Als der Schlussapplaus abschwoll, hatte ich für einen Moment den Impuls, fluchtartig den Saal zu verlassen, aber ich war nicht den ganzen Weg nach Berlin zu fahren, um jetzt zu kneifen. Also hieß es bleiben und der Situation ins Auge sehen. Ich verabschiedete mich von Mareike und begab mich gegen den Strom der Menschen zum Bühnenausgang. Noch war von Caroline keine Spur, aber sie hatte ja auch geschrieben, dass es bei ihr fünfzehn Minuten dauern könnte - jedenfalls wenn ich ihre SMS richtig interpretiert hatte.
Etwa zwanzig Minuten später erschien Caroline inmitten einer Gruppe von Leuten, mit denen sie sich angeregt unterhielt. Als sie mich entdeckte, winkte sie mir zu und deutete an, dass sie gleich kommen würde. Ich blieb also stehen, wo ich war und wartete, bis sie sich verabschiedet hatte.
„Hallo Fanny“, sagte sie, als sie zu mir kam. „Das ist ja eine Überraschung.“
„Hallo Caroline.“ Ich zögerte, ob ich sie zur Begrüßung umarmen sollte, aber Caroline machte keine Anstalten, näher zu kommen. Ihr die Hand zu geben, erschien mir zu formal, also ließ ich das auch sein. „Schön, dass du Zeit hast", sagte ich stattdessen und schaute an ihr vorbei zu den vielen Menschen um uns herum. Wie sollte ich ihr hier sagen, was ich zu sagen hatte?
Caroline bemerkte meinen Blick und wies mit dem Zeigefinger nach oben. „Spazierengehen fällt wohl aus bei dem Wetter. Wie wär’s, wenn wir uns ins
Brechts setzen?“
Ich befürchtete zwar, dass ein Restaurant zu öffentlich sein würde für das, was ich vorhatte, aber wahrscheinlich hatte es auch sein Gutes, wenn wir nicht allein waren. Deswegen stimmte ich ihrem Vorschlag zu, und wir machten uns zu dem Lokal auf. Da es quasi um die Ecke lag, mussten wir nicht weit laufen.
Das
Brechts präsentierte sich viel moderner und lichter, als der Namen es vermuten ließ. Die Räumlichkeiten waren schön und hell eingerichtet, nur die Bilder von Berthold Brecht an den Wänden verliehen dem Restaurant etwas Strenges. Es war brechend voll, und Caroline schien mindestens die Hälfte der Gäste zu kennen. Alle möglichen Leute begrüßten sie, und sie musste alle zwei Meter Küsschen verteilen. Zumindest hatte ihre Popularität den Vorteil, dass wir tatsächlich einen Tisch ergatterten, und das auch noch im hinteren Bereich des Lokals, wo man sich besser unterhalten konnte.
„Das Essen ist hier übrigens ausgezeichnet“, informierte mich Caroline, als wir uns setzten. „Für den Fall, dass du noch etwas zu dir nehmen möchtest.“
Ich winkte dankend ab. Mein Magen war so zugeschnürt, dass ich schon Schwierigkeiten haben würde, etwas zu trinken.
„Na, wie fühlt es sich an, bedient zu werden?“, fragte Caroline, als wir beide eine Apfelschorle bestellt hatten.
„Sehr gut“, lächelte ich. „Vielleicht sollte ich das öfter tun.“
„Läuft alles gut bei dir im Restaurant?“
„Ja, es ist alles okay. Ich habe beschlossen, im nächsten Jahr einige größere Renovierungsarbeiten in Angriff zu nehmen.“
„Das hört sich gut an.“ Sie winkte einem jungen Mann zu, der grüßend an unserem Tisch vorbeiging. „Obwohl ich nicht finde, dass es eine Renovierung nötig hat“, wandte sie sich wieder an mich. „Außerdem lieben es Schauspieler, wenn es irgendwo etwas Beständiges gibt.“
„Ich will auch nichts Grundlegendes verändern, sondern nur ein bisschen frischen Wind hineinbringen“, entgegnete ich. „Ein paar deiner ehemaligen Kollegen haben sich sogar bereit erklärt, mir beim Tapezieren und Streichen zu helfen.“
Caroline erkundigte sich, wie es ihren ehemaligen Theaterkollegen ging, und ich gab ihr bereitwillig Auskunft. Wir sprachen auch über ihre Arbeit beim
Berliner Ensemble, und ich nutzte die Gelegenheit, ihr zu sagen, wie gut mir ihre Darstellung der Beatrice gefallen hatte. Sie erzählte, dass ihr diese Rolle ausgesprochen viel Spaß machte, weil sie anders war als die Figuren, die sie bisher gespielt hatte.
Wie früher kamen wir schnell ins Plaudern, aber ich hatte die ganze Zeit im Hinterkopf, dass ich nicht für einen netten Abend angereist war. Auch wenn ich Carolines Gegenwart sehr genoss, rannte mir die Zeit davon. Wenn ich nicht bald zum Punkt kam, war der Abend zu Ende, ohne dass ich etwas geklärt hatte. Während Caroline mir eine Anekdote über Berlin erzählte, überlegte ich angestrengt, wie ich das Thema auf das vergangene Jahr lenken konnte.
„Bleibst du eigentlich länger in Berlin?“, wollte Caroline wissen.
