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BeitragVerfasst: 30.11.2011, 22:27 
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Liebe Rotis,

da es stramm auf Weihnachten zugeht, habe ich mir überlegt, dass ich hier eine kleine Adventsgeschichte posten könnte. Am liebsten würde ich jeden Tag einen Abschnitt dazuposten, quasi wie ein Kalendertürchen, aber ich fürchte, dass das nicht immer hinkommen wird, zumal ich zwischendurch auch immer mal aus der Stadt bin. Aber wie auch immer, ich bemühe mich, und es geht nur um einen kleinen adventlichen Zeitvertreib hier im Forum. Ich wünsche euch allen eine schöne und nicht zu stressige Adventszeit!

:xmastree: :eskimo: :trippelelch: :xmaslach: :xmaslach: :xmastree:

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Verfasst: 30.11.2011, 22:27 


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BeitragVerfasst: 30.11.2011, 22:28 
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Eine kleine Adventsgeschichte



:shine:


Ich bin Fanny und arbeite in einem Lokal gleich neben einem Schauspielhaus im Rheinland. Eigentlich habe ich Philosophie und Kunstgeschichte studiert, aber als ich im zwölften Semester das Angebot bekam, das Restaurant zu übernehmen, habe ich sofort zugegriffen. Die vorherige Besitzerin hatte es aus persönlichen Gründen verkaufen müssen und war auf mich zugekommen, weil ich in dem Laden seit über drei Jahren gejobbt hatte. Wenn Sie die Wahl hätten zwischen einem gut florierenden Geschäft und der Perspektive, sich als arbeitslose Philosophin von Minijob zu Minijob zu hangeln, was würden Sie vorziehen? Für mich war die Antwort jedenfalls eindeutig.

Das Erbe meiner Eltern ist vollständig draufgegangen, als ich das Restaurant übernommen habe, aber ich bin mir sicher, dass meine Entscheidung in ihrem Sinne gewesen wäre. Meine Eltern waren bodenständige Leute, und mein Vater war damals entsetzt gewesen, als er erfuhr, was ich studieren wollte. „Hast du schon mal irgendwo eine Stellenanzeige gelesen, in der steht ‚Dringend Philosoph gesucht?‘“, hatte er entgeistert gefragt. Jung wie ich war, hielt ich seine Bedenken natürlich für pure Schwarzmalerei und war der festen Meinung, die Welt würde sehnlichst auf mich und meine Fachkenntnisse warten. Dass dem nicht so war, ist mir erst nach und nach während des Studiums klar geworden, und obgleich mich beide Fächer nach wie vor interessierten, ließ ich mich immer öfter für Schichten im Restaurant eintragen.

Ich habe diese Arbeit von Anfang an geliebt. Es ist eine sehr besondere Atmosphäre hier, wissen Sie. Nicht nur Schauspieler kommen hierher, sondern auch Musiker und Fotografen und überhaupt alles, was sich Künstler nennt. Die Menschen schätzen unsere gute Küche und das angenehme Ambiente. Außerdem lege ich Wert darauf, dass unser Service bei niemandem Wünsche offen lässt. Viele meiner Gäste kennen sich untereinander oder finden sich extra ein, um Kontakte in der Szene zu knüpfen. Doch natürlich essen hier auch viele normale Leute, Theaterpublikum zum Beispiel, oder Menschen aus der links-alternativen Ecke oder aus der Abteilung "ökoschick", wie eine Freundin von mir zu sagen pflegt. Am vollsten ist es nach den Theatervorstellungen, insbesondere nach den Premieren, dann könnte ich problemlos das Dreifache verdienen. Aber eine Erweiterung der Räumlichkeiten würde auf Kosten der intimen Atmosphäre gehen, weshalb ich nie ernsthaft über einen Umbau nachgedacht habe.

