallo? Mit wem spreche ich?“
„Mit wem spreche ich denn?“
Alicia fühlte sich unwillkürlich an die seltsamen Telefonate mit dem Unbekannten erinnert, der sich als Kalindas Ehemann herausgestellt hatte, aber im Gegensatz zu jenem kam ihr diese Stimme irgendwie bekannt vor. „Hören Sie bitte…“, begann sie.
„Alicia Florrick?“, unterbrach sie die Stimme am anderen Ende.
Sie hielt inne. „Wer...“
„Blake Calamar.“
„Blake?“ Alicia wäre vor Überraschung fast das Handy aus der Hand gefallen. „Hi Blake, wie geht es dir?“
Sie hörte ihn am anderen Ende lachen. „Ich nehme nicht an, dass dich das wirklich interessiert, Alicia. Du wählst meine Nummer und weißt nicht einmal, wen du anrufst?“
„Ja, das ist richtig“, gab sie zu. „Wir haben hier ein Problem Blake…“ Sie überlegte kurz, wie sie ihn am einfachsten auf ihre Seite ziehen könnte und entschied sich für den direkten Weg. „Kannst du uns helfen, Kalinda zu finden?“
Er lachte wieder. „Wieso sollte ich das tun? Die Frau hat mein Auto zertrümmert, mich in einem Hotel in eine Falle gelockt und schließlich aus der Stadt getrieben, nur damit du ihr kleines Geheimnis nicht erfährst. Warum sollte ich irgendein Interesse haben, ihr zu helfen?“ Er machte eine Pause, wohl um zu schauen, ob seine Worte ihren gewünschten Effekt hatten. „Ich hoffe, du weißt es inzwischen“, fügte er hinzu.
Alicia fuhr sich über die Stirn. Blake hatte sich nicht geändert, er konnte noch immer seine Spielchen nicht lassen. „Blake“, sagte sie ernst. „Wir können nicht ausschließlich, dass sich Kalinda in Lebensgefahr befindet. Außerdem wirst du gut bezahlt werden.“
„Lockhart & Gardner?“
„Ja genau.“ Alicia warf einen fragenden Blick zu Cary, der mit einem Nicken zustimmte. Schließlich hatte Will versprochen, dass die Kanzlei für alle Unkosten aufkommen würde.
Für einen Moment war es still am anderen Ende der Leitung. „Fünfhundert Dollar pro Stunde plus Spesen.“
„Okay.“
„Und ihr wisst, dass ich nicht in Chicago bin?“
„Davon bin ich ausgegangen.“
„In Ordnung.“ Es raschelte in der Leitung. Offenbar holte Blake sich etwas zum Schreiben. „Worum geht es genau?“
Alicia schilderte ihm die Ereignisse der letzten Stunden und Tage. „Da ist noch etwas“, sagte sie, als sie am Ende angelangt war. „Vor einiger Zeit hat ihr Lemond Bishop gedroht.“ Alicia wusste, dass sie mit der Erwähnung dieses Namens gefährliches Terrain betrat, denn Blake hatte einmal für den Drogenhändler Bishop gearbeitet. Doch war er gerade die einzige Quelle, die sie hatten, und deshalb musste Alicia das Risiko eingehen. „Es ist kein Geheimnis, dass der Mann Menschen beseitigt, die ihm unbequem sind“, sagte sie geradeheraus. „Aber als ich Kalinda auf ihren Scheck aus Toronto angesprochen hatte, meinte sie, die Sache hätte nichts mit Bishop zu tun. Es geht irgendwie um ihren Ehemann.“
„Ja, das passt. Leela kommt ja aus Kanada“, sagte Blake, wohl wissend, dass der Name Alicia einen Stich versetzen würde. „Das heißt also, dass die Gefahr von zwei Seiten kommen könnte“, fasste er zusammen, als Alicia auf seine Provokation nicht einging. „Lemond Bishop oder ihr Ehemann.“
„Wie gesagt glauben wir, dass Kalindas Verschwinden eher mit ihrem Ehemann zu tun hat“, erklärte Alicia. „Sicher sind wir uns allerdings nicht. Kalinda und ich haben gestern noch über diesen mysteriösen Mann gesprochen und sie hat mir gesagt, dass er gefährlich sei. Außerdem weiß ich von Will, dass sie in der Kanzlei gekündigt hat und die Stadt verlassen wollte. Es sieht aber nicht so aus, als ob sie das auch getan hat.“
„Okay….“, sagte Blake gedehnt, und Alicia hörte, wie er mit seinem Stift auf seinen Block klopfte. „Ich höre mich mal um und melde mich in einer Stunde.“
„Und was machen wir beide jetzt?“, fragte Cary, als Alicia ihr Handy wieder einsteckte.
