Der Weihnachtstrubel in der Innenstadt war in vollem Gange, als ich am Abend des zweiten Advents zum Theater fuhr. Es war bitterkalt draußen, dafür aber klar und trocken. Die Innenstadt lockte potenzielle Kunden mit strahlendem Lichterglanz, und die Bäume in der Fußgängerzone sahen aus, als trügen sie leuchtende Kleider aus Sternen. Vom Weihnachtsmarkt her drang einem der Geruch von frisch gebackenen Mutzen in die Nase, und das laute Gedudel von „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ begleitete mich bis zu den Türen des Theaters.
Ich presste das Ticket fest zwischen meine Finger, als ich in das große Gebäude trat. Drinnen ließ der Anblick der vertrauten Gesichter meine Nervosität wieder etwas abflauen. Dagmar, die Garderobiere, grüßte mich herzlich wie immer, Thomas vom Getränkestand erkundigte sich wie jedes Mal nach Lennarts Handicap im Golf, und Manne, der in den Pausen Bretzeln verteilte, spendierte mir eine frische Laugenstange. „Für den kleinen Hunger“, wie er sagte. Es war lieb gemeint, aber Essen war gerade das Letzte, wonach mir war. Diskret ließ ich Mannes Laugenstange in meiner Handtasche verschwinden, als ich mich auf meinen Platz in der elften Reihe setzte.
Wenige Minuten später schlossen sich die Türen, das Licht wurde abgedimmt, und eine gespannte Stille senkte sich über den Saal. Haben Sie schon einmal auf das Rauschen des Stoffes geachtet, wenn sich der Vorhang hebt? Ich liebe dieses Geräusch. Es ist so voller Verheißung. Und wenn der Blick dann frei wird auf die hell erleuchtete Bühne, tritt von einer Sekunde auf die andere das eigene Leben in den Hintergrund. Es interessiert niemanden mehr, wer man ist, denn nichts anderes zählt als das, was dort vorn auf der Bühne geschieht.
Schillers Drama begann wie immer im Zimmer der schottischen Königin Maria Stuart, die auf dem englischen Schloss Fotheringhay als Gefangene gehalten wurde. In der ersten Szene war Maria noch nicht anwesend, sondern lediglich ihre Amme und ihre Bewacher traten auf. In der zweiten Szene jedoch kam dann die schottische Königin auf die Bühne, und augenblicklich veränderte sich die Atmosphäre im ganzen Saal. Nicht einmal ein Husten war zu vernehmen.
Caroline trug ein rotes, mit goldene Fäden durchzogenes Korsettkleid und um den Hals herum einen voluminösen Kragen, wie er im 16. Jahrhundert für Adelige üblich war. Sie sah wunderschön aus und war zweifellos die perfekte Verkörperung einer Königin. Ihre ganze Haltung, jede Geste und jedes Wort zeugten von ihrer edlen Herkunft. Ist es nicht faszinierend, wie begnadete Schauspieler nicht mehr nur eine Figur sehr gut spielen, sondern
zu ihr werden? Ich fragte mich, wie es wohl sein musste, immer wieder neu die letzten Tage vor der eigenen Hinrichtung spielen zu müssen. Wie hielt Caroline das aus? Sie spielte die Königin und deren Umgang mit ihrem Schicksal mit diskreter Zurückhaltung, so dass das Publikum die Leidenschaft hinter der stolzen Fassade nur erspüren konnte. Die Verzweiflung, die Hoffnung, die Angst, die Auseinandersetzung mit dem Ende des Lebens, all das wurde deutlich sichtbar und fühlbar, obwohl diese Königin ihre Qual nicht herausschrie wir jeder andere es getan hätte, sondern nie ihre Contenance verlor. Das machte das Stück umso bedrückender und intensiver.