Während der Theateraufführungen herrscht im Lokal normalerweise eine gespenstische Ruhe vor dem Sturm, und dann plötzlich fallen die Menschen bei uns ein wie die Heuschrecken. Innerhalb von zehn Minuten ist alles bis auf den letzten Platz besetzt. Das sind meine liebsten Momente. Ich mag es, wenn der Raum so voll mit Menschen ist, dass man sein Tablett mit sportlichem Ehrgeiz zwischen den Tischen hindurch manövrieren muss. In solchen Zeiten ist man gezwungen, das Verhalten der Gäste um mindestens einen Schritt vorauszuahnen, denn wenn einer plötzlich eine unerwartete Bewegung macht, kann es schon zu spät sein.

Wir haben bereits viele berühmte Gäste bei uns verköstigt, junge Fernsehstars genauso wie betagtes Theaterurgestein, und ich kann mit Stolz sagen, dass bisher alle voll des Lobes waren - mit Ausnahme eines französischen Schauspielers, der im volltrunkenen Zustand das Inventar auseinandernehmen wollte. Aber das ist schon zwei Jahre her und hatte sicher weniger mit unserem Service als mit den persönlichen Problemen dieses armen Menschen zu tun.

Man sagt mir nach, dass ich mit so genannten Stars und Sternchen sehr gelassen umgehe, und ich glaube tatsächlich, dass diese Eigenschaft in meinem Beruf von Vorteil ist. Es hilft niemandem, wenn man vor Ehrfurcht erstarrt, sobald eine bekannte Persönlichkeit das Lokal betritt, denn die meisten von ihnen möchten einfach nur nach getaner Arbeit in netter Runde ihren Abend ausklingen lassen. Meine Aufgabe ist es, alles dafür zu tun, dass sie dies können, und bisher ist mir meine Routine nur ein einziges Mal abhandengekommen.

Natürlich war mir bekannt, dass Caroline Stein in unserem Theater für eine Saison die Maria in Schillers Maria Stuart spielte, aber nachdem sie im Anschluss an die ersten beiden Vorstellungen nicht bei uns erschienen war, hatte ich angenommen hatte, dass sie es vorzog, ihre Ruhe zu haben. Das ist durchaus nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil. Viele Schauspieler ziehen sich nach dem Spiel lieber zurück, und ich bin die Letzte, die das nicht nachvollziehen kann. Wenn man sich auf der Bühne derart emotional verausgabt, braucht es oft die Einsamkeit, um sich anschließend wieder einzusammeln. Wie auch immer, jedenfalls werde ich den Augenblick nie vergessen, als Caroline Stein plötzlich in meinem Restaurant stand.

Sie kam spät und betrat den Raum in verwaschenen Jeans und Lederjacke. Welch ein Gegensatz zu den edlen Korsettkostümen, die sie eben noch getragen haben musste. Es gehört zu den ungeschriebenen Regeln bei uns, dass sich kein Gast umdreht und einen Schauspieler anstarrt, wenn dieser in das Lokal kommt, sondern dass alles weiter seinen normalen Gang geht. Auch an jenem Abend war das so, doch ich könnte schwören, dass damals jeder, wirklich jeder, die Ankunft von Caroline Stein bemerkte. Dabei tat sie gar nichts Besonderes, sie stand einfach nur da, in der Nähe der Garderobe, und versuchte, sich im Raum zu orientieren.

Aber kennen Sie das, dass Sie einen Menschen ansehen und denken, Gott muss sich vertan haben, denn so schön kann einfach niemand sein? Ungefähr so schauten meine Gäste, als Caroline Stein das Restaurant betrat, jedenfalls diejenigen, die mit dem Gesicht zur Eingangstür saßen. Die anderen bekamen nur mit, dass gerade etwas sehr Besonderes geschah.

