So, hat ja alles gut geklappt mit dem Schlaaaaaaand , und jetzt ist sogar noch Zeit, den nächsten Abschnitt zu posten, bevor es ins Bett geht. Was soll ich sagen, ganz langsam geht es in die richtige Richtung. Stetes Wasser höhlt den Stein...Um Kalinda von der Klinik nach Hause fahren zu können, musste Alicia einen schon lange feststehenden Termin mit Eli Gold verlegen, was diesen dermaßen missmutig stimmte, dass er sich prompt bei Diane beschwerte. Dort traf er allerdings auf wenig Verständnis, denn Diane war es ein echtes Anliegen, dass Kalinda sicher nach Hause gebracht würde, und so musste Eli sich wohl oder übel mit den Gegebenheiten abfinden. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, mürrisch über die Flure zu wandern und jeden wissen zu lassen, wie vernachlässigt er sich fühlte.
Er tat Alicia fast ein bisschen leid, als sie nach ihrem Autoschlüssel griff, aber heute hieß es, Prioritäten zu setzen, und ihre Priorität war nicht Eli Gold. „Kalindas Sicherheit sollte dir auch am Herzen liegen“, ermahnte sie ihn, als sie auf dem Weg zum Fahrstuhl an seinem Büro vorbeikam. Aber er sah nicht einmal auf.
Alicia war fest entschlossen, sich durch seine Griesgrämigkeit nicht den Tag verderben zu lassen, und sie beeilte sich, auf direktem Wege zum Parkdeck zu gelangen, ehe er es sich anders überlegte und hinter ihr herkommen würde. Sie legte ihre Aktentasche auf den Rücksitz, als sie in ihren Wagen stieg, denn der Kofferraum war bis zum Anschlag gefüllt, da sie am Vorabend noch Berge von Lebensmitteln und Hygieneartikeln eingekauft hatte, damit Kalinda mindestens eine Woche lang nicht aus dem Haus gehen musste. Natürlich würde sie es trotzdem tun, aber zumindest würde sie nicht auf Hilfe angewiesen sein.
Um diese Uhrzeit war der Chicagoer Verkehr eingermaßen auszuhalten, und Alicia kam in Rekordzeit im Northwestern Hospital an. Wie immer war die Parkplatzsituation angespannt, als sie auf das Klinikgelände fuhr, doch zu ihrem Glück gelang es ihr, sich vor einem jungen Cabrioletfahrer in eine Parklücke zu zwängen. Dieser stieg sofort wütend aus seinem Fahrzeug und bedachte Alicia mit einem Schwall von Schimpfwörtern, von denen Alicia manche noch nie gehört hatte. Sie tat gut daran, dem zornigen Mann keinerlei Beachtung zu schenken, als sie sich zu Kalindas Gebäude aufmachte. Ihre betonte Ruhe schien ihn allerdings noch mehr zu provozieren, und er verfolgte sie bis zum Haupteingang, bevor er endlich abdrehte. Manche Leute hatten einfach zu viel Freizeit.
Als Alicia das Gebäude betrat, saß Kalinda schon neben der Pforte auf einer Bank und las in einem Magazin. Augenscheinlich konnte sie es nicht erwarten, diesen sterilen Ort endlich zu verlassen, denn ihr Gesicht leuchtete, als sie Alicia durch die Tür kommen sah. Und sie verzog auch nur leicht die Mundwinkel, als sie wenige Minuten später entdeckte, was sich alles in Alicias Auto befand, und enthielt sich jeden Kommentars.
Während der Fahrt zu Kalindas Wohnung stellte Alicia leise das Radio an, da Kalinda in Gedanken zu sein schien und Alicia sie nicht bedrängen wollte. Erst als sie in Kalindas Straße einbogen, brach Alicia das Schweigen und kündigte an, Kalinda in deren Wohnung zu begleiten. Noch ehe sie protestieren konnte, stellte Alicia klar, dass sie keine Widerworte duldete, denn sie beabsichtigte, die Wohnung so zu präparieren, dass Kalinda dort für längere Zeit allein zurecht kommen würde. Zu ihrer Überraschung fügte Kalinda sich ihrem Wunsch und setzte sich in der Wohnung auf einen Sessel, während Alicia ihre mitgebrachten Utensilien in Küche, Bad und Schlafzimmer verstaute.
