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BeitragVerfasst: 03.09.2011, 09:23 
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Sind ja immer recht große Häppchen, damit kann man gut leben :wink:
Na dann lass Deiner Kreativität mal freien lauf jetzt am WE, freu mich auf die Fortsetzung :mrgreen:


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Verfasst: 03.09.2011, 09:23 


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BeitragVerfasst: 03.09.2011, 11:57 
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danke schön.

(weiter .-)

sabam

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ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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BeitragVerfasst: 03.09.2011, 17:02 
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Okay, danke! Hier kommen noch mehr Häppchen :) .

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BeitragVerfasst: 03.09.2011, 17:04 
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* * *



Anna umklammerte fest das Steuerrad ihres Fiats, als sie auf dem Weg zur Klinik in einen Stau geriet. Sie war spät dran, und der Tag hatte schon schlecht angefangen. Was hatte sie nur geritten, mit Henning noch vor der Arbeit ein Klärungsgespräch führen zu wollen? Sie wusste doch, was für ein Morgenmuffel er war. Schon nach zwei Minuten hatten sie sich in den Haaren gehabt, und schließlich hatte er wütend aufgelegt.

Anna seufzte, als sie ihren Wagen endlich wieder in Bewegung setzen konnte. Manchmal fragte sie sich, was sie noch in dieser Beziehung hielt. Schon mehrfach hatten Freunde sie gefragt, wo ihre Fröhlichkeit und Unbekümmertheit geblieben war. Anna wusste, dass sie mit ihren Fragen Recht hatten, aber sie war sich nicht sicher, ob sie Henning dafür verantwortlich machen konnte. Vielleicht war es auch der Klinikalltag, all die kranken Menschen um sie herum und der anstrengende Schichtdienst. Sie liebte ihre Arbeit, aber sie vermisste die Spontaneität und die Freude von früher, und sie hatte keine Idee, wie sie das Verlorengegangene zurückholen konnte. Das Leben war ernster geworden, routinierter und grauer. Es gab Tage, da sah sie sehnsüchtig auf die jungen Patienten in der Klinik, die trotz ihrer zum Teil schweren Erkrankungen so viel Lebendigkeit und Neugierde auf die Welt ausstrahlten, und für die jeder Tag ein neues Abenteuer bedeutete.

Die Presse belagerte nach wie vor den Haupteingang, als Anna zehn Minuten zu spät auf den Parkplatz des Klinikums einbog. Einige Reporter hatten sich schon häuslich eingerichtet und verzehrten genüsslich ihr Frühstück, während sie mit den Sicherheitsbeamten plauderten. Gestern war verlautet worden, dass Professor Ellert heute um 13 Uhr eine Pressekonferenz geben würde, weshalb Anna hoffte, dass die Lage sich am Nachmittag entzerren würde. „Was für ein Leben“, murmelte sie, als sie an die Ministerfamilie dachte. Was hatte man von so viel Macht und Geld, wenn man nie ungestört war?

Anna warf einen Blick in ihren Rückspiegel, bevor sie das Auto verließ. Sie sah übermüdet aus, befand sie. Ihre schulterlangen, braunen Haare hatte sie schon im Bad zu einem Zopf zusammengebunden, weil diese dazu tendierten, ihre Spannkraft zu verlieren, wenn sie zu wenig geschlafen hatte. Lediglich die kleine Stupsnase, die ihr frech entgegen sah, verlieh ihrem Gesicht etwas Vorwitziges und Frisches. Anna streckte ihrem Spiegelbild die Zunge entgegen. Vielleicht war sie einfach urlaubsreif.

Annas Idee, schneller in die Klinik zu gelangen, indem sie einen Nebeneingang benutzte, erwies sich als naiv. Vor sämtlichen Eingängen standen inzwischen Sicherheitskräfte und niemand, ob Personal, Patient oder Besucher, durfte das Gebäude betreten oder verlassen, ohne seinen Ausweis vorgezeigt zu haben. „Auch das noch“, seufzte Anna, als sie sich in die Schlange vor dem Eingang einreihte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, vor der Visite noch einmal nach der kleinen Sonja zu schauen, aber daran war nun nicht mehr zu denken.

Kaum hatte sie das Gebäude betreten, kam Schwester Michaela auf sie zugeeilt. „Guten Morgen, Frau Dr. Nolte. Der Professor möchte, dass Sie sich umgehend bei ihm melden.“

Oh je. Anna hatte schon befürchtet, dass sie früher oder später zum Chef zitiert würde. „Hat er gesagt, worum es ging?“

Schwester Michaela schüttelte den Kopf. „Um die Ministergeschichte, nehme ich an. Darum scheint sich ja seit gestern alles zu drehen.“

„Okay, danke.“ Anna lief zu ihrem Spind, um sich rasch umzuziehen und machte sich dann auf zum Professor.

„Nein, ich kann Ihnen leider keinerlei Auskünfte geben. Warten Sie bitte die Pressekonferenz um 13 Uhr ab“, hörte sie Frau Schmidt in ihr Headset flöten. Als die Sekretärin sie entdeckte, machte sie ihr ein lautloses Zeichen, dass sie beim Ellert klopfen sollte. „Nein, da muss ich Sie um Geduld bitten, mein Herr…“

Anna war ziemlich mulmig zumute, als sie zaghaft an die Tür ihres Chefs klopfte. Hoffentlich nahm er ihr nicht übel, dass sie sich um die Mutter seiner Patientin gekümmert hatte. „Herein!“, rief eine sonore Stimme von drinnen. Anna holte tief Luft und wappnete sich innerlich für die Tirade, die möglicherweise auf sie hereinbrechen würde.

„Guten Morgen, Frau Dr. Nolte.“ Der Professor saß am Schreibtisch und sah über seine Lesebrille zu ihr herüber. „Setzen Sie sich.“ Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Ihnen ist sicher aufgefallen, dass die Sicherheitsvorkehrungen verschärft wurden“, ging er gleich in medias res, als sie Platz genommen hatte. „Deswegen existiert nun eine Liste darüber, wer dazu befugt ist, mit Sonja von Bentheim und ihren Eltern Kontakt aufzunehmen.“ Er kratzte sich am Kopf. „Um das Prozedere zu vereinfachen, tragen die Kontaktbefugten ein spezielles Schild mit einem violetten Punkt.“

Anna folgte seinem Blick auf die Schilder, die sauber untereinander aufgereiht auf seinem Schreibtisch lagen. Überrascht registrierte sie, dass auch ihr Name dabei war.

„Frau von Bentheim hat darum gebeten, dass Sie uneingeschränkten Zugang zum Zimmer 8 bekommen“, sagte Professor Ellert nach einer Pause. „Sie sagte mir, Sie würden sich kennen.“

„Ja flüchtig, aber…“

„Mir ist völlig egal, was Sie beide da miteinander haben“, unterbrach er sie. „Aber ich werde den Teufel tun und mich den Wünschen der Ministerfamilie widersetzen. Sie sind also Teil des Teams.“ Er nahm ihr Schild aus der Reihe und stand auf, um es an ihrem Kittel zu befestigen. „Folgende Regeln sind insbesondere zu beachten“, fuhr er fort: „Erstens, Sie bewahren absolutes Stillschweigen über alles, was die Familie angeht, egal, wer auf Sie zukommt und welche Summe man Ihnen anbietet. Zweitens, Sie erstatten mir sofortigen Bericht über alles, was Ihnen relevant erscheint. Drittens, Sie begeben sich unverzüglich zur Patientin bzw. ihren Eltern, sobald Sie angepiept werden. Viertens, Sie sind nicht in der medizinischen Zuständigkeit und überschreiten nicht Ihre Kompetenzen. Ihre Aufgabe ist es, der Familie beratend zur Seite zu stehen, wann immer sie es wünscht, und medizinische Anliegen sofort an mich weiterzuleiten.“ Er klopfte ihr auf den Rücken. „Haben wir uns verstanden?“

„Ja, natürlich, Professor Ellert.“

„Dann wünsche ich Ihnen einen guten Tag.“

Anna wusste, dass sie hiermit entlassen war, aber sie zögerte noch.