„Ob es doch Zeit an der Zeit ist, die Polizei einzuschalten?“
Er schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass Kalinda jede Menge Freunde bei der Polizei hat. Wenn sie es für ratsam gehalten hätte, die zu informieren, hätte sie es getan.“
„Woher willst du wissen, dass sie es nicht getan hat?“ Alicia runzelte die Stirn. „Besucht sie noch immer dieselben Bars?“
„Ich glaube schon…“
„Dann fahren wir jetzt dorthin. Vielleicht kann uns jemand weiterhelfen.“
„Jetzt?“, fragte er ungläubig. „Es ist ein Uhr mittags. Wen willst du da antreffen?“
„Hast du eine bessere Idee?“, wiederholte Alicia seine Worte von vorhin. „Also los.“ Sie griff nach ihrer Handtasche und verließ das Schlafzimmer.
Cary folgte ihr kopfschüttelnd, und Alicia sah kurz darauf mit großen Augen dabei zu, wie er es fertigbrachte, die Wohnungstür so zu schließen, dass keinerlei Spuren eines Einbruchs erkennbar waren. „Gelernt ist gelernt“, lächelte er, und dann eilten sie zurück zu Alicias Wagen.
* * *
„Ich frage mich, warum Blakes Telefonnummer auf Kalindas Sessel lag“, sagte Cary, als sie in der ersten Bar standen und auf den Besitzer warteten. „Weshalb hätte sie ihn anrufen sollen?“
Alicia zuckte mit den Achseln. So viele Dinge, die Kalinda betrafen, lagen für sie im Dunkeln. Nach einem brauchbaren Hinweis über ihren Aufenthaltsort Ausschau zu halten, glich der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Als der Besitzer der Bar endlich mit müden Gliedern zum Tresen schlurfte, klingelte Alicias Handy, und sie machte Cary ein Zeichen, dass er das Gespräch mit ihm übernehmen sollte. Erst als sie sich ein paar Meter vom Tresen entfernt hatte, nahm sie das Gespräch entgegen. „Diane?“
„Hallo Alicia, ich wollte nur fragen, wie es läuft.“ Dianes Stimme klang besorgt. „Habt ihr etwas herausgefunden?“
„Nein, wir sind in Kalindas Wohnung gewesen, aber haben sie nicht angetroffen“, berichtete Alicia. „Jetzt versuchen wir gerade eine andere Spur…“
„Einen Moment…“ Alicia konnte hören, wie Diane zwei Mitarbeiterinnen abwies, die in ihr Büro getreten waren. Kurz darauf fiel die Bürotür ins Schloss und Diane wandte sich wieder ihr zu. „Könnte es sein, dass sie unterwegs ist?“
„Wir schließen das eher aus, da ihr Wagen noch vor der Tür steht.“
„Und wenn sie die Stadt ohne Wagen verlassen hat?“
Alicia atmete tief durch. „Das schließen wir auch aus...“
„Warum? Gibt es andere Hinweise?“
Alicia zögerte, als sie hörte, dass jemand auf der anderen Leitung anklopfte. „Diane, entschuldige, ich erwarte einen Anruf…“
„Okay, gut.“ Diane sprach jetzt wieder in dem sachlichen Tonfall, den Alicia von ihr kannte. „Haltet mich auf dem Laufenden, wenn ihr etwas herausbekommt.“
Alicia versprach es und drückte Diane weg, um den zweiten Anruf in Empfang zu nehmen. „Hallo? Blake?“
„Hier ist Will“, hörte sie die überraschte Stimme ihres Chefs. „Rufe ich zu einem schlechten Zeitpunkt an? Ich wollte nur fragen, wie es läuft.“