Schon lange vorher hatte Alicia sich Gedanken darüber gemacht, welche Handgriffe mit einer verletzten Schulter problematisch sein würden, und so benötigte sie nicht länger als zwanzig Minuten, um alles so herzurichten, wie Kalinda es brauchte. Deren aufmerksame Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen und Alicias gute Vorbereitung entging ihnen nicht.
„Melde dich, wenn was ist“, ermahnte Alicia Kalinda noch einmal, als alles so war, wie sie es sich vorgestellt hatte. „Egal, ob es wichtig oder unwichtig ist, okay?“
„Okay.“ Kalinda erhob sich aus ihrem Sessel, um sie zur Tür zu geleiten.
„Gute Besserung und pass gut auf dich auf“, sagte Alicia mit einem aufmunternden Lächeln und spürte fast ein bisschen Wehmut dabei.
„Danke für alles, Alicia.“ Kalindas Stimme klang ein wenig belegt. „Du hast so viel für mich getan…“
„Ach was.“ Alicia winkte ab. „Nichts, was du nicht auch getan hättest“, sagte sie und lächelte, als Kalinda darauf nichts erwiderte. Sie wussten beide, dass sie recht hatte.
* * *
Alicia stellte erstaunt fest, wie schnell der Mensch sich an kleine Alltagsrituale gewöhnen konnte. Ihr fehlten die täglichen Krankenbesuche, und obwohl Will und Diane ihr einen Auftrag nach dem anderen auf den Schreibtisch legten, wusste Alicia manchmal nichts mit sich anzufangen. Mehrfach am Tag war sie versucht, Kalinda zu Hause anzurufen, aber sie steckte jedes Mal ihr Handy wieder zurück in ihre Handtasche. Sie wollte Kalinda unbedingt die Zeit lassen, die sie brauchte. Ihr war klar, dass die Kollegin um ihre Autonomie kämpfte, und außerdem war sie Kalinda durch ihre regemäßigen Besuche garantiert zu nahe gekommen. Es überraschte sie keineswegs, dass Kalinda sich über eine Woche lang nicht meldete.
Nichtsdestotrotz plagten Alicia in den ersten Nächten Alpträume, schließlich war nicht hundertprozentig auszuschließen, dass Kalinda wieder bedroht würde. Erst nachdem Cary Alicia berichtete, dass er mit Kalinda telefoniert hatte, konnte sie nachts wieder besser schlafen. Kalinda war in Sicherheit, es ging ihr gut, und sie nahm bewusst keinen Kontakt auf. Trotzdem kam Alicia nicht umhin zu merken, wie sehr sie ihre wiedergewonnene Freundin vermisste.
Nach zehn Tagen hielt sie es schließlich nicht mehr aus und wählte Kalindas Nummer.
„Alicia? Was gibt’s?“ Kalindas Stimme klang sachlich, als erwartete sie, dass Alicia einen Fall mit ihr besprechen wollte.
„Eigentlich nichts Besonderes.“ Alicia entschied sich spontan, alle Erkundigungen nach ihrem Befinden fallen zu lassen. „Fällt dir die Decke schon auf den Kopf?“, fragte sie stattdessen.
„Ein bisschen.“
Das war garantiert gelogen, aber Alicia ging geflissentlich darüber hinweg. „Was hältst du davon, wenn ich dich nach der Arbeit abhole?“, schlug sie vor. „Und dann fahren wir gemeinsam in eine Bar deiner Wahl?“
Für ein paar Sekunden war Stille in der Leitung, und Alicia konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es passierte selten, dass sie Kalinda zu überraschen vermochte. „Ja, das können wir tun“, sagte Kalinda nach einer Weile. „Wann hast du Zeit?“
„Gegen acht Uhr?“
„Okay, gut.“
„Dann sehen wir uns nachher?“
„Ja, bis später.“
Kalindas Stimme klang irgendwie ungewöhnlich, und Alicia musste über sich selbst den Kopf schütteln, als sie ihr Handy zurück in ihre Tasche legte. Wieso fühlte es sich an, als hätte sie gerade ein Date abgemacht? Sie bekam keine Gelegenheit, weiter darüber nachdenken, denn David Lee betrat, wie immer ohne anzuklopfen, ihr Büro und verlangte ihre Anwesenheit in einer Scheidungsangelegenheit. Sein Gespräch mit einem scheidungswilligen Ehepaar war in eine Welle von gegenseitigen Schuldvorwürfen ausgeartet, und David erhoffte sich von Alicias Anwesenheit eine Beruhigung der Situation.