„Ist noch etwas?“, fragte er ungeduldig.

„Wie geht es der kleinen Sonja?“

„Bisher ist sie stabil. Morgen werden wir ein weiteres MRT machen, und wenn es gut ausfällt, können wir sie übermorgen aus der Narkose holen.“

„Ich danke Ihnen“, sagte Anna erleichtert und sie meinte damit mehr als nur die Auskunft. „Ich versichere Ihnen, dass ich mein Bestes geben werde.“

Er nickte. „Davon bin ich überzeugt.“



* * *



Anna fühlte sich noch ganz betäubt, als sie mit ihrem Stationsteam in der Visite saß. Uneingeschränkter Zugang, was das wohl heißen sollte. Falls sie nicht vorher angepiept wurde, würde sie auf jeden Fall in der Mittagspause nach der kleinen Sonja sehen.

„Hallo? … Anna?“ Ihre Kollegin Britta stieß sie mit dem Ellenbogen an. „Alles klar bei dir?“

„Ja, wieso?“

„Wir warten auf dich. Du wolltest mit uns über Tim sprechen.“

„Oh.“ Anna warf einen entschuldigenden Blick in die Runde und öffnete Tims Akte. „Ich meine, wir sollten ihn heute von der Intensiv nehmen…“

Anders als sonst üblich nahm sich das Team heute nur eine halbe Stunde Zeit, die Patienten durchzusprechen, bevor es zu den einzelnen Zimmern ging, da die meisten Kollegen später der Pressekonferenz beiwohnen wollten.

„Wie hast du es denn geschafft, ins Spezialteam zu kommen?“, flüsterte Britta Anna zu, während sie im Pulk den langen Krankenhausflur entlangschritten. „Gibt’s da was, was ich wissen sollte?“

Anna zog demonstrativ die Akte der elfjährigen Samira aus dem Hängeregister und vertiefte sich darin. Das Mädchen war mit Verdacht auf Blindarmentzündung eingeliefert worden. „Das ist eine längere Geschichte“, sagte sie, ohne aufzusehen. „Ich erzähle dir später mal davon.“

„Ich komme darauf zurück.“ Britta hob drohend den Zeigefinger.

Zu Annas Erleichterung wurde ihr Gespräch von ihrem Pieper unterbrochen. Ein Blick auf das Display bestätigte ihren Verdacht, dass es um Sonja von Bentheim gehen würde. Sie entschuldigte sich rasch bei Dr. Mehmel und lief die Treppen zum zweiten Stock hinunter.

Auf dem Gang kam ihr Schwester Michaela entgegen. „Haben die ein Glück, dass hier alle unter Schweigepflicht stehen“, raunte sie Anna zu und verdrehte die Augen.

Tatsächlich waren aus dem Zimmer 8 laute Stimmen zu vernehmen. Die tiefe Männerstimme musste die des Ministers sein, aber wieso war er schon hier? Anna warf einen Blick zur Zimmertür. Offenbar war dem Ehepaar nicht bewusst, dass diese nur angelehnt war, so dass das Personal auf dem Flur unfreiwillig mithören konnte. „Nun komme ich schon eher, und nun ist das auch wieder nicht richtig!“, hörte Anna den Minister sagen. „Du kannst doch nicht von mir verlangen, dass ich die Verhandlungen auf der Stelle abbreche. Es ging um Indiens Atompolitik für die nächsten zwanzig Jahre!“

„Mir ist schleierhaft, dass du in so einer Situation überhaupt in einer Sitzung sein kannst. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen“, hörte Anna die Stimme von Frau von Bentheim. Sie klang enttäuscht und bitter. „Jede Verhandlung lässt sich verschieben, die Genesung deiner Tochter nicht.“

„Wenn ich dich darauf aufmerksam machen darf, ich habe die Verhandlungen verschoben.“

„Ja, als die Gespräche mit dem Präsidenten durch waren…“

Anna war es unangenehm, die Auseinandersetzung zwischen den beiden mitzubekommen, aber aufgrund ihrer Absprache mit dem Professor hatte sie jedem Ruf unverzüglich nachzukommen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als diskret an die Zimmertür zu klopfen.

„Ja bitte?“

Carola von Bentheim schien erleichtert, Anna zu sehen. „Frau Dr. Nolte, kommen Sie herein“, sagte sie in einem so freundlichen Tonfall, als hätte die Unterhaltung mit ihrem Mann eben nicht stattgefunden. „Ich möchte Sie meinem Ehemann vorstellen.“

Anna schüttelte Herrn von Bentheim höflich die Hand. „Guten Tag, Herr Minister. Es tut mir sehr leid, was Sie und Ihre Familie in diesen Tagen durchmachen müssen.“

„Wie ich höre, haben Sie meiner Frau ein wenig zur Seite gestanden, dafür danke ich Ihnen“, sagte er in geschäftlichem Tonfall. „Ich bereite mich dann mit Professor Ellert auf die Pressekonferenz vor“, wandte er sich wieder an seine Frau.

„Soll ich dich begleiten?“

„Nein, das brauchst du nicht. Außerdem kommt es bei den Leuten besser an, wenn ich sage, dass du am Bett unserer Tochter wachst.“

Anna atmete tief durch. Männer reagierten oft sehr rational und abgespalten, wenn ihren Kindern etwas zustieß, aber dieser Vater war ein besonders hartnäckiges Exemplar. Am liebsten hätte sie ihn an den Schultern gepackt und geschüttelt, aber sie hatte in ihren Jahren als Ärztin gelernt, sich zu beherrschen, zumindest während der Arbeitszeit.

Carola von Bentheim sah ihrem Mann fassungslos hinterher, als dieser den Raum verließ. „Ich verstehe nicht, wie er unsere Tochter so allein lassen kann“, flüsterte sie.

Nicht nur seine Tochter, dachte Anna im Stillen. „Er braucht sicher noch Zeit“, versicherte sie und setzte sich neben Frau von Bentheim, als diese auf ihrem Bett Platz genommen hatte. „Wie war Ihre Nacht?“, erkundigte sie sich. „Haben Sie ein wenig schlafen können?“

Frau von Bentheim nickte. „Ich war brav und habe gemacht, was Sie gesagt haben“, berichtete sie und wies auf das leere Medikamentendöschen. „Und ich habe tatsächlich ein bisschen schlafen können.“

„Wie viel?“

„Zwei bis drei Stunden.“

„Das ist besser als nichts“, stellte Anna lächelnd fest. „Und wie ich höre, ist Sonjas Zustand stabil.“

„Sie ist so kalt“, sagte Frau von Bentheim leise und nahm die kleine Hand ihrer Tochter. „Das macht mir Angst.“

„Wenn das MRT morgen gut ausfällt, wird ihre Temperatur sicher wieder angehoben werden.“

„Und wenn nicht?“

„Dann wird Professor Ellert entscheiden, wie er weiter vorgehen wird.“

„Und da sagt man, Politiker würden immer so vage Aussagen machen“, seufzte Frau von Bentheim. Sie wechselte zum Bett ihrer Tochter und streichelte die kleine Hand. „Glauben Sie an Gott?“

„Nein.“

„Hm.“ Frau von Bentheim strich ihrer Tochter vorsichtig eine verklebte Locke aus der Stirn. „Ich auch nicht…“

Anna sah diskret auf ihre Armbanduhr. In einer Viertelstunde stand ein Termin mit Tims Eltern an, und sie hatte immer noch nicht wirklich verstanden, warum Frau von Bentheim sie hatte rufen lassen. „Kann ich noch irgendetwas für Sie tun, Frau von Bentheim?“

Die Ministergattin sah erschrocken auf. „Ich halte Sie auf mit meinen Fragen, entschuldigen Sie. Es ist nur… ich muss dringend ein paar wichtige Telefonate führen, und mir wurde gesagt, dass ich das nicht hier im Zimmer tun sollte. Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie die Hand meiner Tochter halten könnten, während ich draußen telefoniere.“