Caroline Stein wirkte in natura kleiner als auf dem Bildschirm, ich schätzte sie auf etwa 1,70, und anders als man es von ihren Filmen kannte, trug sie ihre blonden Locken hochgesteckt, vielleicht weil sie gerade erst abgeschminkt war. Kikki, eine meiner Servicekräfte, nahm sich ihrer sofort an und half ihr, ihren Tisch zu finden. Respektvoll rückten ihre Schauspielerkollegen zur Seite, als Caroline Stein sich zu ihnen setzte. Nur Rüdiger Kurat, der im Stück den Mortimer spielte, legte besitzergreifend seinen Arm um sie. Schon länger wurde gemunkelt, dass die beiden eine Affäre hatten, aber für gewöhnlich gab ich auf solche Gerüchte nichts. Nicht immer ist Feuer, wo Rauch ist, und das gilt insbesondere für die Theaterszene. Außerdem war bekannt, dass Rüdiger regelmäßig mit den Hauptdarstellerinnen schlief, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Caroline Stein so dumm war, sich auf ihn einzulassen. Er war der Star unseres Theaters und Schwarm aller Mädchen, aber wenn man näher mit ihm zu tun hatte, merkte man schnell, dass hinter der schönen Fassade nicht viel zu finden war außer einem selbstverliebten kleinen Jungen, der sich weigerte, erwachsen zu werden.

Ich deutete Kikki an, dass ich übernehmen würde und schlängelte mich durch das vollbesetzte Restaurant hindurch zum Tisch der Schauspieler. „Guten Abend, Frau Stein, möchten Sie vielleicht auch etwas bestellen?“, fragte ich, etwas lauter als gewöhnlich, um gegen das Gelächter vom Nebentisch anzukommen. Dort saßen die Bühnenarbeiter und tranken zusammen ihr Bier.

Caroline Stein schrak fast unmerklich zusammen und sah zu mir hoch, als müsse sie sich für einen Moment orientieren, wo sie war. Ihr Gesicht war noch erhitzt vom Spiel, und ihre Haut glänzte noch vom Abschminken. Kennen Sie diese besondere Ausstrahlung, die gute Schauspieler manchmal nach ihrem Spiel haben? Wenn jemand für sein Publikum alles gegeben hat, sich leergespielt hat, alles aus sich herausgeholt hat an Schmerz, an Liebe, an Hass, an allem, wozu wir als Menschen fähig sind? Dann bleibt eine erschöpfte Leere in der Person zurück, die ihrem Gesicht eine besondere Schönheit verleiht. Die Fassade, die jeder von uns so selbstverständlich trägt wie eine zweite Haut, fällt ab und macht den Blick frei für etwas sehr Privates, was eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Genau diesen Ausdruck fand ich in Caroline Steins Gesicht, und ich musste intuitiv den Blick abwenden, ergriffen von der Schutzlosigkeit, die sich mir offenbarte. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl, ihr direkt in die Seele zu sehen, dann hatte sie sich gefangen. Sie beugte sich zu Rüdiger, um sich die Speisekarte geben zu lassen.

„Sie haben eine Karte vor sich liegen“, erklärte ich lächelnd und wies mit meinem Bleistift auf ihre aufgestützten Ellenbogen, unter denen sich die Speisekarte befand.

„Oh.“ Fast hatte ich den Eindruck, dass sie errötete, als sie ihre Arme fortnahm und die Speisekarte aufklappte, doch bei dem schummrigen Licht war das schwer zu sagen. „Ich nehme Ihren Spätburgunder und dazu noch ein Glas Wasser“, entschied sie.

„Sehr gern.“ Ich machte mir überflüssigerweise eine Notiz in meinem Block. „Soll es auch etwas zu Essen sein?“

„Vielleicht später.“ Sie lächelte.