In der Tat gelang es Alicia, die aufgebrachten Ehepartner wieder an einen Tisch zu bringen, aber das ganze Szenario kostete sie fast zwei Stunden, und den Rest des Tages musste sie der verlorenen Zeit hinterher rennen. Jeder in der Kanzlei hasste die Tatsache, dass man sich David Lee niemals widersetzen durfte. Er brachte so viel Geld für Lockhart & Gardner, dass er sich alles erlauben konnte, und das nutzte er schamlos aus.
Immerhin verging der Arbeitstag nun wie im Fluge, und erst als Alicia zu Hause vor ihrem Kleiderschrank stand, kam die Nervosität vom Telefonat wieder zurück.
Es ist nur Kalinda, versuchte sie sich zu sagen, aber aus irgendeinem Grunde brachte das nicht den gewünschten Effekt. Möglicherweise lag es auch daran, dass sie sich nicht sicher war, wie Kalinda ihr gegenübertreten würde. Ihre Wortkargheit am Telefon hatte sich angefühlt wie ein schlechtes Omen.
Alicia entschied sich für das rote Kostüm, das sie am Wochenende aus der Reinigung geholt hatte und begab sich ins Bad, um frischen Lippenstift aufzusetzen.
Und wenn sie sich zurückzieht, dann ist das eben so, sagte sie ihrem Spiegelbild im Stillen. Und das Spiegelbild nickte zustimmend. Schlimmer als das Desaster im letzten Jahr konnte es sowieso nicht werden, und das hatten sie auch überlebt.
* * *
Als Kalinda die Wohnungstür öffnete, wirkte sie zwar etwas angespannt, aber keineswegs kühl oder abweisend, wie Alicia befürchtet hatte. Wie immer waren ihre Räume makellos sauber und aufgeräumt, und Alicia schoss sofort die Frage durch den Kopf, wie man eine Wohnung mit einer verwundeten Schulter in so einem Zustand halten konnte. Sie beschloss aber, der Sache nicht weiter nachzugehen, sondern vielmehr herauszufinden, warum Kalinda keine Anstalten machte, ihre Jacke anzuziehen.
Es dauerte eine Weile, bis ihr der Grund dafür dämmerte, denn inzwischen hatte Alicia sich so an den Anblick gewöhnt, dass ihr gar nicht mehr auffiel, wenn Kalinda ihr Haar offen trug. Doch für diese war es offenbar nach wie vor eine Notlösung, mit der sie sich nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen wollte. „Möchtest du, dass ich dir schnell die Haare hochstecke?“, fragte Alicia deshalb, mit Betonung auf dem Wort
schnell.
Nicht im Entferntesten hätte sie damit gerechnet, dass Kalinda sich einverstanden erklären würde, doch genau das tat sie. Also holte Alicia eine Haarnadel aus dem Bad und stellte sich hinter sie. Ehe Kalinda es sich anders überlegen konnte, fasste Alicia in das dichte Haar und umfasste es mit beiden Händen. Es fühlte sich weich und voll an zwischen ihren Fingern und Alicia spürte für den Bruchteil einer Sekunde den Impuls, die Fertigung des Knotens noch ein wenig in die Länge zu ziehen. Um ihr Zögern zu überspielen, beeilte sie sich umso mehr, mit raschen Handgriffen einen Knoten zu formen und ihn so festzuhalten, dass Kalinda selbst ihre Haarnadel dort befestigen konnte.
„Fertig“, sagte Alicia und trat im selben Moment einen Schritt zurück.
„Dann können wir gehen?“ Kalinda drehte sich zu ihr um und lächelte.
„Wo immer du hinmöchtest.“
Kalinda entschied sich für die Signature Lounge, eine exquisite Bar, die für ihre erlesenen Cocktails bekannt war und außerdem einer Szene angehörte, in der weder Alicia noch Kalinda verkehrten. Alicia war jeder Ort recht, solange Kalinda sich dort wohl fühlen würde, und so ließ sie sich von Kalinda geduldig durch die Straßen von Chicago lotsen.
Wer hätte gedacht, dass sie irgendwann wieder mit Kalinda in einem Auto sitzen würde, um mit ihr gemeinsam zu einer Bar zu fahren. Vielleicht, weil Alicia noch vor wenigen Wochen nicht zu hoffen gewagt hatte, dass sie diese Gelegenheit jemals wieder haben würde, spürte sie deutlicher als sonst Kalindas Gegenwart neben sich. Es war ein gutes, ein angenehmes Gefühl, aber dennoch in seiner Intensität irritierend, und Alicia verfluchte innerlich Owen dafür, ihr unsinnige Flausen in den Kopf gesetzt zu haben, die sie dazu verleiteten, ständig ihre Beziehung zu Kalinda zu hinterfragen.