„Selbstverständlich.“

„Das ist schön.“ Frau von Bentheim lächelte, und wie damals vor zwei Jahren hatte Anna das Gefühl, dass es den ganzen Raum erhellte. „Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann.“

Anna und Frau von Bentheim tauschten die Plätze, und dann verschwand diese aus dem Zimmer. Anna hörte das Klappern ihrer Schuhe auf dem Gang, bis sie, vermutlich an der Tür zum Innenhof, stehen blieb. „Ja, guten Tag, von Bentheim hier. Es geht um die Charity-Veranstaltung am Freitag, ich möchte Sie bitten, sich deswegen mit meiner Sekretärin in Verbindung zu setzen…“

Anna schüttelte verwundert den Kopf. Die Frau, die da draußen im Businesston telefonierte, hatte so gar keine Ähnlichkeit mit der liebevollen Mutter, die eben noch am Krankenbett ihrer Tochter gewacht hatte. Wie machte Frau von Bentheim das nur? Anna selbst war viel zu gerade heraus und spontan, um sich so verstellen zu können. Sie sagte öfter mal die falschen Sachen und hatte dann schon in ihrem Freundeskreis Probleme, diese wieder auszubügeln. Wie wäre das erst, wenn sie in der Öffentlichkeit reden müsste, wo jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wurde! Anna hörte, wie Frau von Bentheim auf dem Flur mit verschiedenen Leuten telefonierte und dabei ohne jede Emotion den Unfall ihrer Tochter erwähnte und um Verschiebung von Terminen bat. Wie konnte man auf der einen Seite so liebevoll und auf der anderen Seite so kühl sein?

Nach etwa zehn Minuten kam Frau von Bentheim wieder zurück ins Zimmer. „So, jetzt ist mir wohler, vielen Dank“, sagte sie lächelnd, als sie sich wieder neben Anna setzte. „Das lag mir schon den ganzen Vormittag auf der Seele.“

„Gern geschehen. Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?“

„Ja, da wäre noch etwas…“ Frau von Bentheim sah vor sich auf den Fußboden. „Mein Mann muss übermorgen wegen eines wichtigen Termins nach Brüssel… Ich möchte aber nicht allein sein, wenn Sonja aufwacht…“

„Wäre es Ihnen lieb, wenn ich dabei bin?“

Frau von Bentheim hob ihren Blick. „Ja… das wäre gut.“

Und auf einmal waren die blauen Augen viel zu nah, das schöne Gesicht, der Mund, alles, und Anna spürte wie aus weiter Ferne, dass Frau von Bentheim ihre Hand nahm und sie sanft drückte. „Ich danke Ihnen herzlich, Anna.“




Kapitel 4



Carola von Bentheim lag auf dem Rücken in ihrem Krankenhausbett und starrte an die Decke. Ihr rechter Arm ruhte ausgestreckt auf dem Bett ihrer Tochter und ihre Hand umfasste Sonjas dünnes Ärmchen, das sie ab und zu zärtlich streichelte. Noch immer war der kleine Körper umgeben von Schläuchen und Monitoren, aber ungeachtet dessen machte Sonja den Eindruck, als ob sie nur für einen Moment friedlich schlummerte.

Draußen war es endlich hell geworden, und Carola wusste, dass sich in wenigen Stunden herausstellen würde, ob ihre Tochter die Chance hatte, jemals wieder gesund zu werden. Ihr Magen krampfte sich schon zusammen, sobald sie nur an den Moment dachte, wenn die Geräte nach und nach abgeschaltet würden, um zu prüfen, ob Sonjas kleiner Körper wieder selbst die Regie übernehmen konnte. Die letzten drei Tage waren mit Abstand die schlimmsten ihres ganzen Lebens gewesen, und manchmal wunderte Carola sich, dass sie überhaupt noch bei Sinnen war. Es hatte Momente gegeben, da war sie überzeugt gewesen, sie könnte es keine Minute länger ertragen und sie würde auf der Stelle verrückt werden. Aber auch diese Momente waren vorübergegangen.

Anna Nolte hatte ihr geraten, sich nicht zu viele Gedanken darüber zu machen, was alles schief gehen könnte. Letztlich sei das Gehirn so komplex, dass es unmöglich sei vorherzusagen, wie es um Sonja stehen würde, wenn sie aufwachte. Es war ein guter Rat gewesen, denn Carola hatte schon bald gemerkt, wie unproduktiv und lähmend es war, sich die möglichen Schädigungen auszumalen. Wenn es soweit war, würde sie handeln. Anna hatte ihr auch geraten, nicht gleich in Panik zu verfallen, wenn Sonja sie nicht erkennen würde. Das Gehirn brauche eine Weile, bis es wieder normal arbeiten würde, und aus den ersten Minuten nach dem Aufwachen ließe sich wenig schlussfolgern.

Carola war so dankbar über die Anwesenheit der jungen Ärztin. Ohne sie wäre sie vielleicht wirklich verrückt geworden. Sie kam immer im richtigen Moment vorbei, um nach ihr zu sehen. In den dunkelsten Stunden, wenn Carola das Gefühl hatte, es sei alles verloren, stand sie auf einmal vor ihr und sprach sie freundlich an, gab Ratschläge und Trost. Schon bei ihrer ersten Begegnung in ihrem eigenen Hause war Carola aufgefallen, dass Anna Nolte ein sehr offenes, positives Wesen hatte, und das zeigte sich auch hier. Sie strahlte stets Optimismus aus, und Carola gelang es zuweilen, sich davon anstecken zu lassen. In ihrem Privatleben war Anna sicher ein bisschen quirlig und hatte bestimmt gern Leben um sich herum. „Ich hätte dich gern unter anderen Umständen kennengelernt, Anna Nolte“, murmelte Carola, aber ihr war nur zu bewusst, dass sie jemanden wie Anna unter anderen Umständen nie und nimmer kennengelernt hätte.

Ob es eine schlechte Idee gewesen war, der Ärztin das „Du“ anzubieten? Immerhin standen sie in einem professionellen Verhältnis zueinander. Aber Carola hatte das Gefühl gehabt, dass das gestelzte „Sie“ nicht mehr passte. Die Situation war so entsetzlich, dass keine Fassade mehr da war, auf die sie zurückgreifen konnte. Sie war nur noch Mensch, und manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihre Seele ausgebreitet vor ihr lag. Doch Anna war immer behutsam und fand die richtigen Worte, um sie wieder aufzurichten. Und manchmal hatte Carola das Gefühl, dass auch Anna nur als Mensch neben ihr saß und mit ihr hoffte und bangte. Oder wo sonst kam die Nähe her, die sie zu ihr fühlte?

Jetzt ging das wieder los. Carola presste ihre Handballen an die Augen und schüttelte den Kopf. Nein, nein, nein. Und nochmals nein. Es gab einen Winkel in ihr, da wollte sie nie wieder hinkommen, nie wieder. Es war ein Teil von ihr, den sie tief vergraben hatte, schon vor vielen Jahren, so tief, dass niemals wieder jemand vorbeikommen und ihn wecken würde. Und nun war es doch geschehen. Und wenn Carola ehrlich mit sich war, musste sie sich eingestehen, dass es schon bei ihrer ersten Begegnung vor zwei Jahren geschehen war. Doch sie hatte gewusst, was zu tun war, und sich ferngehalten. Und es wäre besser gewesen, wenn sie sich auch jetzt ferngehalten hätte, aber dazu war es nun zu spät.




To be continued...

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Zuletzt geändert von kimlegaspi am 12.09.2011, 20:01, insgesamt 3-mal geändert.

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BeitragVerfasst: 03.09.2011, 17:19 
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Wo's, langsam nimmt die Story richtig fahrt auf.
Was mag wohl der dunkle Winkel Carola's sein, oder sollte ich lieber fragen wer?
Wieder 2 tolle Häppchen, danke sehr.


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BeitragVerfasst: 03.09.2011, 17:36 
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kimlegaspi hat geschrieben:
Okay, danke! Hier kommen noch mehr Häppchen :) .


Oh, ich finde deine Häppchen toll Kim!
Also ich nehme auf jeden Fall gerne mehr davon!