Offen gesagt ist es mir unangenehm zuzugeben, dass mich dieses Lächeln noch den ganzen Abend verfolgt hat, aber so war es. Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich Ausreden erfand, um an ihren Tisch zu treten, nur um sie noch einmal lächeln zu sehen. Ich hatte Glück, denn sie wollte später tatsächlich noch etwas essen, unseren Spinatauflauf mit Gorgonzolasauce, und ich ließ es mir nicht nehmen, die Bestellung aufzunehmen und ihr das Gericht persönlich zu servieren. Sie lächelte noch öfter an diesem Abend, allerdings niemals zu mir. Wie so oft, wenn Schauspieler aus einer gelungenen Vorstellung kamen, war die Stimmung sehr gelöst, und ich beobachtete, wie Caroline Stein mit ihren Kollegen Späße machte. Von Minute zu Minute ging es lustiger an ihrem Tisch zu, und vielleicht zum ersten Mal in meinem Job verspürte ich den Wunsch, mich mit Gästen an den Tisch zu setzen und gemeinsam mit ihnen zu lachen.

Noch abends im Bett, als ich mich in Lennarts Arme schmiegte und die Augen schloss, tauchte das Lächeln von Caroline Stein vor mir auf, und in meinen Ohren hallte noch der Klang ihrer Stimme nach. Dabei fällt mir übrigens ein, dass ich Ihnen Lennart noch nicht vorgestellt habe. Mit ihm bin ich seit über vier Jahren zusammen, und wir wären sicher längst verheiratet, wenn Lennart nicht Anwalt wäre und jeden noch so willigen Menschen vom Heiraten abringen könnte. Es ist erstaunlich, welche hinderlichen Argumente er anführen kann, wenn es darum geht, wichtige Entscheidungen zu treffen. In unserem ersten Jahr haben mich seine ständigen Wenns und Abers halb in den Wahnsinn getrieben, aber irgendwann habe ich begriffen, dass ich Lennart so nehmen musste wie er war. Entweder wollte ich ihn, dann musste ich mit dieser Macke leben, oder ich würde mich trennen müssen. Und ich wollte ihn, also entschied ich mich für die Toleranz.

Unsere beiden Temperamente ergänzen sich ziemlich gut, müssen Sie wissen. Ich kann manchmal ein ganz schöner Hitzkopf sein, während er stets die Ruhe selbst ist. Neben ihm könnte ein Haus abbrennen, und er würde nie die Gelassenheit verlieren, sondern besonnen überlegen, was nun am besten zu tun sei. Dafür bin ich es, die dafür sorgt, dass wir Dinge zusammen unternehmen, denn wenn es nach ihm ginge, würden wir wahrscheinlich jeden Abend auf dem Sofa sitzen, weil er es nicht hinkriegt, etwas zu organisieren. Auch optisch sind wir sehr gegensätzlich. Er ist blond und hochgewachsen wie sein schwedischer Großvater, ich dagegen habe braune Haare und bin eher klein, 1,60 Meter, um genau zu sein. Mir gefällt das, denn ich mag es überhaupt nicht, wenn Partner sich ähnlich sehen und sich womöglich mit der Zeit auch in ihrem Verhalten immer mehr angleichen. Irgendwann hat man sich dann nichts mehr zu sagen. Ich brauche Abwechslung und Leben um mich herum, und ich weiß, dass Lennart es manchmal schwer hat mit mir und meinen spontanen Ideen. Umso glücklicher bin ich, dass er mich aushält und nimmt, wie ich eben bin.




To be continued...

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Zuletzt geändert von kimlegaspi am 02.12.2011, 19:33, insgesamt 17-mal geändert.

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Hallo Kim.
Vielen Dank für den Anfang einer neuen Geschichte von Dir.
So wie du von Caroline schreibst,mach ich mir so meine Gedanken
und mein Kopfkino läuft auch schon......lach.
Bin sehr gespannt wie es weiter geht...


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Hallo osthessin.
Danke fürs Lesen! Noch ist ja nicht viel passiert, aber so ist das ja, wenn man das erste Türchen öffnet.

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danke schön :flehen:

sabam

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ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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Danke, Damon und sabam :knuff: . Morgen geht's weiter :wink: .