Glücklicherweise verhielt Kalinda sich völlig normal, und spätestens als sie an der Theke der Signature Lounge saßen, entspannte sich auch Alicia. Die Tequilas taten ihr Übriges, und so dauerte es nicht lange, bis sie mit Kalinda lebhaft über alles plauderte, was ihr gerade durch den Kopf ging. Schon seit Ewigkeiten hatte Alicia sich nicht mehr so gut amüsiert, und gerade deshalb blieb ihr das Lachen im Halse stecken, als sie hinter ihrem Rücken eine allzu bekannte Stimme vernahm.
„Was ist los?“ Kalinda wurde ernst und sah an Alicia vorbei, um die Quelle von deren Unmut ausfindig zu machen.
„Das fehlt mir gerade noch“, murmelte Alicia und weigerte sich, hinter sich zu schauen. Dafür war es eh zu spät, denn schon klopfte ihr jemand von hinten auf die Schulter.
„Alicia, was tust du denn hier?“ Owen trat vor Alicia, um sie in die Arme zu nehmen.
„Dasselbe wie du wahrscheinlich. Hallo Owen.“ Alicia erwiderte seine Umarmung und scannte nebenbei den Raum nach einem smarten Mann mittleren Alters, der sich als Owens Partner anbot. Mit seinen Birkenstockschuhen war Owen ein auffälliger Fremdkörper in der edlen Cocktailbar, und der einzige Grund, der ihn hierher verschlagen haben konnte, musste ein anderer Mann sein.
„Bruce, komm doch mal her!“, rief Owen quer durch die Bar. „Ich habe gerade meine Schwester getroffen.“
Ein schlanker Mann im schwarzen Armani Anzug näherte sich ihnen. „Bruce Greenstone“, stellte er sich vor, als er Alicia die Hand entgegenhielt. „Owen hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“
Alicia schaute misstrauisch zu Owen, der inzwischen Kalinda entdeckt hatte. „Und Sie sind…?“, fragte er neugierig, während er seinen Arm um Alicia legte.
„Kalinda.“
Alicia verdrehte die Augen, als Owen mit bedeutungsschwangerem Blick zu ihr sah, bevor er sich wieder an Kalinda wandte. „Oh. Ja. Ka-lin-da…“, sagte er gedehnt und musterte sie von oben bis unten. „Von Ihnen hat mir Alicia auch schon viel erzählt...“ Alicia betete im Stillen, dass Owen sich heute nicht so daneben benehmen würde, wie es sonst seine Art war, und tatsächlich setzte er eine ernste Miene auf. „Meine Güte, ich plaudere hier“, schalt er sich selbst. „Wie geht es Ihnen denn? Ich habe meine Schwester noch nie so besorgt gesehen.“
Kalinda lächelte höflich, während Alicia auf ihre Schuhe blickte und Owen auf den Jupiter wünschte. „Es geht mir gut, danke“, antwortete sie freundlich.
„Das ist schön zu hören“, sagte Owen vergnügt. „Wir bleiben übrigens nicht lange“, erklärte er. „Wir kommen nur gerade aus dem Theater und wollten nicht gleich nach Hause gehen.“
„Sie wollen sicher für sich sein, nicht wahr?“, fragte Bruce taktvoll, obwohl nicht ganz klar war, ob er vielleicht lieber selbst mit Owen unter sich sein wollte.
Alicia setzte gerade zur Antwort an, doch Kalinda kam ihr zuvor. „Ja, das ist richtig“, sagte sie mit charmantem Lächeln. „Wir haben noch Arbeitsthemen zu besprechen.“
„Danach sieht’s auch aus“, murmelte Owen mit Blick auf die ausgetrunkenen Tequila Gläser. „Dann wünsche ich den Damen noch einen schönen Abend.“
„Danke, das wünschen wir den Herren auch.“ Alicia deutete mit einer Handbewegung an, dass Owen sich verziehen sollte. „Wir lieben uns“, versicherte sie Bruce, als dieser verwirrt zwischen ihr und Owen hin und her schaute. „Keine Sorge.“
„Da siehst du’s“, lachte Owen. „Wenigstens einer, der mich liebt.“ Grinsend zog er mit Bruce ab und begab sich mit ihm an das andere Ende der Bar.