Danke für die tolle Story!

LG sunny


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BeitragVerfasst: 03.09.2011, 18:15 
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... puhh, tief durchatmen tiefgang, tief durchatmen, arme kleine Sonja mit ihrer sehr besorgten und alleingelassenen Mutter ...



Kim, du hast es wieder geschafft, hier eine Soap zu zaubern die mich so richtig mitreißen kann. Ich bin besorgt um die kleine verletzte Sonja, leide mit ihrer einsamen und hilflosen Mutter am Krankenbett mit und bin verzaubert von Fr. Dr. Nolte, die sich einfühlsam und klug um die sonst so starke Fr. von Bentheim kümmert. :danke:


LG


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BeitragVerfasst: 03.09.2011, 19:47 
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Wieder mal SUPER schön geschrieben.....
Ich denke das in der vergrabene ecke eine Frau dahinter steckt und
freu mich auf eine Fortsetzung...


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BeitragVerfasst: 03.09.2011, 22:08 
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kann mich nur anschließen und freue mich sehr auf die weiteren Teile..Ich liebe deine Geschichten!

:danke: :bigsuper: :freu: :klatsch:


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BeitragVerfasst: 03.09.2011, 22:58 
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kimlegaspi hat geschrieben:
... Und es wäre besser gewesen, wenn sie sich auch jetzt ferngehalten hätte, aber dazu war es nun zu spät.


hihi ... .-)
danke.

sabam

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um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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BeitragVerfasst: 05.09.2011, 09:13 
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:danke:


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BeitragVerfasst: 11.09.2011, 16:36 
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Ganz vielen Dank, ihr Lieben! Ihr seid toll!!! :danke: :danke: :danke: . Der nächste Happen ist leider etwas lang geraten - weiß auch nicht, was mich da geritten hat, aber irgendwie kriege ich ihn jetzt nicht kürzer. Aber ab dann sollte es etwas verdaulicher werden :).

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BeitragVerfasst: 11.09.2011, 16:38 
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Als Anna Nolte um acht Uhr morgens an die Tür klopfte, war Carola schon seit zwei Stunden angezogen. Ab fünf Uhr war sie unruhig im Zimmer auf- und abgelaufen, bis sie schließlich entschieden hatte, ihren Skizzenblock aus dem Schrank zu holen und zu zeichnen. Aus der Erinnerung heraus skizzierte sie eine Szene, die sich am Tag vor dem Unfall bei ihnen im Garten abgespielt hatte. Sonja war es gelungen, einen Marienkäfer auf ihren Finger zu locken, und ihr ganzes Gesicht hatte gestrahlt vor Entzücken über den kleinen Käfer.

„Du zeichnest?“ Anna schloss leise die Tür hinter sich. „Darf ich mal sehen?“

"Natürlich." Carola reichte ihr das Porträt. „So war sie am Tag vor dem Unfall“, erklärte sie, als Anna sie fragend ansah. „Es fühlt sich an, als sei es Jahre her.“

Die Ärztin konnte die Augen gar nicht abwenden von dem Bild. „Das ist unglaublich“, sagte sie kopfschüttelnd. „Wo hast du so Zeichnen gelernt?“

„Auf der Kunsthochschule“. Carola lächelte. „Ich habe als Kuratorin gearbeitet, bevor ich Matthias kennengelernt habe.“

„Du hast deinen Beruf aufgegeben?“

„Nicht sofort, aber es stellte sich bald nach unserer Hochzeit heraus, dass meine Arbeit nicht mit den permanenten Auslandsreisen von Matthias vereinbar war“, erzählte Carola und war selbst erstaunt über die Wehmut in ihrer Stimme. „Wir haben uns überhaupt nicht mehr gesehen, so dass ich eines Tages beschlossen habe, ihn öfter auf seinen Reisen zu begleiten. Das wiederum war mit meiner Arbeit als Kuratorin nicht zu vereinen.“

„Ist es dir schwergefallen, dich von deiner Arbeit zu verabschieden?“, fragte Anna interessiert.

„Ja...“ Carola blickte gedankenverloren auf ihre Zeichnung. „Aber meine Beziehung war mir wichtiger.“

Anna gab ihr den Skizzenblock zurück. „So richtig glücklich scheinst du mit der Entscheidung aber nicht zu sein.“

„Nein.“ Carola strich mit den Fingerkuppen über die fein gezeichneten Linien. „Jetzt wo ich darüber nachdenke, merke ich, wie sehr mir das Zeichnen fehlt. Aber es mangelt einfach an Zeit.“

„Wenn es dir guttut, solltest du es wieder öfter tun. Dann muss eben Zeit dafür sein“, befand Anna. „Gerade jetzt in dieser schweren Zeit.“

„Vielleicht hast du Recht.“ Carola legte den Skizzenblock zur Seite und ergriff die Hand ihrer Tochter. „Ist Professor Ellert schon im Hause?“

„Ja, ich habe ihn bereits gesehen. Er wird sicher jeden Moment kommen.“

Sofort krampfte sich Carolas Magen zusammen. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe“, gestand sie.

Anna stand auf und ging zum Fenster. „Um ganz ehrlich zu sein, würde ich dir empfehlen, draußen zu warten, während die Geräte ausgesetzt werden. Manchmal läuft nicht alles glatt, und wir müssen Maßnahmen ergreifen. Sonja würde es nicht mitbekommen, aber dir würden diese Bilder dein Leben lang in Erinnerung bleiben. Wichtiger ist, dass du da bist, wenn sie aufwacht, denn dann braucht sie dich.“

Carola fixierte die grauen Quadrate auf dem Klinikfußboden. „Bleibst du bei ihr?“

„Wenn du möchtest, werde ich die ganze Zeit dabei sein. Professor Ellert hat sicher nichts dagegen.“

Carola war sich unsicher, ob sie Annas Rat folgen sollte, aber schließlich siegte doch die Vernunft. „Gut, wir machen es wie du sagst“, beschloss sie und streichelte den Arm ihrer Tochter. „Ich sehe es noch vor mir, wie wir die Zwiebelwickel für sie gemacht haben“, sagte sie wehmütig. „Und sie haben so prächtig geholfen.“

Anna lachte leise. „Ja, das war eine ziemlich verrückte Situation. Man steht ja nicht jeden Tag in der Küche des Außenministers und heult sich die Augen aus.“

Carola musste lächeln bei der Erinnerung. Obwohl sie in den letzten Tagen viel Zeit mit der Ärztin verbrachte hatte, war die erste Begegnung zwischen ihnen nie Thema gewesen. „Mir hat es Spaß gemacht“, gestand sie und fragte sich, warum es sich anfühlte, als wäre das etwas Unrechtes.

„Mir auch.“ Anna wandte ihr Gesicht vom Fenster ab und sah zu ihr herüber. „Kann ich noch irgendetwas für dich tun, Carola? Soll ich dir einen Kaffee bringen lassen?“

Noch ehe Carola antworten konnte, klopfte es an der Tür und der Professor trat mit einer Schwester herein. „Guten Morgen, Frau von Bentheim. Wie geht es Ihnen?“

„Gut, danke.“ Carola schüttelte ihm die Hand. „Ich habe soeben mit Frau Dr. Nolte besprochen, dass ich draußen warten werde.“

„Das ist sicher eine kluge Entscheidung.“ Professor Ellert warf einen prüfenden Blick auf die Monitore. „Dann wollen wir mal“, sagte er. „Wünschen Sie, dass Frau Dr. Nolte Sie nach draußen begleitet, Frau von Bentheim?“

„Nein.“ Carola schüttelte den Kopf. „Ich möchte, dass sie bei meiner Tochter bleibt.“

„Damit bin ich einverstanden.“ Er öffnete ihr die Tür. „Gehen Sie nicht zu weit weg, es wird nicht lange dauern.“

Carola nickte stumm. Für einen Moment befürchtete sie, dass ihre Beine sie nicht tragen würden, aber sie riss sich zusammen, und wenig später stand sie allein im leeren Krankenhausflur. Was sollte sie mit sich anfangen, während die Ärzte drinnen ihre Arbeit taten? Wenn sie doch irgendwo spazieren gehen könnte wie andere Eltern. Doch der Sicherheitsaufwand wäre so groß, dass es ratsamer war, im abgesperrten Bereich der Station zu bleiben. Ob sie Matthias in Brüssel anrufen sollte? Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass er gerade mit dem Kanzler in einer Besprechung sitzen musste. Also öffnete sie die Tür zu dem kleinen Innenhof der Station und setzte sich dort auf einen Gartenstuhl. Es tat gut, die würzige Morgenluft zu riechen. Alles war so wie immer hier draußen, so als würde es die Welt gar nichts angehen, dass drinnen im Zimmer 8 um das Leben ihrer Tochter gekämpft wurde.

