Kapitel 58: Never forget
„Wo ist Ansgar schon wieder?“ polterte Ludwig wie ein Irrer. Tristan zuckte die Schultern. „Was weiss ich? Vielleicht fragst du mal seine Gespielin“, sagte er dann, was ihm einen Tritt von Elisabeth unter dem Tisch einbrachte. „Sprich nicht so über Amber“, sagte diese. „Sie ist eine sehr nette Frau.“ „Ist ja schon gut“, erwiderte ihr Stiefsohn einlenkend. „Sagt Ansgar, dass ich ihn unbedingt sprechen möchte, sobald ihr ihn seht“, sagte Ludwig und stand dann auf.
Amber sah auf die Uhr. Es war schon zehn nach acht. Für gewöhnlich arbeitete Ansgar nicht so lange, und wenn, dann sagte er Bescheid, dass er später kam. So langsam machte sie sich Sorgen. Als ihr Freund auch um neun noch nicht dawar, und auch nicht an sein Handy ging, beschloss sie, sich ins Auto zu setzen. Sie wusste zwar nicht, wo sie ihn suchen sollte, aber sie konnte nicht mehr untätig herumsitzen.
Amber fuhr den Weg zur Enterprise ab und schaute aufmerksam links und rechts ob sie Ansgars Auto irgendwo entdecken konnte, aber es war nicht aufzufinden. Als es halb elf war, beschloss sie, nach Königsbrunn zurückzufahren. Sie hatte jetzt richtig Angst um Ansgar. Gerade als sie zur Eingangstür hereinkam, hörte sie ihr Handy klingeln. Sie sah auf ihr Display. Ansgar! Gott sei Dank. „Ansgar! Wo bist du?“ rief Amber ängstlich in den Hörer. „Ich - ich bin im Krankenhaus“, hörte sie ihn am anderen Ende leise flüstern. Amber erschrak fürchterlich. „WAS? Was ist passiert?“ „Ich hatte wieder einen Herzinfarkt, ich muss operiert werden.“ „Oh Gott“, rief Amber aus und liess fast den Hörer fallen. „Ich komme“, sagte sie nur noch und rannte dann zurück zu ihrem Auto.
Es zeriss Amber das Herz als sie Ansgar sah. Es war erst ein halbes Jahr her, dass sie ihn so hilflos im Krankenhausbett liegen sah, und nun war er schon wieder eingeliefert worden. Die Tränen standen ihr in den Augen. Amber hielt Ansgars Hand fest und sah ihn nur an. „Was haben die gesagt? Wie ist das passiert?“ „Ich weiss nicht, ich bin vom Büro gekommen, habe gemerkt, dass mir alles so eng vorkam, und dann bin ich ins Krankenhaus gefahren. Du weisst, wie sehr ich Krankenhäuser hasse, aber ich hatte echt das Gefühl, dass etwas nicht stimmt“, sagte Ansgar, und Unsicherheit klang in seiner Stimme. „Aber warum hast du mich nicht angerufen? Ich wär´doch sofort gekommen“, sagte Amber leise und strich Ansgar über den Arm. „Ich wollte dich nicht beunruhigen“, meinte er. „Ach, was hast du denn jetzt getan? Jetzt habe ich noch viel mehr Angst um dich. Was haben die Ärzte denn gesagt?“ „Es sollte eine Herzkathederuntersuchung gemacht werden, um zu sehen, ob die Herzkranzgefässe verschlossen sind. Danach hatte ich den kleinen Infarkt“, erzählte Ansgar. „Jedenfalls haben die Ärze gesagt, dass ich zwei Bypässe brauche. Ich muss mich nur erst erholen von dem erneuten Infarkt. Den habe ich nicht mal gemerkt. Das war ganz seltsam.“ Amber sah Ansgar nur mit großen Augen an. „Das ist nicht gut, oder?“, flüsterte sie. „Naja, da sind wohl zwei Herzkranzgefässe verstopft, und mit dem Bypass kann man diese verstopften Gefässe mit Venen oder Aterien aus einer anderen Stelle des Körpers wieder überbrücken an den verengten Stellen. Eigentlich ganz logisch.“ „Ansgar, komm mir nicht mit Logik, ich habe eine Scheissenangst um dich!“, rief Amber aus. „Ach, wird schon“, sagte Ansgar betont lässig , doch Amber sah die Angst in seinen Augen. „Ich werde wohl so zwei Wochen warten müssen bis zur OP. Und ein Zuckerschlecken ist das auch nicht. Die meisseln einen ganz schön auf. Aber nun ja, die werden es ja wohl ordentlich hinkriegen, sonst kriegen die mächtig Ärger mit mir“, versuchte Ansgar, die Situation ins Lächerliche zu ziehen. „Nun komm schon her, ich sterb´ schon nicht gleich wenn ich dich in den Arm nehm´“, sagte er dann grinsend zu Amber. Er zog sie an sich. Amber spürte Ansgars kräftige Arme und fühlte sich sogleich geborgen. Sie war sich sicher, es würde ihn nichts und niemand klein kriegen, auch keine Bypass Operation. Sie wusste, es würde alles gut werden. Sogar jetzt, wo Ansgar selbst krank war, hatte sie immer noch dieses Gefühl bei ihm, wenn sie bei ihm war, dass er stark für zwei war, dass er sie beschützte und ihr immer beistehen würde, egal, was passierte. Amber nahm den Geruch seines Aftershaves wahr und den so Ansgareigenen Geruch. Dieser Geruch vernebelte ihr die Sinne. Wie immer. Sie liebte ihn so wahnsinnig, dass sie es nicht in Worte fassen konnte. Als sie sich von ihm löste, glaubte sie, sie hätte in Ansgars Augen Tränen schimmern sehen, aber sie hoffte, sie irrte sich. Wenn Ansgar Ansgst hatte , so hatte sie auch Angst. „Ich liebe dich“, sagte sie leise zu ihm und küsste ihn sanft auf den Mund. Ansgar blickte ihr tief in die Augen. „Und ich liebe dich, Amber.