Alicia verdrehte die Augen. Gut dass Kalinda nicht wusste, dass sich ihre sonst so sachlichen Chefs wie zwei besorgte Eltern aufführten. Sie hätte erst recht die Stadt verlassen. „Wir sind mitten in der Recherche“, versuchte sie Will zu beruhigen. „Noch können wir wenig sagen. In ihrer Wohnung ist Kalinda jedenfalls nicht.“
„Das dachte ich mir schon“, seufzte er. „Haltet ihr mich auf dem Laufenden, wenn ihr etwas herausbekommt?“
„Selbstverständlich.“ Alicia sah aus dem Augenwinkel, dass Cary sein Gespräch mit dem Barbesitzer beendet hatte. „Ich muss zu Cary, Will. Wir sagen dir Bescheid, wenn es Neuigkeiten gibt.“
Cary drehte seinen Daumen nach unten, als er auf sie zukam. „Der Mann wollte uns unbedingt helfen, hatte aber keine Ahnung“, machte er seinem Ärger Luft, sobald sie wieder draußen vor der Tür standen. „Hoffentlich schaltet er jetzt nicht die Polizei ein.“
„Hast du ihm denn gesagt, dass er das unterlassen soll?“ Alicia spannte ihren Regenschirm auf. Schon als sie die Bar betreten hatten, hatte es leicht zu nieseln angefangen, doch jetzt goss es wie aus Kübeln. Glücklicherweise hatte Grace am Morgen den Wetterbericht gehört und sie ermahnt, einen Schirm mitzunehmen.
„Selbstverständlich habe ich das. Aber ob er sich daran halten wird?“ Cary zwängte sich zu ihr unter den Schirm.
Alicia wollte gerade etwas erwidern, da klingelte ihr Handy abermals. Diesmal war es Blake, und Alicia quetschte sich samt Cary und Regenschirm in einen Hauseingang, um ihn besser verstehen zu können. „Ich habe zwei Informationen, die euch vielleicht interessieren könnten“, kam Blake gleich zur Sache. „Die erste ist, dass Kalinda ihr Bankkonto in den letzten Tagen nicht angerührt hat. Die zweite ist, dass ihr Ehemann ein paar leerstehende Fabrikgebäude in Chicago besitzt. Es muss wohl Zufall sein, denn bis vor kurzem schien er nicht zu wissen, dass sich seine Frau in Chicago aufhält.“
Alicia spürte ihr Herz schneller schlagen. „Meinst du, es könnte sich lohnen, dort vorbei zu fahren?“
„Es wäre zumindest einen Versuch wert.“ Blake gab Alicia die Adressen von drei Gebäuden durch. „Ich melde mich, wenn ich Weiteres in Erfahrung gebracht habe“, versprach er. Ehe Alicia sich bedanken konnte, hatte er aufgelegt.
„Was ist?“, drängte Cary, als er den Ausdruck in Alicias Gesicht sah.
„Wir brechen hier ab und fahren zu den Gebäuden, die Kalindas Ehemann gehören.“ Alicia klappte ihren sperrigen Regenschirm zusammen und machte sich durch den strömenden Regen auf in Richtung ihres Parkplatzes. Cary hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten.
„Du meinst wohl Leelas Ehemann“, keuchte er. „Wie wir alle wissen, ist Miss Sharma unverheiratet.“
„Wie auch immer“, rief Alicia atemlos und beschleunigte noch ihre Schritte.
Als sie fünf Minuten später nach Luft ringend in Alicias Wagen saßen, waren sie beide bis auf die Haut nass. Alicia startete sofort den Motor. Die erste Adresse, die Blake ihr durchgegeben hatte, lag weit im Osten der Stadt, in der County Line Road, so dass sie fast einmal quer durch die Stadt fahren mussten.