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BeitragVerfasst: 02.12.2011, 06:56 
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Ich sah nervös zu Kikki herüber, als Caroline Stein nach der nächsten Vorstellung von Maria Stuart ein weiteres Mal in meinem Restaurant erschien, diesmal gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen. Kikki, die den Schauspielern die Speisekarten brachte, machte ihre Sache wie immer ausgezeichnet, doch ich zog es vor, den Tisch heute Abend selbst zu bedienen. Unser Menüangebot ist übrigens nicht sehr reichhaltig, aber dafür ist alles frisch und mit Liebe zubereitet. Wer viel Auswahl haben will, soll zu dem billigen Italiener ein paar Häuser weiter gehen. Der hat vierzig Gerichte zur Auswahl, und man kann sicher sein, dass auch das letzte Vitamin längst abgetötet ist, wenn das Essen auf dem Tisch steht. Zusätzlich zu den normalen Portionen bieten wir diverse kleine Gerichte an, Snacks, Fingerfood und dergleichen, weil Menschen, wenn sie um 22 Uhr oder später aus dem Theater kommen, meist keine komplette Mahlzeit mehr zu sich nehmen wollen.

Wie gewöhnlich war es ziemlich umständlich, die Bestellungen aufzunehmen. Acht Schauspieler zu bedienen, die sich wie zu Hause fühlen, heißt nämlich meistens, acht Sonderwünsche zu erfüllen. Darauf ist unsere Küche eingestellt, aber es dauert eben seine Zeit, bis alles seine Richtigkeit hat.

Caroline Stein bestellte als letzte. „Ich möchte wieder Ihren vorzüglichen Spinatauflauf“, sagte sie. „Und ein Mineralwasser bitte.“

„Keinen Wein?“

„Nein. Keinen Wein.“

Ich fügte ihren Bestellwunsch zu den anderen hinzu und steckte meinen Notizblock unter meine Schürze. Normalerweise pflege ich mit den Schauspielern noch ein paar Worte zu wechseln, bevor ich mich vom Tisch zurückziehe, aber an diesem Abend war mein Kopf wie leergefegt. Also sammelte ich wortlos die Speisekarten zusammen und wollte gerade gehen, als Rüdiger Kurat mich ansprach.

„Willst du gar nicht wissen, wie die Vorstellung war, Fanny?“, fragte er erstaunt und blickte aufmerksamkeitsheischend in die Runde.

„Doch natürlich“, sagte ich schnell.

„Sie war phantastisch“, verkündete er und legte dabei seinen Arm um Caroline Stein. „Die Leute lieben unsere Maria.“ Unsere Maria, er sagte es, als sei er persönlich für ihre Erfolge verantwortlich. „Standing Ovations wie an jedem Abend.“

„Wie schön. Das freut mich“, antwortete ich höflich und ärgerte mich, dass mein Vokabular offenbar auf das Niveau einer Vierjährigen zurückgesunken war.

„Die Chemie stimmt einfach. Das hilft ungemein“, fuhr er mit Blick auf Caroline Stein fort.

Caroline Stein lächelte nur bescheiden. Offenbar war ihr Rüdigers Prahlerei unangenehm. Ich fand es unmöglich, wie er andere Menschen dazu benutzte, um sich selbst in ein gutes Licht zu stellen, und das brachte wieder Leben in mich. „Ihr bekommt nach dem Essen noch alle einen Grappa aufs Haus. Was haltet ihr davon?“, fragte ich in die Runde, nur um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. Mein Angebot wurde sofort mit Beifall und Bravorufen bedacht, und ich unterdrückte ein Grinsen, als ich der Küche ein Zeichen machte. Auf manche Reaktionen war einfach Verlass. „Jetzt kümmere ich mich aber erst einmal um Eure Bestellungen“, sagte ich und sah dabei Caroline Stein an. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie meine kleine Intervention durchschaut hatte, und ich meinte, ein heimliches Schmunzeln in ihrem Blick zu erkennen.





To be continued...