„Nur bis zum Montag“, erklärte ich. „Ich besuche eine Freundin.“
Sie nickte. „Die Frau, die neben dir saß.“
„Du hast uns gesehen?“
„Natürlich.“
Die Selbstverständlichkeit, mit der sie es sagte, brachte mich aus dem Konzept. Gerade hatte ich mir zurechtgelegt, wie ich das Gespräch angehen wollte, und schon hatte ich auf einen Schlag wieder alles vergessen. Aber es half nichts, ich musste da durch. Der Geräuschpegel um uns herum war laut genug, um uns die nötige Privatsphäre zu geben, also jetzt oder nie. „Ich habe dir eigentlich eine SMS geschickt, weil ich mit dir etwas besprechen möchte“, sagte ich vorsichtig.
Sie stellte ihr Glas ab und sah mich aufmerksam an. „Okay. Was willst du besprechen?“
„Ich brauche deine Hilfe.“
„Immer gern.“ Sie lächelte. „Worum geht es?“
„Um mich.“ Ich zögerte. „Um uns.“
Sie wurde ernst. „Inwiefern?“
Ich starrte auf die Eiswürfel in meinem Glas. „Ich denke manchmal… vielleicht hätten wir damals mehr reden sollen…“
„Ich hatte den Eindruck, du wolltest nicht reden."
„Ja, ich weiß…“ Ich wusste nicht, wie ich ihr klarmachen konnte, was in mir vorging. Wie sagte man so etwas? Ich konnte es mir ja nicht einmal selbst erklären. „Du hättest mich haben können damals....", begann ich und hob den Kopf, um ihre Reaktion zu sehen. „Und du wusstest es..."
Sie nickte, sagte aber nichts dazu.
„Erklär mit bitte, warum du es nicht versucht hast“, bat ich sie. „Ich will es nur verstehen.“
„Du hast deutlich gemacht, dass du nicht wolltest. Was hätte ich davon gehabt, wenn du unglücklich gewesen wärst?"
Ihre Antwort überraschte mich. Sie hatte doch gemerkt, wie ambivalent ich gewesen war. Warum hatte sie das nie ausgenutzt? „Wir hätten trotzdem eine Affäre haben können…", murmelte ich.
„Ich wollte keine Affäre.“
„Warum nicht? Warst du gebunden?“ Ihre Antwort verletzte mich. Aber ich war hierhergekommen, um die Wahrheit zu erfahren, also musste ich jetzt da durch. "Oder war es dir nicht ernst genug?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, im Gegenteil.“
„Aber…“ Ich sah sie verwirrt an. Das machte keinen Sinn für mich. „Ich meine… wenn es dir wirklich ernst war… wieso hast du dann nicht um mich gekämpft?“
Sie antwortete nicht. Stattdessen schaute sie schweigend in ihr Glas und fuhr mit dem Zeigefinger über den Tau, der sich am Rande des Glases gebildet hatte. Es war eine unbewusste, aber ungeheuer erotische Geste, und ich hatte Mühe, den Gesprächsfaden nicht zu verlieren.
„Woher sollte ich das denn wissen…“, fuhr ich fort. „Ich verstehe das nicht…“
„Ich konnte dir nichts geben, Fanny.“
„Was?“ Ich begriff nicht, was sie meinte. „Wieso?“
Sie beugte sich näher zu mir, so nah, dass mir schwindelig wurde. „Du hast keine Ahnung wie schwierig mein Leben ist“, sagte sie so leise, dass ich bei dem Lärm um uns herum Mühe hatte, sie zu verstehen. „Fanny, du hast etwas, was nicht viele Menschen haben. Vielleicht weißt du das nicht genug zu schätzen. Du hast eine Arbeit, die dir Spaß macht. Du bist mit einem Mann zusammen, den du liebst. Du lebst in einer Stadt, in der du dich wohlfühlst und wo du viele Leute kennst… Ich hingegen werde immer ein Nomadenleben führen. Ich werde nie einen normalen Alltag haben... Und ich lebe mein Leben im Verborgenen... Ich kann niemandem zeigen, mit wem ich zusammen bin… Du hast keine Ahnung, wie schwer das ist... und was für eine Angst ich habe..."
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das waren alles Gründe, warum ich versucht hatte, Caroline zu vergessen. Aber trotz allem saß ich jetzt hier und sah sie an und wusste, dass ich mich noch nie zu einem Menschen so hingezogen gefühlt hatte.
„Gibt es hier jemanden in deinem Leben?", fragte ich nach einer Weile.
Sie schüttelte den Kopf. "Nein."
"Gibt es irgendwo anders jemanden?"
„Nein.“
Ich atmete tief durch. „Ich bin nicht nach Berlin gekommen, um eine Freundin zu besuchen“, gestand ich. „Sondern weil ich nicht aufhören kann, an dich zu denken.“
„Fanny…“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe dir doch gerade erklärt…“
„Ja, das habe ich verstanden“, unterbrach ich sie. „Aber ich bin jetzt hier. Verstehst du? Ich bin hier.“
Sie hielt inne und sah mich an. Erst in diesem Moment begriff ich, dass es auch für sie noch nicht vorbei war.
Ich wollte etwas sagen, aber kein Ton kam aus meiner Kehle. Ich kämpfte gegen einen unbändigen Drang an, sie zu berühren, sie zu beruhigen, ihr die Angst zu nehmen, ihr zu zeigen, wie liebenswert sie war. Meine Augen wanderten langsam zu ihrem Mund, und ich dachte an den Moment im Schnee, als wir uns geküsst hatten, wie von Sinnen.
„Gehen wir noch zu mir?“
To be continued....