Cary warf mehrfach einen besorgten Blick auf das Tachometer, da Alicia trotz der nassen Straßen fast durchgehend mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr. „Du musst eh bei jeder Ampel wieder anhalten“, erinnerte er sie.
„Ich weiß“, seufzte sie. „Hast du keine Angst, dass wir zu spät kommen?“
„Doch“, erwiderte er. „Aber wie spät werden wir erst kommen, wenn wir in eine Geschwindigkeitskontrolle geraten?“
„Okay, du hast recht.“ Alicia lehnte sich etwas mehr in ihren Sitz zurück und versuchte, sich dem Rest des Chicagoer Verkehrs anzupassen. Jetzt waren es eh nur noch ein paar Meilen.
Ohne Navigationsgerät hätten sie das Gebäude nie gefunden. Das Gerät führte sie durch ein unübersichtliches Gewirr von Einbahnstraßen hindurch, bevor sie auf die County Line Road stießen, an deren menschenleerem Ende sich eine große Lagerhalle befand.
„Das muss es sein.“ Alicia stieg eilig aus ihrem Wagen und wunderte sich, dass Cary ihr nicht hinterherkam. Als sie den Wagen umrundete und durch das Beifahrerfenster lugte, sah sie, dass er sich eine Pistole in seine Manteltasche steckte.
„Wer weiß, was uns dort erwartet“, sagte er, als er ebenfalls aus dem Wagen stieg.
Die Lagerhalle war riesig, und verfügte über mindestens drei Eingänge. Cary und Alicia hielten es für das Beste, einen der unauffälligeren Seiteneingänge zu nehmen. Als erstes probierten sie den kleinen Eingang auf der Nordseite und tatsächlich gab die rostige Eisentür quietschend nach, als Alicia dagegen stieß. Nachdem Alicia die Tür wieder leise hinter ihnen geschlossen hatte, mussten sie beide eine Weile verharren, bis sich ihre Augen genügend an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann aber war es ihnen möglich, sich zu orientieren, denn durch die schmalen Fenster oben unter der Decke fiel ein fahler Lichtschein in den Raum.
Sie hatten eine leere Halle erwartet, doch der riesige Raum war vollgestopft mit Containern und übereinander gestapelten leeren Paletten. Ob sich etwas in den Containern befand, war nicht zu erkennen, doch dieser Ort wirkte längst nicht so außer Betrieb, wie Blake es vermutet hatte.
Alicia zog ihre Schuhe aus, um auf dem Betonfußboden kein Geräusch zu erzeugen, und stellte sie neben der Tür ab. Cary tat es ihr nach. Per Handzeichen verständigten sie sich, dass sie in verschiedene Richtungen gehen würden. Alicia würde die linke Seite der Halle erkunden, Cary die rechte.
Vorsichtig, mit klopfendem Herzen, schlich Alicia an den Wänden der Container entlang, Reihe für Reihe, während Cary die andere Seite der Lagerhalle in Augenschein nahm. Nichts von dem, was sie sah, ließ darauf schließen, dass sich außer ihnen noch irgendjemand in dieser Halle befand. Doch als Alicia am Ende der äußersten Containerreihe angelangt war, bemerkte sie nahe an der Wand einen rostigen Gabelstapler, und ihr stockte das Herz, als sie dahinter, unten auf dem Fußboden, die Fingerspitzen einer Hand entdeckte.
Hinter dem Gabelstapler musste jemand liegen. Alicia starrte auf die Finger der Hand, um zu überprüfen, ob sie sich bewegten. Als sich nach fünf Minuten nichts getan hatte, beschloss sie, dass die Person hinter dem Gabelstapler entweder bewusstlos oder tot sein musste. Also nahm sie all ihren Mut zusammen und pirschte zu dem Gabelstapler. Mit äußerster Vorsicht spähte sie um die Ecke und sah einen Mann bewegungslos auf dem Boden liegen. Unter seinem Rumpf befand sich eine dunkle Lache, wahrscheinlich Blut, und in seiner anderen Hand lag eine Pistole. Ganz vorsichtig bückte Alicia sich und berührte das Gesicht des Mannes. Es schauderte sie, als sie spürte, dass es kalt war.