Carola schloss ihre Augen und dachte an den Tag, als Sonja geboren wurde. Die Geburt musste eingeleitet werden, da sie schon zwei Wochen über dem Stichtag gewesen war. Offenbar gefiel es der Kleinen so gut im Bauch ihrer Mutter, dass sie keine besondere Eile hatte, die Welt zu erblicken. Doch kaum war sie da, zog sie alle Aufmerksamkeit auf sich, und niemand zweifelte daran, dass dieses Kind ein kleiner Wirbelwind werden würde.

Carola hatte immer wieder ein schlechtes Gewissen gehabt, dass sie sich nicht genügend um Sonja kümmern konnte. Viel zu oft musste sie Termine an der Seite ihres Mannes wahrnehmen, und zuweilen hatte sie den Eindruck, dass das Kind seine Tagesmutter öfter sah als sie. Inzwischen bereute sie diese Entwicklung bitterlich. Wäre ihr bewusst gewesen, wie schnell alles vorbei sein konnte, sie hätte in den vergangenen zwei Jahren andere Entscheidungen getroffen. Ob das Schicksal ihr noch eine zweite Chance geben würde?

„Carola?“

"Ja?" Carola drehte sich um. Sie hatte gar nicht gehört, dass Anna den Innenhof betreten hatte.

„Es ist alles gut gegangen.“ Anna kniete sich neben sie. „Die Stammhirnfunktionen sind in Ordnung, soweit wir es beurteilen können. Sonja atmet von allein.“

„Oh Gott.“ Carola hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut los zu schluchzen.

„Der erste Schritt ist getan“, sagte Anna, selbst mit Tränen in den Augen. „Du kannst nun wieder zu ihr.“

„Ja, gut.“ Carola wischte sich mit ihrem Ärmel die Nässe aus dem Gesicht. „Dann lass uns gehen.“



* * *



Carola setzte sich sofort zu Sonja ans Bett und wartete darauf, dass ihre Tochter aufwachen würde. Doch die Zeit kroch nur so dahin, und je mehr Minuten verstrichen, desto mächtiger wurde Carolas Angst, dass Sonjas Gehirn zu geschädigt sein würde, um ihr je wieder ein normales Leben zu ermöglichen. Zwar versuchte Anna die ganze Zeit Optimismus zu verbreiten, doch Carola war so voller Ängste, dass sie ihr nicht zuhören konnte.

Als Sonja nach endlosem Warten tatsächlich die Augen öffnete, war Carola schon so verkrampft, dass sie sich kaum aufrecht halten konnte. Zunächst irrten Sonjas Augen nur ruhelos umher, und es dauerte mehrere Minuten, bis sie orientierter zu sein schien. Irgendwann, nachdem sie noch einmal eingeschlafen und wieder aufgewacht war, erkannte sie ihre Mutter. Zentnerlasten fielen von Carola ab, als ihre Tochter sie anlächelte. Sie war so erleichtert, dass sie es kaum ertragen konnte, ihren kleinen Schatz nicht in die Arme nehmen zu können. So dicht wie möglich saß sie neben dem Kopfkissen und streichelte und küsste sie immerzu.

Als Anna für einen Augenblick das Zimmer verließ, um den Professor zu rufen, fiel Carola auf, dass Sonja noch kein einziges Wort gesagt hatte. „Sie spricht nicht!“, rief sie panisch, als Professor Ellert mit Anna durch die Tür trat. „Warum sagt sie nichts?“

„Das ist nichts Ungewöhnliches, Frau von Bentheim“, antwortete er ruhig und bat sie, vom Bett aufzustehen. „Wir werden jetzt ein paar Tests durchführen. Sie können dafür gern im Zimmer bleiben.“

Carola machte widerstrebend Platz und sah dem Professor dabei zu, wie er Reflexe und Bewegungen testete. Anstatt ihr das Untersuchungsergebnis mitzuteilen, winkte er Anna zu sich und sprach leise mit ihr. Carola sah beunruhigt von einem zum anderen und versuchte, aus Annas Gesichtsausdruck zu lesen, worum es ging, aber es gelang ihr nicht. Schließlich nickte der Professor Carola zu und verließ den Raum.

„Was ist los?“, fragte Carola, kaum war die Tür ins Schloss gefallen. „Stimmt etwas nicht?“

Anna legte ihr Stethoskop auf den Tisch und lehnte sich an die Fensterbank. „In den ersten Stunden lässt sich noch wenig sagen“, erklärte sie zögernd.

„Was soll das heißen? Was ist denn los?“, fragte Carola mit flehender Stimme. „Anna, du musst mir sagen, was du mit dem Professor besprochen hast. Ich muss es wissen.“

Anna nickte und trat zu ihr ans Bett. „Wir haben Auffälligkeiten in der Motorik gefunden. Aber das kann sich alles in den nächsten Tagen noch ändern.“ Sie legte ihren Arm um Carolas Schultern. „Bitte bedenke, dass Sonjas Genesung Zeit braucht.“

„Was denn für Auffälligkeiten? Lähmungen?“

„Nein, Verlangsamungen in der Nervenleitgeschwindigkeit. Doch das kann alles nur vorübergehend sein.“

Carola atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. „Wird sie Physiotherapie benötigen?“

„Ja, davon ist in jedem Fall auszugehen.“

„Also doch.“ Carola fasste sich an die Stirn. Nahm dieser Alptraum denn nie ein Ende? Am liebsten hätte sie ihre Tochter genommen und aus dem Krankenhaus getragen, bevor noch irgendeine schlechte Nachricht sie erreichen konnte. „Und dass sie nicht spricht?“

„Bleibt zu beobachten.“

„Oh Gott…“ Carola starrte auf den Fußboden. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nehmen sollte, noch weitere Tage der Ungewissheit zu überstehen.

„Carola, bitte.“ Anna kniete sich vor ihr hin und sah ihr fest in die Augen. „Du musst jetzt unbedingt zuversichtlich sein. Wenn du ängstlich bist, wird sich das sofort auf deine Tochter übertragen und ihren Heilungsprozess behindern.“

„Vertrauen war nie meine Stärke.“ Carola fasste sich an die Schläfen.

„Dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, es zu lernen“, lächelte Anna.

„Du gibst wohl nie auf, was?“

„Nein, sonst hat man schon verloren.“

Carola sah sie unverwandt an. Anna war so schön. Die Augen waren blau wie ihre eigenen, aber anders als die ihren hatten sie etwas Katzenhaftes und Undefinierbares, und je nach Lichteinfall konnte sich ein Grau oder Grün darunter mischen. Die Gesichtszüge waren eben und weich, der Mund leicht geschwungen, und die feine Nase reckte sich keck dem Himmel entgegen. Dieses Gesicht strahlte etwas so Aufrichtiges, Warmes und Natürliches aus, und sein Anblick hatte Carola in den letzten Tagen so viel Kraft und Hoffnung gegeben, dass sie Mühe hatte, ihren Blick abzuwenden. „Ich werde mein Bestes geben“, versprach sie und versuchte ein Lächeln. „Ganz sicher.“

„Das ist gut.“ Anna erhob sich wieder. „Das ist sehr gut.“




Kapitel 5



Anna stand am Fenster ihres Büros und schaute nachdenklich auf den Klinikpark. Irgendwo dort unten begleitete Carola von Bentheim ihre Tochter bei ihren ersten Schritten im Park. Ein Teil des Geländes war abgesperrt worden, damit die kleine Sonja nach langer Zeit endlich einmal aus ihrem Krankenzimmer herauskam. Die ersten Tage nach ihrem Aufwachen waren sehr hart und anstrengend gewesen für Mutter und Tochter. Zwar hatte Sonja noch am ersten Abend angefangen zu sprechen, aber ihre Worte waren undeutlich und verwaschen gewesen, so dass umgehend eine Logopädin hinzugezogen wurde. Über das Ausmaß der motorischen Schädigungen gab es erst Klarheit, als die letzten Katheder gezogen waren und Sonja das erste Mal aufstehen durfte. Wie Professor Ellert befürchtet hatte, stellte sich heraus, dass Sonjas Gehirn das Gehen erst wieder lernen musste. Glücklicherweise machte sie in kurzer Zeit große Fortschritte, so dass Professor Ellert beschlossen hatte, Sonja und ihrer Mutter einen Spaziergang im Park zu verschreiben.