“ Dann rollten die Tränen bei Amber, sie konnte sie nicht aufhalten. „Ich habe eine Scheiss-Angst um dich“, sagte sie, und ihre Stimme wurde brüchig. „Hey", flüsterte er. „Die Ärzte haben gesagt, dass nur zwei Herzkranzverfässe verengt sind, und ich habe drei, also bitte, keine Panik“, sagte er, aber in seinem Inneren wusste er, dass auch er eine Heidenangst hatte. Er hätte sich aber lieber die Zunge abgebissen als es vor Amber zuzugeben. „Bitte, mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut.“
In den nächsten zwei Wochen vor Ansgars OP musste viel erledigt werden. Ludwig vertrat Ansgar in der Bank zusammen mit Victoria, und Ansgar versuchte, so gut es ging, vom Krankenhaus aus noch einige wichtige Dinge zu regeln. Amber besuchte Ansgar jeden Tag und war froh, dass er sich so rasch erholte. Amber hatte heimlich mit den Ärzten gesprochen, weil sie Angst hatte, dass Ansgar ihr nicht die volle Wahrheit sagte. Zu ihrer großen Erleichterung sagte man ihr, dass so eine Bypass Operation zwar nicht ganz ungefährlich war, aber heutzutage schon fast eine Routine-OP war. Man würde an anderer Stelle des Körpers Adern entnehmen und mit ihnen die verschlossene Stelle überbrücken. Bei Ansgar hätte man rechtzeitig gesehen, dass zwei Herzkranzgefäße verstopft waren, so dass er nach der Bypass Operation wieder ein fast normales Leben führen konnte. Amber war zumindest ersteinmal beruhigt.
Der Tag vor Ansgars OP kam, und Amber verbrachte den ganzen Tag bei ihm im Krankenhaus. Sie sass an seinem Bett und versuchte ihn aufzumuntern. Sie spürte, dass Ansgar Angst hatte. Sie fühlte, dass es auch noch etwas gab, was er ihr sagen wollte, denn er druckste seltsam herum. „Ansgar, du hast noch etwas auf dem Herzen, bitte sag es mir“, forderte sie ihn auf. Ansgar war überrascht, wie gut Amber ihn kannte und sagte: „Ja, du hast recht. Da gibt es etwas. Ich wollte dich bitten….. Wenn.. wenn mir etwas zustösst morgen, sagen wir mal… dass ich nicht mehr selbst entscheiden kann was mit mir passiert oder so…dann… „ Amber sah ihn entsetzt an. „Hör sofort auf!“ rief sie. „Da geht nichts schief, ich weiss es, hörst du!“ Ansgar sah sie nachsichtig an. „Ich meine, ich will nicht künstlich am Leben erhalten werden, wenn ich nachher schwachsinig im Kopf bin oder dergleichen. Für meine Kinder wäre gesorgt, Kim hat ihre Mutter und Thomas und Hannes hat Tanja und Sebastian“, sinnierte Ansgar. „Stopp! Ich werde dieses Gespräch nicht weiterführen“, sagte Amber vehement. „Und noch etwas", fuhr Ansgar unbeirrt fort. „Wenn ich das da morgen gut hinter mich gebracht habe.. und nach diesem ganzen Rehamist und so weiter.. dann….“ er machte eine Pause und sah sie an, blickte ihr tief in die Augen und brachte sie damit an den Rand des Wahnsinns. „Was dann?“,fragte Amber leise, und hatte gleichzeitig schon wieder Angst vor dem was Ansgar sagen würde. „Dann…“, Ansgar legte bedeutungschwangere Pause ein und sah Amber intensiv an. „…Dann wird es auf Königsbrunn ein großes Fest geben. Das grösste, was wir je hatten. Und weisst du warum?“ Wieder dieser Blick, der Amber sogar im Krankenhaus die Knie weich werden liess. Sie schüttelte den Kopf. „Weil wir dann dort unsere Hochzeit feiern.“ Amber starrte Ansgar nur an, sagte kein Wort. Dann schossen ihr die Tränen in die Augen, und sie wandte sich ab. „Was denn? Ich mach dir nen Heiratsantrag – zugegebenermaßen keinen sehr romantischen – und du haust ab? Na, ich glaube, ich werde es morgen mal spannend machen, damit du dir Sorgen um mich machen musst“, zog Ansgar mal wieder alles ins Lächerliche. Amber sah Ansgar wieder an. Ihr liefen die Tränen über´s Gesicht. Noch immer sagte sie nichts. „Ja, ja, schon okay, ich werde dir noch einen romantischeren machen“, lachte er. Amber nahm Ansgars Hand und flüsterte: „Nein. Das musst du nicht. Schöner hättest du es nicht sagen können.“ Wieder kamen neue Tränen und sie lächelte. „Du weisst, ich stehe nicht auf die Kitschnummer.“ „Ja, ich weiss“, sagte er nur. Dann zog er sie an sich, drückte sie fest an sich.