Als sie sich wieder aufrichtete, überkam sie der nächste Schauder, denn sie entdeckte ein paar Meter weiter einen zweiten Mann. Sein Oberkörper lehnte eingesackt an einen Container, die Beine lagen verdreht am Boden, daneben eine Waffe, die ihm aus der Hand gefallen sein musste. Seine Augen starrten ins Leere. Diesmal musste Alicia den Mann nicht berühren, um festzustellen, dass er tot war.
Alicia lief es kalt den Rücken herunter. Hatten die beiden Männer sich gegenseitig erschossen? Wo um Himmels Willen war Kalinda? Alicia schrak zusammen, als sie ganz in ihrer Nähe ein Geräusch vernahm. Doch es war nur Cary, der hinter einem der Container hervorgeschlichen kam. Er sah erstaunt auf die beiden Leichen, sagte aber nichts, sondern winkte Alicia zu sich. „Um die beiden kümmern wir uns später“, flüsterte er. „Dort drüben ist eine Treppe.“ Er wies mit dem Daumen hinter sich. „Von weiter oben müsste man die Lagerhalle besser überblicken können.“
„Wären wir auf einer Treppe nicht das perfekte Ziel?“, flüsterte Alicia zurück.
„Wir werden schnell und leise gehen. Außerdem halte ich es für unwahrscheinlich, dass außer uns noch jemand hier ist.“
Jemand Lebendiges, meinst du wohl, dachte Alicia, aber sie drängte den Gedanken zurück. „Dann lass es uns versuchen“, wisperte sie stattdessen und ließ sich von Cary zu der Treppe führen.
Die Stufen waren aus Eisen, so dass sie wenigstens nicht knarrten, aber das gitterartige Muster schnitt sich unangenehm in Alicias bloße Fußsohlen. Tatsächlich konnte man von den oberen Treppenstufen aus die Lagerhalle vollständig überblicken, nur war es schwierig, in dem schummrigen Licht alle Einzelheiten auszumachen. Soweit sie erkennen konnten, war in der Tat niemand mehr hier, und Alicia atmete erleichtert auf. Wenigstens würde sie niemand aus dem Hinterhalt erschießen.
„Dort!“, raunte Cary plötzlich und wies mit seinem Arm zwischen die Container, die etwa in der Mitte der Halle standen.
Alicia hatte Mühe seinem zitternden Arm zu folgen, aber dann entdeckte auch sie etwas, das wie eine menschliche Form aussah. „Oh mein Gott“, entfuhr es ihr, und alle Vorsicht war vergessen. So schnell sie konnte, eilte sie die Treppe hinunter und lief zwischen den Containern hindurch zu der Stelle, auf die Cary gezeigt hatte.
Es war Kalinda.
Wie bei der zweiten Leiche lag ihr Oberkörper leblos gegen den Container gelehnt. Ihre Augen waren geschlossen, und als Alicia sich zu ihr herunterbeugte, entdeckte sie feste Schnüre, mit denen sie an einen Eisenträger gefesselt war. Um Kalinda herum hatte sich eine riesige Blutlache am Boden ausgebreitet, und Alicias Augen suchten hektisch nach der Quelle. Da! Ein Schuss hatte ihre linke Schulter getroffen, ein zweiter ihren rechten Oberschenkel. Alicias griff an Kalindas Handgelenk. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, aber sie zwang sich zur Ruhe. Da fand sie es, ein schwaches Pochen. „Cary!“, rief sie so laut sie konnte. „Einen Rettungswagen! Schnell!“
Cary zerriss sofort sein Hemd, als er bei ihr war, und gemeinsam versuchten sie, die beiden Blutungen zu stillen. „Es tut mir leid, Alicia“, sagte er, während sie die Verbände festzurrten. „Spätestens jetzt müssen wir die Polizei einschalten.“
Alicia nickte nur stumm. Sie brachte kein Wort heraus, ihre Hände erledigten nur automatisch die notwendigsten Dinge. Mit einer Zange, die sie in der Lagerhalle fanden, brachen sie Kalindas Fesseln auf, um sie in die stabile Seitenlage bringen zu können. Alicia zog ihr Jackett aus und legte die blutüberströmte Kalinda vorsichtig darauf. Dann setzte sie sich neben sie auf den kalten Betonfußboden, die Hand auf Kalindas leichenblasser Wange, und wartete auf den Rettungswagen.