Anna lehnte ihren Kopf gegen den Fensterrahmen. In zwei Tagen würde Sonja die Klinik verlassen und zu Hause ihre intensive Rehabilitation fortsetzen. Auf Annas Station würde endlich wieder der Alltag einkehren, doch sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Trotz der erheblichen Mehrbelastung, die die Betreuung der Familie von Bentheim mit sich gebracht hatte, bedauerte Anna die Entlassung. Die kleine Sonja war ihr schnell ans Herz gewachsen, und die Zuneigung schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Sonja strahlte jedes Mal übers ganze Gesicht, wenn Anna das Zimmer betrat und wollte sie gar nicht wieder gehen lassen, wenn sie sich ihren anderen Patienten widmen musste.

Doch mehr noch als die kleine Sonja würde sie Carola von Bentheim vermissen. Die Klinik war wie eine kleine Insel gewesen, auf der eigene Regeln galten, und so hatte sich eine Ebene zwischen ihr und der Ministergattin entwickelt, die einer guten Freundschaft gleichkam. So seltsam es sich anhören mochte, Carola von Bentheim war ihr wichtig geworden. Anna fühlte sich wohl, wenn sie zusammen waren. Nichtsdestotrotz würde Carola schon bald wieder in ihre Welt zurückkehren, und die Nähe, die zwischen ihnen entstanden war, würde dem Alltag weichen müssen.

Anna seufzte, als sie sich vom Fenstersims abstieß. Sie glaubte nicht an überirdische Mächte, aber bei Carola fühlte es sich tatsächlich an, als würden sie sich schon ewig kennen. Vom ersten Moment an waren sie auf einer Wellenlänge gewesen, und vielleicht hätte aus ihrer Begegnung eine echte Freundschaft werden können, wenn Carola nicht die Frau des Außenministers wäre. Möglicherweise empfand sie das ähnlich, denn manchmal sah sie Anna ungewöhnlich lange an, und Anna hatte den Eindruck, dass sie ihr etwas sagen wollte. Aber dann auf einmal veränderte sich Carolas Gesichtsausdruck und sie sprach über irgendetwas Belangloses.

Zu dem Außenminister hatte Anna ein leicht gespaltenes Verhältnis. Er war inzwischen noch zweimal in der Klinik gewesen und verhielt sich ihr gegenüber ziemlich distanziert. Auch wirkte er stets etwas abwesend, als hätte er tausend andere Dinge im Kopf, und in seiner ganzen Art lag etwas seltsam Unverbindliches. Anna war überrascht über diese Entdeckung, denn sie hatte den Minister, obwohl er nicht ihrer favorisierten Partei angehörte, immer geschätzt, ja sogar sympathisch gefunden. Obwohl er ihr nicht im eigentlichen Sinne unsympathisch war, widerstrebte ihr die Feststellung, dass der Minister sich vor der Kamera so ganz anders gab als er im Privaten zu sein schien. Kaum war ein Reporter oder eine Kamera in der Nähe, lebte er auf und zeigte sich als aufgeschlossener, netter Politiker und verständnisvoller Freund der Bevölkerung. Sobald sie jedoch allein im Krankenzimmer waren, wirkte er in sich zurückgezogen und fast kühl. Offenbar überforderte ihn die ganze Situation mit seiner Tochter, und er war froh, dass seine Frau sich so umfassend um sie kümmerte. Immerhin hatte er aber angekündigt - das musste man ihm anrechnen -, sich zwei Tage frei zu nehmen, wenn seine Tochter nach Hause kam.

Annas Gedanken wurden vom Summen ihres Piepers unterbrochen. Der kleine Ausflug der von Bentheims war also zu Ende, und Sonja wollte ihr bestimmt berichten, wie es gewesen war. Inzwischen war ihr Sprechen viel besser geworden und nach Aussagen ihrer Mutter fast schon wieder so wie vor dem Unfall. Trotz dieser sehr positiven Entwicklung war nicht zu übersehen, wie schwer es das kleine Mädchen immer noch hatte. Nach wie vor plagten Sonja Schmerzen von den Quetschungen und Prellungen, und sie bewegte sich nur sehr vorsichtig. Da sie ihrem natürlichen Bewegungsdrang zurzeit nicht nachkommen konnte, wurde sie des Öfteren unzufrieden und quengelig. Anna bewunderte die Geduld, mit der es Carola immer wieder fertigbrachte, ihre Tochter aufzumuntern. Glücklicherweise war Sonja grundsätzlich ein fröhliches Kind, und es brauchte oft nur eine Kleinigkeit, um sie abzulenken oder zum Lachen zu bringen.



* * *



„Seit Tagen läuft Krokodil ruhelos umher. Mal ist ihm kalt, mal ist ihm heiß, mal ist er zu Tode betrübt, mal könnte er die ganze Welt umarmen. Klarer Fall: Krokodil ist verliebt. Aber wie das fast immer so ist, wenn man verliebt ist, gibt es da ein kleines Problem…“

„Diejenige, in die er verliebt ist, ist nämlich Giraffe!“, krähte Sonja und strahlte Anna an.

„Ganz richtig“, lachte Anna und las weiter in Sonjas Buch. „Und Giraffe ist sehr, sehr groß. Das allein hätte Krokodil ja gar nicht gestört. Aber als er Giraffe neulich sein allerschönstes Lächeln schenken wollte, sah sie ihn nicht einmal…“ Anna hob den Kopf und sah zu Sonja, die ihr gebannt zuhörte, wie jeden Abend, wenn sie eine Gutenacht-Geschichte vorgelesen bekam. „Und was tut Krokodil dann?“, fragte sie.

„Er geht auf Stelzen. Damit sie ihn sieht“, sagte Sonja eifrig.

„Genau, sehr gut. Und was passiert dann?“

Sonja schwieg und schien angestrengt nachzudenken.

„Ausgerechnet an diesem Tag ist Giraffe mit dem Fahrrad unterwegs und fährt unter ihm hindurch“, half Carola ihrer Tochter und gab ihr einen Gutenachtkuss. „Und jetzt ist Schluss für heute. Es ist Zeit zu schlafen.“

„Aber morgen fahren wir nach Hause“, maulte Sonja. „Dann kann Anna nicht weiterlesen.“

„Morgen Abend liest dir die Mama vor.“

„Aber Anna soll vorlesen“, beharrte Sonja. „Kann sie nicht mitkommen?“

„Vielleicht kann die Anna uns ja mal besuchen“, schlug Carola vor.

„Au ja.“ Sonja schaute erwartungsvoll zu Anna, die erstaunt zu Carola hinübersah.

„Meinst du das ernst?“, fragte Anna vorsichtig.

„Natürlich.“ Es war das erste Mal, dass sie Carola erröten sah. Sie wandte den Blick von Anna ab und strich ihrer Tochter durch das weißblonde Haar. Eine Weile warteten sie noch, bis Sonja fest schlief, dann standen sie auf und setzten sich an den Tisch am Fenster. Es war der letzte Abend in der Klinik, die Koffer standen schon fertig gepackt neben dem Bett, und Anna hatte eigentlich längst Feierabend. Doch sie konnte sich noch nicht losreißen.