„Dein Bruder ist schwul?“, fragte Kalinda amüsiert, als die beiden außer Hörweite waren.
Alicia war schon leicht schwindelig von den vielen Tequilas, und sie drehte ihren Körper mit großer Sorgfalt zur Theke zurück. „Ich könnte jetzt zwei Jahre warten, bis ich dir eine Antwort darauf gebe“, sagte sie spitz und schaute dem Barkeeper dabei zu, wie er die nächsten zwei Gläser einschenkte.
Kalinda lachte, und stieß mit ihr an. „Es ist gar nicht nötig, dass du antwortest“, meinte sie gleichmütig, als sie ausgetrunken hatten.
„Aha, Miss Sharma ist wieder im Einsatz.“ Alicia verzog das Gesicht von dem Biss in die Limone. „Na gut, wenn du es unbedingt wissen willst. Owen ist schwul, solange er denken kann. Das behauptet er zumindest.“
„Ist es etwas Ernstes?“ Kalinda wies mit dem Daumen zum anderen Ende der Theke, wo sich Owen und Bruce vermutlich noch aufhielten. Es standen zu viele Leute dazwischen, um zu sehen, ob sie dort geblieben waren oder sich an einen der Tische gesetzt hatten.
Alicia beschäftigte sich damit, die kleinen Gläser vor sich übereinander zu stapeln. Mit ihrer Feinmotorik stand es nicht mehr zum Besten, aber sie schaffte es noch mühelos. „Ist dir schon mal aufgefallen, dass du dir Fragen herausnimmst, die du selbst nicht beantwortest?“, fragte sie und bereute sogleich die Schärfe in ihrem Tonfall.
„Was willst du denn wissen?“, fragte Kalinda, nicht im Mindesten beeindruckt.
„Was ich wissen will?“ Alicia stellte die Gläser wieder zurück auf den Tisch und ordnete sie in einer Reihe nebeneinander an. Das war eine sehr gute Frage. Was war es, was sie von Kalinda hören wollte? Wollte sie, dass sie die Verwirrung in ihrem Kopf auflöste, die seit dem Gespräch mit Owen nie mehr gänzlich verschwunden war? Wollte sie Beweise gegen seine Theorie sammeln? Oder gar welche dafür? „Ich will wissen, ob es für dich schon mal etwas Ernstes gab“, antwortete sie und versuchte, dabei so neutral wie möglich zu klingen.
„Warum?“
„Weil ich es wissen will.“
Kalinda nickte, als ob das eine Erklärung gewesen wäre und bestellte noch zwei Gläser Tequila. „Das sollten dann die letzten sein“, sagte sie verschmitzt.
Alicia spürte, wie Kalinda sich in sich zurückzog. Sie konnte förmlich sehen, wie ihre inneren Mauern hochfuhren, aber diesmal war es ihr egal. „Was ist so schlimm daran, es zu sagen?“, hakte sie nach.
„Nichts.“ Kalinda schwieg eine Weile. „Ja, ich kenne das“, sagte sie dann und lächelte dem Barkeeper zu, als dieser ihr die neue Bestellung hinschob. Er zwinkerte ihr zu, und Alicia wusste, dass Kalinda am Ende des Abends seine Handynummer auf der anderen Seite der Rechnung vorfinden würde.
„Und? Was hast du gemacht?“
„Nichts.“
„Wieso nichts?“
Kalinda wandte sich ihr wieder zu, und Alicia war überrascht, wie müde sie auf einmal wirkte. „Weil es keine Bedeutung für mich hat.“
„Wie kann etwas Ernstes keine Bedeutung haben?“ Alicia runzelte die Stirn. Sie wusste genau, was Kalinda meinte, aber sie wollte, dass sie es selbst aussprach und merkte, wie widersinnig es sich anhörte.
„Ich will keine Verpflichtungen eingehen, die ich nicht einlösen kann.“ Kalinda sprach langsam und vorsichtig, so als fürchtete sie, dass man ihr das Wort im Munde umdrehen könnte. „Schon gar nicht gegenüber jemandem, der mir wichtig ist.“
Alicia sah nachdenklich zu einem Paar, das hinter Kalinda am Tresen stand. Die beiden waren in eine innige Umarmung versunken und schienen die Welt um sich herum gar nicht mehr wahrzunehmen. Noch nie hatte Alicia Kalinda sagen hören, dass ihr etwas oder jemand wichtig sein könnte, und ihr war bewusst, wie dünn das Eis war, auf dem sie sich bewegte. „Glaubst du nicht, dass dir etwas entgeht?“, fragte sie vorsichtig.
