Teil 10
Mit jedem Schritt, den Carla weiter den Weg entlangging, wurde sie etwas sicherer. Nach kurzer Zeit hatte sie ihr Ziel erreicht. Hinter einer kleinen Baumgruppe, etwas abseits und versteckt, konnte sie ihn sehen, den Grabstein ihres Vaters. Nur noch wenige Schritte, dann stand sie davor, ein leeres Grab, geschmückt mit ei-nem schlichten Grabstein. Carla trat näher heran. Ein paar Blätter von den umstehenden Bäumen hatten sich bereits auf den Blumen auf dem Grab verfangen. Carla kniete sich nieder. „Hallo Vater.“ Sie zupfte die welken Blätter vom Grabschmuck und legte die weisse Rose nieder. Sie wusste, das Grab war leer. Der Leichnam ihres Vaters war nach dem Flugzeugabsturz über dem Atlantik noch immer nicht gefunden worden. Man würde ihn wahrscheinlich auch nie finden. Trotzdem war sie froh, dass es ein Grab gab, ein Ort, an dem sie trauern konnte und wo sie sich ihrem Vater nah fühlte.
„Es tut mir leid, dass ich schon lange nicht mehr hier war. Aber in letzter Zeit hatte ich für fast nichts mehr Zeit. Nicht einmal mehr Zeit für meine Liebsten, Sophia und Stella. Seit Mutter wieder aufgetaucht ist, ist alles an-ders. Sie hat mir die Leitung der Holding entzogen und Ansgar zum Geschäftsführer gemacht. Und nun lässt er keine Gelegenheit aus, mich ständig zu schikanieren und terrorisieren.“ Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus und es tat gut, sich mal alles von der Seele zu reden. Auch ihre Gefühle konnte sie nicht mehr länger zurückhalten und so liess sie ihren Tränen freien Lauf. „Ich vermisse dich so sehr. Ich vermisse deinen guten Ratschläge, deinen Schulter zum Anlehnen, deine tröstenden Worte, einfach alles.“ Carla schluchzte nun hemmungslos.
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Stella trat durch das schmideiserne Tor und betrat den Friedhof. Sie wusste, wo sie Carla finden würde. Auf dem Weg zum Grab des Grafen Johannes von Lahnstein begegnete sie nicht vielen Leuten. Als sie näher kam, verlangsamte sie ihre Schritte. Sie wollte Carla nicht erschrecken oder sie in einer intimen Situation überra-schen. Sie vernahm die leise Stimme von Carla und mit jedem Schritt, den sie näher kam, konnte sie deren Worte deutlicher verstehen. „Ich vermisse dich so sehr. Ich vermisse deinen guten Ratschläge, deinen Schulter zum Anlehnen, deine tröstenden Worte, einfach alles.“ Carlas Schultern bebten, woraus Stella schloss, dass diese weinte. Sie wollte sich aber noch nicht zu erkennen geben, nicht jetzt, wo Carla ihr Innerstes nach aus-sen gekehrt hatte und sich unbeobachtet fühlte. So blieb Stella ein wenig versteckt hinter einer Baumgruppe stehen.
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Langsam liessen die Tränen nach. Carla atmete tief durch. „Ich wollte mich eigentlich nicht so gehen lassen, aber es kam einfach über mich. Es gibt da noch etwas anderes, worüber ich mit dir reden wollte. Ich habe dir ja bereits von Stella erzählt. Sie ist neben Sophia der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie war es auch, die in den letzten Wochen für mich da war. Sie ist meine Stütze, mein ruhender Pol, bei dem ich Kraft schöpfen kann und der mir hilft, die hässlichen Szenen mit Ansgar und unserer Mutter zu vergessen. Aber vor einer Wo-che hätte ich sie beinahe verloren.“ Beim Gedanken daran traten Carla wieder Tränen in die Augen. „Und da wurde mir klar, dass ich so nicht weitermachen kann, so nicht weiterleben will. Und deshalb werde ich den Kampf um die Holding aufgeben. Ich weiss, du bist jetzt wahrscheinlich enttäuscht von mir, weil ich dein Le-benswerk aufgebe. Aber ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr und ich will auch nicht mehr. Die Kon-sequenzen würden zu schwer zu tragen sein. Und dass wäre auch die Holding nicht wert.“ Carla seufzte und wischte sich mit dem Jackenärmel die Tränen vom Gesicht.