„Ich habe Angst, Amber“, flüsterte er ganz leise. Amber war es als würde ihr der Boden unter den Füssen weggezogen werden. Ansgar hatte Angst! Er! Ansgar von Lahnstein, der vor niemandem Angst hatte! Ambers Herz setzte kurz aus, ehe sie antwortete: „Ich werde auf dich aufpassen, das versprech ich dir, dir wird nichts passieren.“ Er schob sie sanft von sich, hatte sich sogleich wieder im Griff. „Unkraut vergeht nicht“, sagte er und grinste schon wieder.
Am nächsten Morgen wurde Ansgar um 7:30 in den OP geschoben. Kurz vor der Schleuse sah Ansgar Amber noch einmal an. Ihr Herz zog sich zusammen bei diesem Blick. Sie hätte schreien können, aber sie blieb tapfer für Ansgar. „Ich möchte dir noch etwas sagen“, sagte er leise und bedeutete ihr, sich zu ihm runterzubeugen. „Du bist das Beste was mir je passiert ist. Vergiss das nie.“ Amber kämpfte mit den Tränen, aber sie schaffte es sie aufzuhalten. "I´ll never forget", erwiderte sie auf englisch, da sie wie so oft in ihre Muttersprache verfiel wenn sie extrem nervös war. "Ich liebe dich“, brachte sie dann noch hervor, dann drehte sie sich um und ging.
Die nächsten zwei Stunden und 45 Minuten waren die Hölle für Amber. Sie hockte bewegungslos auf einem der unbequemen Plastikstühle und konnte nicht einmal mehr weinen. Kim und Victoria waren am gestrigen Abend noch da gewesen, und auch wenn Amber immer ein ungutes Gefühl gegenüber Victoria hatte, so war sie doch froh gewesen die beiden Frauen um sich zu haben. Auch jetzt hätte sie sie gerne bei sich gehabt. Sie mochte Victoria. Diese hatte Amber das Versprechen abgenommen, sich sofort zu melden wenn alles vorbei war.
Die Gedanken zogen durch Ambers Kopf wie Gewitterwolken. Sie dachte an die wunderbare Zeit, die hinter ihr lag. Seit dem Tag an dem Amber auf Ansgar vor der Enterprise gewartet hatte, durchnässt vom Regen, waren sie unzertrennlich gewesen. Es gab dies Intermezzo mit Lydia, aber das hatte ihre Beziehung eher noch stärker gemacht. Amber wusste, dass es etwas ganz Besonderes war, Ansgar von Lahnstein zu lieben. Es war so viel anders als all das was sie vorher erlebt hatte. Dieser Mann liess so selten Menschen in sein Herz, aber wenn er es tat, so war es für immer, das wusste Amber. Sie betete zu Gott, dass er dafür sorgte, dass Ansgars OP gut verlaufen würde, obwohl sie sonst kein gläubiger Mensch war. Es durfte einfach nichts schief gehen. Wenn sie Ansgar verlieren würde, so würde es ihr das Herz herausreissen, sie würde den Boden unter den Füssen verlieren, sie würde es nicht überleben.
Als nach drei Stunden immer noch keine Neuigkeiten aus dem OP kamen, bekam Amber es mit der Angst zu tun. Sie lief jetzt unruhig auf und ab. Dann endlich sah sie den behandlenden Arzt Dr. Wünsche, auf sie zukommen. Sein Gesicht war sehr ernst. Amber wurde schwindelig, und sie hielt sich an der Wand fest. „Ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie“, sagte er. „Setzen Sie sich besser erst einmal.“ Doch Amber setzte sich nicht. Sie sah an dem Gesicht des Arztes, dass etwas passiert sein musste. Etwas sehr schlimmes. Amber drehte sich langsam um. Dann rannte sie. Sie rannte den Krankenhausgang entlang und rannte als wäre der Teufel hinter ihr her. Erst als sie draussen war, verringerte sie ihr Tempo. Sie steuerte auf eine Bank zu und konnte sich gerade noch hinsetzten, ehe ihr die Beine den Dienst versagten. Dann brach sie zusammen.
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