* * *
Nach zwanzig endlosen Minuten ertönte endlich die erlösende Sirene, und Cary lief hinaus, um den Sanitätern den Weg zu weisen, während Alicia bei Kalinda blieb. Wenig später traf auch die Polizei ein und wollte sofort Auskünfte von ihnen. Glücklicherweise gelang es Cary, die Polizisten davon zu überzeugen, dass es genügte, wenn er zunächst allein eine Aussage machte, so dass Alicia in die Klinik zu Kalinda fahren konnte.
„Wir müssen Ihre Kollegin ganz hinüber zum Northwestern bringen“, sagte der Sanitäter bedauernd zu Alicia, als er die Flügeltüren des Rettungswagens schloss. „Die Kliniken in der Nähe haben wegen einer Massenkarambolage auf einem Highway keine Kapazitäten, um sofort zu operieren.“
Am liebsten wäre Alicia gleich mit in den Wagen gestiegen, aber auch sie musste zumindest kurz ihre Personalien bei der Polizei angeben, bevor diese sie entließen. Im Gegensatz zu vorhin fuhr Alicia jetzt besonders vorsichtig, denn sie merkte, dass sie in ihrem Zustand nicht wirklich fahrtüchtig war. Ob sie Diane oder Will anrufen sollte? Wahrscheinlich war es günstiger, sie erst in ein paar Stunden zu informieren, denn die beiden wären nur beunruhigt, solange nicht klar war, ob Kalinda überleben würde. Die Sanitäter hatten sich zu keiner Prognose hinreißen lassen.
Alicia seufzte, als sie eine halbe Stunde später auf den großen Parkplatz des Northwestern Hospitals fuhr. In der Vergangenheit hatte sie nicht die besten Erfahrungen mit dieser Klinik gemacht, und wie sie befürchtet hatte, dauerte es ewig, bis die zuständige Dame am Empfangstresen ihr sagen konnte, welcher Arzt für Kalinda zuständig war und wo sie sich befand. „Ihre Kollegin wird noch operiert, Ma’am“, sagte die Dame mit lateinamerikanischem Akzent. Sie war klein und schrumpelig, Alicia schätzte sie auf weit über sechzig, und sie strahlte die Liebenswürdigkeit eines Kehrbesens aus. „Es wird noch mindestens zwei Stunden dauern, bis sie aus dem OP kommt“, fuhr die Frau mit tiefer Reibeisenstimme fort. „Ich rate Ihnen, in der Zeit ein paar Besorgungen zu erledigen, denn unsere Wartezonen quellen über.“
„Kann mir denn jemand sagen, wie es um sie steht?“
„Tut mir leid, Ma’am.“ Die schrumpelige Frau schüttelte den Kopf. „Sie sind keine Angehörige.“
„Na, großartig.“ Alicia fuhr sich frustriert durch ihre Haare. „Könnten Sie mich wenigstens anrufen, wenn Miss Sharma aus dem OP-Saal kommt?“
„Tut mir leid, Ma’am“, wiederholte die Frau. „Wenn wir hier jeden anrufen würden, der…“
„Schon gut.“ Alicia hob abwehrend die Hände. „Dann muss ich eben in zwei Stunden wieder auf Sie zukommen“, drohte sie, aber es schien keinen Eindruck auf die Schrumpelige zu machen. Also beschloss Alicia, in der Parkanlage der Klinik spazieren zu gehen – irgendwo auf einem Stuhl herumzusitzen brachte sie gerade eh nicht fertig.