„Mag sein.“
„Und all die gebrochen Herzen, die du zurücklässt? Machen dir die nichts aus?“
„Herzen heilen wieder.“ Kalinda lächelte. „Außerdem verspreche ich nie, was ich nicht halten kann.“
„Aber was ist, wenn…“ Alicia merkte, dass sie eindeutig zu viel Alkohol getrunken hatte, um solch eine Unterhaltung zu führen. Sie fühlte nur noch eine vage Kontrolle über das, was sie sagte. „Was ist, wenn du das Herz eines Menschen brichst, mit dem es dir ernst ist?“
„Auch das wird heilen.“
Alicia seufzte und stützte ihren Kopf in ihre Hände. „Vielleicht brichst du irgendwann dein eigenes“, murmelte sie.
Erst nach einer Weile merkte sie, dass Kalinda nicht antwortete, und als sie zu ihr schaute, sah sie, dass sie regungslos auf ihrem Barhocker saß und auf den Tresen starrte. Vermutlich war es die Wirkung der Tequlias, denn Alicia hatte noch nie gesehen, dass Kalinda um ihre Fassung rang.
Ohne nachzudenken, legte Alicia ihre Hand auf Kalindas Rücken und strich sanft über den weichen Stoff ihrer Bluse. Sie konnte die schmalen Schulterblätter unter ihrer Hand spüren, die Wirbelsäule und den BH, und sie fragte sich unwillkürlich, wie viele Menschen diesen wohl schon geöffnet hatten. In Ihrem Kopf blitzte ein Bild von Peter und Kalinda auf, und sie schob es sofort wieder zur Seite. Sie war durch mit dem Thema. Und sie wollte nicht, dass Kalinda einen so hohen Preis für ihre Freiheit bezahlte.
Kalinda schaute sie nicht an, aber sie protestierte auch nicht, und so ließ Alicia ihre Hand liegen, wo sie war. Schließlich löste sich eine Träne und tropfte still auf den Tresen. Kalinda senkte ihren Kopf und schloss für einen kurzen Moment die Augen, bevor sie ihr Gesicht Alicia zuwandte.
Im Nachhinein konnte Alicia nicht sagen, was es gewesen war und woher es gekommen war, aber als sie Kalindas Blick begegnete, überkam sie ein unerklärlicher Drang, sich zu ihr hinüberzubeugen und die dunklen Lippen zu küssen. Zart und behutsam, wie nur Liebende es können.
Kalindas Gesichtsausdruck verriet, dass sie die Veränderung wahrgenommen hatte, und Alicia fand in ihren Augen dasselbe Verlangen, das diese in ihren sah. „Es ist schon spät“, sagte Kalinda sanft. „Und du musst morgen früh aufstehen, Alicia.“
Alicia nickte verwirrt. „Ich bin eh schon betrunken“, murmelte sie und nahm ihre Hand von Kalindas Rücken, um ihr Portemonnaie aus der Handtasche zu holen.
Aber Kalinda war schneller und fasste nach ihrer Handtasche, bevor Alicia sie hochheben konnte. „Du bist eingeladen“, befahl sie, wieder in voller Kalinda-Manier. „Mein Gehalt ist wesentlich höher als deines.“
„Das ist nur eine Frage der Zeit“, drohte Alicia lachend. Sie war froh, dass der intime Moment vorüber war und wenigstens Kalinda ihre Kontrolle wiederzuhaben schien. „Für heute nehme ich dankend an.“
Während Kalinda zahlte, sah sich Alicia noch einmal nach ihrem Bruder um, doch Owen und Bruce schienen die Bar verlassen zu haben. „Warum haben wir uns eigentlich kein Taxi genommen?“, fragte Alicia, als sie aus dem Gebäude traten. „Ich werde morgen mit Zachs Auto zur Arbeit fahren müssen.“
Kalinda klopfte ihr mit ihrem gesunden Arm tröstend auf den Rücken. „Nächstes Mal sind wir schlauer“, sagte sie und bestellte per Handy zwei Taxis.
Alicia lehnte sich erleichtert gegen ihren Wagen. Für Kalinda würde es also trotz allem ein nächstes Mal geben. Das war gut zu wissen, denn sie selbst wollte unbedingt ein nächstes Mal.
To be continued....