„Anna…“, durchbrach Carola die Stille. „Ich wollte dir schon lange etwas sagen…“

„Ja?“ Anna war überrascht, dass Carolas Stimme leicht zitterte. „Um was geht es?“

Carola holte tief Luft. „Es geht um mich.“

„Um dich? Was meinst du?“

„Ich…“ Carola stand auf und ging zum Fenster. „Ich…“

Das Klopfen der Nachtschwester unterbrach ihre Unterhaltung. „Guten Abend, Frau von Bentheim“, sagte sie, als sie den Kopf zur Tür hereinsteckte. „Professor Ellert lässt Ihnen ausrichten, dass er morgen gegen acht Uhr zu Ihnen kommen wird.“

„Ja, danke. Dann weiß ich Bescheid.“ Carola fuhr sich nervös durch ihre Locken. „Ich möchte heute nicht mehr gestört werden.“

„Selbstverständlich, Frau von Bentheim.“

Anna beobachtete besorgt, wie Carola im Zimmer auf- und abzuschreiten begann. Sie hatte sie noch nie so nervös erlebt. „Was ist denn los, Carola?“, fragte sie, als sich die Zimmertür wieder geschlossen hatte. „Ist es etwas Schlimmes?“

Carola blieb abrupt stehen und sah sie an, als verstünde sie die Frage nicht. „Ach, es ist nichts“, winkte sie ab und setzte sich wieder zurück an den Tisch. „Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du zu Sonjas Geburtstag kommen würdest. Sie wird im nächsten Monat drei Jahre alt.“

Anna hatte Mühe, Carolas Gedanken zu folgen. Eine Geburtstagsfeier? Deswegen war sie so nervös? „Ich fühle mich sehr geehrt, vielen Dank“, sagte sie zögernd. „Aber ich weiß nicht, ob ich so gut hineinpasse in eure… Kreise.“

„Oh, ich meinte nicht zu der offiziellen Feier.“ Carola lächelte. „Ich dachte, dass wir vielleicht den Nachmittag zusammen verbringen könnten. Schließlich haben wir dir und deinen Kollegen zu verdanken, dass Sonja ihren dritten Geburtstag überhaupt erleben wird.“

„Na gut, dann komme ich gern.“ Anna freute sich aufrichtig. Die Vorstellung, einen weiteren Nachmittag mit Carola von Bentheim und ihrer Tochter zu verbringen, machte den Abschied um einiges leichter. „Ich sollte dann wohl mal aufbrechen“, sagte sie ohne große Überzeugung.

„Oh, ich halte dich schon wieder auf“, entschuldigte sich Carola und erhob sich. „Du sollst endlich deinen wohlverdienten Feierabend haben.“

„Ja“, sagte Anna, ohne sich zu rühren.

„Danke für alles, Anna.“ Carola trat zu Anna an den Tisch. In ihren Augen standen Tränen. „Ich werde nie vergessen, was du für uns getan hast.“

„Das war doch selbstverständlich.“ Auch Anna war zum Heulen zumute. Einem plötzlichen Impuls folgend, stand sie auf und schlang die Arme um Carola. „Du wirst mir fehlen“, sagte sie und zog sie fester an sich. „Sehr sogar.“

„Du mir auch“, sagte Carola leise.

Anna löste sich als erste aus der Umarmung. Henning wartete seit zehn Minuten in einem italienischen Lokal auf sie, und sie durfte ihn nicht ein weiteres Mal versetzen. „Ich bin morgen früh in einer Operation, es kann also sein, dass wir uns nicht mehr sehen werden“, informierte sie Carola. „Deswegen wünsche ich euch schon jetzt alles Gute und ein schönes Ankommen zu Hause. Und natürlich eine schnelle Genesung für Sonja.“

„Warte noch einen Moment.“ Carola griff in die Tasche ihres Blazers und zog eine Visitenkarte heraus. Eilig schrieb sie etwas auf die Rückseite der Karte und schob diese dann Anna in die Tasche ihres Kittels. „Auf Wiedersehen, Anna“, sagte sie und umarmte sie noch einmal. „Du bist in unserem Hause immer willkommen.“

Erst als Anna im Eiltempo zu ihrem Treffpunkt mit Henning fuhr, zog sie die Karte aus ihrem Kittel hervor. Es war mit Sicherheit die teuerste Visitenkarte, die sie je in der Hand gehabt hatte, mit Wasserzeichen, Wappen und goldenem Druck. Die hastig geschriebenen Worte auf der Rückseite waren allerdings etwas verwischt, und Anna hob die Karte näher ans Licht, um den Text besser lesen zu können. Es war eine Einladung zum Abendessen im Bellevue am übernächsten Mittwoch.



* * *



Anna prüfte zum dritten Mal den Sitz ihres roten Kleides im Spiegel. Yvonne, die bisher geduldig auf dem Bett gesessen und freundschaftliche Ratschläge gegeben hatte, konnte sich eines Kommentars nicht mehr enthalten. „Du kannst von Glück sagen, dass Henning nicht hier ist. Wenn der wüsste, wie du dich hier aufbrezelst…“

„Na hör mal, das ist schließlich das Bellevue.“ Anna warf einen Socken in ihre Richtung. „Da kann ich nicht im T-Shirt antreten.“

„Zwischen T-Shirt und dem hier gibt’s wohl schon noch ein paar Grautöne“, grinste Yvonne. „Aber du siehst toll aus, Anna.“

„Danke.“ Anna stellte sich mit dem Rücken vor Yvonne, damit diese den Reißverschluss ihres Kleides zuziehen konnte. „Ich bin ein bisschen aufgeregt, muss ich gestehen.“

„Das kann ich verstehen. Bestimmt wird euch das halbe Lokal beobachten“, neckte Yvonne. „Womöglich findest du dein Gesicht morgen in der Presse wieder.“

„Oh je.“ Anna seufzte. „Morgen müssen wir beide unbedingt ins Hemingway gehen und eine zähes Steak mit drei Salatblättern und einer Cocktailtomate essen, damit ich mich wieder normal fühle.“

Yvonne zog ihr den Reißverschluss hoch. „Abgemacht, dann haben wir morgen ein Date. Nachmittags muss ich arbeiten, irgendein Firmenjubiläum, aber bis um 20 Uhr bin ich wieder fit wie ein Turnschuh.“

„Schön, ich freue mich.“ Anna legte sich ihre silberne Kette mit der hübschen Spirale um und warf einen letzten Blick in den Spiegel.

„Ich glaube, du musst dich sputen“, riet Yvonne. „Eine Ministergattin sollte man nicht warten lassen, dann werden die Bodyguards nervös.“

Anna lachte und gab ihr einen Abschiedskuss auf die Wange. „Bis morgen. Es wird sicher spät.“



* * *



Das Bellevue war menschenleer, als Anna durch die Eingangstür trat. Nicht einmal ein Kellner war irgendwo zu sehen, obgleich im ganzen Lokal festlich gedeckt war. Was ging hier vor?

„Anna?“, hörte sie hinter sich. Ein Glück, wenigstens Carola von Bentheim war hier.

„Wo sind die anderen Gäste?“, fragte Anna, nachdem sie Carola begrüßt hatte.

„Ich habe das Lokal gemietet.“ Carola lächelte. „Ich dachte, es wäre auch in deinem Sinne, wenn wir auf lästige Blicke und Autogrammjäger verzichten würden.“

„Phhh, ja…“ Anna sah sich perplex im Raum um. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was es gekostet haben musste, das Bellevue komplett zu buchen.

„Wollen wir uns setzen?“ Carola führte sie zu einem Tisch im hinteren Bereich des Raumes. Wie aus dem Nichts erschien ein Kellner und rückte ihnen die Stühle zurecht, damit sie Platz nehmen konnten.