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Stella hatte schweigend zugehört und auch ihr waren beinahe die Tränen gekommen. Sie trat hinter dem Baum hervor und war mit wenigen Schritten bei Carla. Diese vernahm ein Rascheln hinter sich und sie erhob sich schnell. Doch noch bevor sie sich umdrehen konnte, spürte sie zwei Arme, die sie von hinten umarmten. „Car-la…“, hauchte ihr Stella ins Ohr. Carla zuckte leicht zusammen, teils aus Überraschung, teils aus Schreck, doch als sie Stellas Stimme vernahm, entspannte sie sich augenblicklich und lehnte sich an ihre Freundin. „Woher weißt du, wo ich bin? Und wie hast du mich hier gefunden?“ „Elisabeth hat mir einen Tipp gegeben. Als sie dich so traurig sah, ahnte sie, dass du auf dem Weg zum Friedhof bist. Sie meinte, dich überkommt jedes Mal diese Traurigkeit, wenn du zum Grab deines Vaters gehst. Und dann hat sie mir noch den Weg hierher beschrieben. Ich dachte, du solltest hier nicht allein sein.“ „Es ist schön, dass du da bist.“ Carla schloss die Augen und vergass einen Moment lang, wo sie waren. Sie hörte die Vögel zwitschern und der Wind raschelte im Laub, während sie sich an Stella lehnte und ihre Wärme und ihren Duft genoss.
„Sei mir nicht böse, aber ich habe etwas gelauscht“, gestand nun Stella. „Ich wollte dich nicht stören.“ „Das ist schon ok. Ich habe schliesslich keine Geheimnisse vor dir.“ Nach einem Moments des Schweigens sagte Stel-la: „Ich weiss, wie du dich fühlst. Mein Vater ist ja leider auch schon gestorben. Aber ich bin mir sicher, dein Vater ist stolz auf dich, wie du für die Holding gekämpft hast. Und er hätte sicher nicht gewollt, dass du unter der Situation zu leiden hast. Deshalb denke ich auch, er ist nicht enttäuscht von dir. Er hätte gewollt, dass du dein Leben geniesst.“ Eine einzelne Träne kullerte über Carlas Wange. Stella strich sie mit dem Finger sanft weg. „Danke. Danke, dass du hier bei mir bist, danke, dass du mich nie aufgegeben hast und auch danke, dass du immer zu mir hältst. Ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch.“ Stella zog Carla zu sich heran und ihre Lippen trafen sich zu einem Kuss.
„Eigentlich bin ich ja gekommen, um mich von meinem Vater zu verabschieden“, meinte Carla, als sich ihre Lippen widerwilliger voneinander gelöst hatten. „Wenn ich Düsseldorf mit dir verlasse, werde ich wahrscheinlich in nächster Zeit kaum die Möglichkeit haben, hierher zu kommen.“ Stella schaute Carla überrascht an. „Heisst dass, das du meinen Vorschlag annimmst? Dass wir irgendwo neu anfangen?“ „Ja, genau dass soll das heis-sen.“ Carla blickte in Stellas strahlendes Gesicht und wusste, dass dies die richtige Entscheidung war. „Ich freu mich ja so.“ Stella fiel Carla um den Hals und die beiden umarmten sich. Als sie sich voneinander lösten meinte Carla: „ Komm, lass uns gehen. Wir haben noch viel zu planen.“ Mit einem letzten Blick auf den Grabstein ver-abschiedete sich Carla von ihrem Vater. „Auf Wiedersehen Vater.“ Stella griff nach Carlas Hand. „Ich bin mir sicher, dass er deine Entscheidung akzeptiert.“ Carla nickte und die beiden schlenderten Hand in Hand den Weg zurück Richtung Parkplatz.
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