Das Spiel zog mich sofort in seinen Bann, und ich vergaß alles um mich herum. Ich hasste die englische Königin für ihre Härte gegen Maria, war entsetzt über Dudley Leicesters doppeltes Spiel und eifersüchtig auf den in Maria verliebten Mortimer. Ob es unfair war, dass ich Caroline schamlos betrachten und beobachten konnte, ohne dass sie es mitbekam, ja nicht einmal ahnte, dass ich im Saal war? Ich tröstete mich damit, dass das nun einmal das Los einer Schauspielerin sei. Wie viele Menschen im Publikum waren wohl allein aus dem Grunde gekommen, um sie zu sehen? Und sie kannte vermutlich nicht einen von ihnen.
Ich war froh, dass ich im dunklen Zuschauerraum saß. Niemand bekam mit, wie oft meine Augen zu Maria Stuarts Lippen wanderten. Die Lippen, die mich geküsst hatten. Mein Gehirn versuchte vergeblich, diese beiden Dinge zusammen zu bringen. Wie konnte sie mir so nahe gewesen sein, wenn sie jetzt so weit weg war? Uns trennten Welten. Buchstäblich. Oder nicht?
Das Stück kam derart gut an, dass die Schauspieler schon zur Pause nach vorn auf die Bühne geholt wurden. Ich hatte Sorge, dass Caroline mich während des Applauses entdecken würde, schließlich war der Saal jetzt voll erleuchtet, doch zum Glück sah sie nicht in meine Richtung. Warum machte ich mir überhaupt Gedanken darüber? Hatte ich nicht das Recht, so wie jede andere Person auf der Welt, eine Karte zu kaufen und dieses Stück zu sehen? Warum interessierte es mich überhaupt, ob Caroline das recht war oder nicht? Wenn sich hier jemand daneben benommen hatte, war das ja wohl sie!
Die zweite Hälfte des Stückes war hart, und bis heute ist mir schleierhaft, warum die Intendantin so ein Stück auf einen Adventssonntag gelegt hatte. Als Maria ihrer Amme, als Zeichen ihrer Dankbarkeit, kurz vor ihrem Tod einen Schal schenkte, den diese ihr für die Hinrichtung um die Augen binden sollte, wäre ich gern auf die Bühne gestürzt, um dem unerträglichen Ränkespiel der Engländer ein Ende zu setzen. Aber es gehört nun einmal zum Los des Zuschauers, dass man zur Untätigkeit verdammt ist.
Jedes Mal, wenn die Schauspieler nach Beendigung eines Stückes noch einmal auf die Bühne kommen, vollzieht sich eine faszinierende Wandlung. Alle sind noch in ihren Kostümen, aber jetzt schimmern plötzlich die Persönlichkeiten der Darsteller durch. Bei manchen ist das so radikal, dass man das Gefühl hat, sie hätten ihre Rolle hinter der Bühne an den Garderobenhaken geworfen, anderen hingegen merkt man an, dass sie ihre Figur noch nicht vollständig abgestreift haben. Caroline gehörte eher zur zweiten Sorte. Sie lächelte dem Publikum zu, als sie sich verbeugte, und sie freute sich sichtbar über den frenetischen Beifall. Trotzdem schien Maria atmosphärisch noch nicht ganz verschwunden. Ich musste unwillkürlich daran denken, als Caroline das erste Mal mein Lokal betreten hatte, in ihren verwaschenen Jeans und ihrer Lederjacke. Selbst da hatte sie noch etwas von einer Königin gehabt, und vielleicht war das der Grund dafür gewesen, dass ihr Auftritt damals so bemerkenswert gewesen war.
Als das Publikum nach dem letzten Vorhang aus dem Saal strömte, machte ich mich auf die Suche nach Holger, einem der Bühnenarbeiter, der mir versprochen hatte, mich hinter die Bühne zu den Garderoben zu führen. Ich war mir nicht sicher, ob Caroline mich zu sich lassen würde, aber ich wollte es wenigstens versuchen.
To be continued