„Möchten die Damen schon etwas trinken?“, fragte er, während er ihnen die Speisekarte reichte. „Ich könnte Ihnen einen vorzüglichen Rotwein empfehlen.“

„Warum nicht?“ Carola ließ sich von dem Kellner die Weinkarte erläutern, und die beiden vertieften sich in eine Diskussion über Frankreichs Bordeaux-Weine.

Anna beobachtete Carola, wie sie mit feinem Sachverstand und gezielten Nachfragen den besten Wein für diesen Abend herauszufinden versuchte. Sie sah einfach umwerfend in ihrem schwarzen, schulterlosen Kleid, das sich eng an ihren schlanken Körper schmiegte. Dazu trug sie eine elegante Perlenkette und passende Ohrringe, über deren Wert Anna lieber nicht spekulieren wollte. Die blonden Locken fielen weich auf ihre nackten Schultern, und die strahlend blauen Augen wurden durch das dezente Make-Up noch stärker betont.

Was für eine atemberaubende Frau, dachte Anna und zupfte unbewusst an ihrem Kleid. Im Nachhinein war sie froh, dass sie sich zu Hause so lange Zeit genommen hatte, um sich zurecht zu machen. Sie wollte schön sein für Carola von Bentheim.

„Dann nehmen wir den Chateau Petrus“, schloss Carola die Diskussion mit dem Kellner ab. „Das heißt, wenn du nichts dagegen hast, Anna…“

„Was?“ Anna hatte überhaupt nicht zugehört, worum es ging, aber sie hielt es für das Beste, einfach zuzustimmen. „Ja, natürlich. Gern.“

Carola lächelte charmant, als sie sich ihr wieder zuwandte. „Du siehst wunderschön aus, Anna.“

„Oh danke.“ Anna sah verlegen auf die Tischdecke. „Du auch.“

„Ich bin froh, dass du zugesagt hast“, fuhr Carola fort, nun in neutralerem Tonfall. „Ich möchte mich wirklich bei dir bedanken für alles, was du für uns getan hast.“

„Das gehört zu meiner Arbeit.“ Anna zuckte mit den Achseln. Ihr war es unangenehm, dass Carola offenbar das Gefühl hatte, in ihrer Schuld zu stehen.

„Nein.“ Carola sah ihr direkt in die Augen. „Du weißt, dass das nicht wahr ist. Was du getan hast, ging weit darüber hinaus.“

„Ich habe es wirklich gern getan“, stellte Anna klar. „Und jetzt lass uns nicht weiter darüber reden.“

Zu ihrer Erleichterung ließ sich Carola auf ihren Vorschlag ein, und sie gingen zu leichteren Themen über. In kürzester Zeit stellte sich wieder die gewohnte Vertrautheit zwischen ihnen ein, und Anna wurde bewusst, wie sehr sie diese vermisst hatte. Überrascht registrierte sie, wie leicht es ihr nach wie vor fiel, sich mit Carola von Bentheim zu unterhalten, auch wenn der Kontext jetzt ein völlig anderer war. Sie sprachen miteinander wie alte Freundinnen, die sich ewig nicht gesehen hatten und die verlorenen Zeit aufholen wollten.

„Das Ragout war erstklassig“, schwärmte Anna und tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel ab. „Es ist ewig her, dass ich so gut gegessen habe.“

„Dabei ist Hoffmann & Hoffmann für seine wohlschmeckenden Angebote bekannt.“ Carola zwinkerte ihr zu. „Ich hätte gedacht, dass dir deine Freundin Yvonne noch ab und zu eine Delikatesse mit nach Hause bringt.“

„Ja, das ist wahr“, musste Anna ihr Recht geben. „Aber selbst das beste Essen schmeckt irgendwann fade, wenn man es zu häufig isst.“

„Dann war es ja richtig, dich in ein Lokal zu entführen, in dem du dich nicht regelmäßig aufhältst.“

Anna lachte. „Das hast du schön gesagt, Carola. In so einem Lokal halte ich mich überhaupt nie auf.“

Carola ging auf ihren Scherz nicht ein. Sie schaute auf ihre Hände und sah auf einmal sehr ernst aus. „Es gibt da noch etwas anderes, was ich dir sagen möchte“, sagte sie und beugte sich näher zu Anna. Ihre Stimme war deutlich leiser als zuvor, so dass auch Anna sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. Ihre Köpfe waren so nah beieinander, dass Anna Carolas Parfüm wahrnehmen konnte, das ihr schon damals im Kleiderschrank aufgefallen war. Es war ein umschmeichelnder, feiner Duft, der es Anna schwer machte, sich zu konzentrieren.

„Was denn?“ Anna hielt den Atem an.

„Anna, ich habe mich in dich verliebt.“

Was?

„Was?“ Anna sah sie verwirrt an. „Aber…“

„Das kommt jetzt sicher sehr unerwartet für dich“, unterbrach Carola sie. „Aber ich wollte, dass du es weißt.“ Sie nahm Annas Hände in ihre und umfasste sie. „Anna, ich möchte …“

„Tut mir leid, Carola, das kann ich nicht.“ Anna entzog ihr ihre Hände.

„Anna...“ Carola war sichtlich verletzt.

„Ich … ich bin mit Henning zusammen…“, stotterte Anna. „Ich… bin nicht…“

„Schon gut.“ Carola räusperte sich und lehnte sich wieder zurück. „Lass uns über etwas anderes reden.“

„Was ist mit deinem Mann?“, fragte Anna verwirrt. „Weiß er, dass du…“

„Nein.“ Carola schüttelte den Kopf. „Bitte verstehe mich nicht falsch, Anna. Mein Mann bedeutet mir sehr viel…“

„Aber…?“

„Aber…“ Carola fuhr sich durch die Haare. „Müssen wir jetzt darüber reden?“, fragte sie abrupt.

„Nein, natürlich nicht…Es ist nur…“ Anna stützte den Kopf in die Hände. „Ich … bin so überrascht…“

„Es ist schon okay.“

Anna erschrak über die Bitterkeit in Carolas Stimme. Sie wollte Carola nicht verletzen. „Carola… bitte…“

Aber Carola griff schon nach ihrem Portemonnaie. „Nimm es mir nicht übel, Anna…“ Sie winkte dem Ober. „Doch ich glaube, es ist besser, wenn wir diesen Abend jetzt beenden.“

„Ja gut… Wenn du meinst…“

„Und es ist sicher auch besser, wenn wir uns in Zukunft nicht mehr sehen.“

„Was?“ Anna war den Tränen nahe. „Aber warum können wir nicht…“

„…Freundinnen bleiben?“ Carola lächelte gequält. „Das wird nicht funktionieren.“

„Wie du willst...“ Anna verstummte, als der Kellner an ihren Tisch trat. Sie beobachtete, wie Carola mit einem höflichen Lächeln die Rechnung bezahlte, als wäre nichts vorgefallen. Dem Gebaren des Kellners zufolge war auch das Trinkgeld nicht zu knapp ausgefallen.

„Da wäre noch etwas…“, sagte Carola, als der Ober sich wieder vom Tisch entfernt hatte. „Wenn du bitte niemandem von unserem Gespräch erzählen würdest.“

Anna nickte. „Du kannst dich auf mich verlassen.“

Carola stand auf und ging ohne ein weiteres Wort an Anna vorbei zum Restaurantausgang. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal zu ihr um. „Leb wohl, Anna“, sagte sie. „Es tut mir leid, dass dieser schöne Abend so geendet hat.“ Und dann war sie in der Dunkelheit verschwunden.




To be continued...

_________________
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Zuletzt geändert von kimlegaspi am 12.09.2011, 20:25, insgesamt 11-mal geändert.

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BeitragVerfasst: 11.09.2011, 19:06 
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Beiträge: 1207
kimlegaspi hat geschrieben:
Der nächste Happen ist leider etwas lang geraten - weiß auch nicht, was mich da geritten hat, aber irgendwie kriege ich ihn jetzt nicht kürzer. Aber ab dann sollte es etwas verdaulicher werden :).


Ich liebe deinen "lang geratenen" Happen. Was immer dich da geritten hat, schick es ja nicht wieder weg!!!! :wink:


LG


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