Über eineinhalb Stunden durchquerte sie den Park in alle Richtungen, bis sie das Gefühl hatte, jeden Winkel der Anlage zu kennen. Als sie schließlich auf einer Bank Platz nahm und ihr Blick auf ein klinikinternes Café fiel, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie seit 7 Uhr morgens nichts mehr gegessen hatte. Aber sie brachte nichts herunter, solange nur ein paar hundert Meter entfernt ihre Kollegin um ihr Leben kämpfte.
Irgendwann rief Cary an, um zu fragen, ob er vorbeikommen solle (was sie verneinte), und danach Blake, weil er neue Informationen hatte (Alicia sagte ihm, dass sie Kalinda gefunden hatten und sein Auftrag damit beendet sei). Und schließlich meldete sich Grace, um sich zu erkundigen, warum Alicia sie nicht von der Schule abholte. „Mom, du hast doch versprochen, uns heute abzuholen“, sagte sie gekränkt. „Du weißt doch, dass Zachs Auto in der Reparatur ist.“
„Ach du meine Güte, Grace!“ Alicia fuhr sich über die Stirn. Das hatte sie völlig vergessen. „Es tut mir so leid. Ich weiß, ich hatte es versprochen, aber hier geht gerade alles drunter und drüber.“
Graces vorwurfsvoller Ton verwandelte sich in Sorge. „Bist du okay, Mom? Du klingst irgendwie sonderbar.“
Alicia schloss die Augen, als ihr, zum ersten Mal an diesem Tag, die Tränen kamen. „Nein, Grace, es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen. Nur kann ich euch heute leider nicht abholen.“ Sie wischte sich mit der Hand über die Augenlider. „Ruft ihr euch ein Taxi?“
„Na gut, wie du meinst.“ Grace schien noch nicht überzeugt.
„Ich muss jetzt Schluss machen, Grace“, log Alicia. „Grüßt du Zach von mir und sagst ihm, dass es mir leid tut? Wir sehen uns dann heute Abend.“
Alicia steckte nachdenklich ihr Handy wieder ein. Sie würde abends ein ernstes Wort mit Grace reden, damit diese nicht das Gefühl bekam, Alicia würde sie vernachlässigen. Seit sie wieder arbeitete, reagierte Grace allzu empfindlich auf Versäumnisse ihrer Mutter, und jedes Mal plagte Alicia ein abgrundtief schlechtes Gewissen. Aber war es Alicias Schuld, dass sie nun wieder arbeitete? War es Alicias Schuld, dass sie jetzt alleinerziehende Mutter war? Allerdings konnten Grace und Zach genauso wenig dafür, und sie waren nicht selten die Leidtragenden bei all den neuen Entwicklungen in Alicias Leben.
Alicia erhob sich von ihrer Bank, um der kleinen Schrumpeligen einen erneuten Besuch abzustatten und wurde nochmals brüsk abgewiesen. Diesmal ließ sie sich jedoch nicht so leicht abspeisen und nach fünfzehn Minuten stand Alicia schon wieder am Empfangstresen. Ein weiteres Mal wurde sie weggeschickt, und wieder kam sie nach fünfzehn Minuten zurück. Die Operation zog sich offenbar erheblich in die Länge (Alicia vermochte nicht zu sagen, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war), so dass Alicia insgesamt siebenmal an den Empfangstresen trat. Interessanterweise taute die Schrumpelige nun ein bisschen mehr auf, wenn auch in kaum merklichem Umfang. Zum Schluss entfuhr ihr geradezu ein kleines Lächeln, als sie Alicia wieder auf sich zukommen sah. „Diesmal haben Sie Glück, Mrs. Florrick“, sagte sie mit ihrer rauen Stimme. „Miss Sharma wurde soeben aus dem OP geschoben.“
to be continued...
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Zuletzt geändert von kimlegaspi am 30.06.2012, 17:27, insgesamt 22-mal geändert.
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