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BeitragVerfasst: 02.12.2011, 12:54 
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:write:

:danke:


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BeitragVerfasst: 02.12.2011, 19:49 
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Nach der Suppe nun die Hauptspeise ... :lachweg: :lachweg: :lachweg: :bigherz:

kimlegaspi hat geschrieben:
:shine: :shine:
Unser Menüangebot ist übrigens nicht sehr reichhaltig, aber dafür ist alles frisch und mit Liebe zubereitet.


... ooch, die frischen Zutaten und die Liebe mit der du die Speisen in deinem Lokal zubereitest sind wieder so richtig schmackhaft, da macht es nichts, wenn es nur wenig Auswahl gibt. :liebe2: :liebe2: :liebe2: Bild Ob es diesesmal wieder einen verschütteten Orangensaft braucht um der blond gelockten Schauspielerin Caroline näher zu kommen? :wink:
Eine richtig spannende Weihnachtsgeschichte. Danke Kim. :liebe3:


LG


Zuletzt geändert von tiefgang am 03.12.2011, 19:10, insgesamt 1-mal geändert.

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BeitragVerfasst: 03.12.2011, 07:00 
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:danke: tante!!!

Vielen Dank für deine lieben und originellen Kommentar, tiefgang :mrgreen: !!! Ich hoffe, dass die Hauptfiguren diesmal ohne Orangensaft auskommen, aber man weiß ja nie...

Da ich am Wochenende weg bin, gibt's heute übrigens zwei Türchen auf einmal.

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BeitragVerfasst: 03.12.2011, 08:01 
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:shine: :shine: :shine:



Am nächsten Tag studierte ich den Monatsplan des Theaters und teilte mich für jede Schicht ein, während der Maria Stuart aufgeführt wurde. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum ich das tat, ich kann nicht einmal behaupten, dass ich mir darüber Gedanken gemacht habe. Und da ich die Chefin im Laden bin, hat mich auch niemand danach gefragt. Lennart war allerdings wenig begeistert, als ich plötzlich mit meinem geänderten Dienstplan ankam, denn er bemühte sich immer, seine Termine so zu legen, dass wir die wenigen Zeiten, in denen ich nicht arbeitete, gemeinsam verbringen konnten. Ich tischte ihm etwas von wichtigen Veranstaltungen und Betriebsfeiern auf, so dass er nicht weiter nachbohrte.

Tatsächlich fand Caroline Stein sich nun regelmäßig nach den Vorstellungen in meinem Restaurant ein. Ich achtete streng darauf, ihr nicht zu nahe zu treten, aber mit der Zeit ergab sich das ein oder andere Gespräch. Zum Beispiel sprachen wir über das begeisterungsfähige Theaterpublikum in unserer Stadt, über empfehlenswerte Einkaufsmöglichkeiten oder mögliche Ausflugsziele im Umland. Da Caroline Stein sich hier noch nicht gut auskannte, war sie für jeden Tipp dankbar. Außerdem stellte sich heraus, dass sie auf der Suche nach einer Wohnung war. „Die Intendantin hat angedeutet, dass sie mich noch eine weitere Saison verpflichten möchte“, erzählte sie. „Es gefällt mir sehr gut hier. Warum also nicht?“

Selbstverständlich riet ich ihr zu, das Angebot anzunehmen und zählte ihr lang und breit sämtliche Attraktionen in der Gegend auf. „Es ist sicher nicht der schönste Fleck auf Erden, aber wenn man hier erst einmal eine Weile wohnt, will man hier nicht mehr weg“, prophezeite ich und erzählte ihr, dass ich ursprünglich aus Mainz komme und erst das Studium mich hierher verschlagen hat.

„Wenn man länger in Berlin gelebt hat, kann einen sowieso nichts mehr erschüttern“, erwiderte sie lachend. „Ich hätte mir auch längst eine richtige Bleibe gesucht, aber ich habe keine Ahnung, wo man hier gut wohnen kann. Es steht ja nirgends geschrieben, vor welchen Ecken man sich in Acht nehmen sollte, und wo sich die wahren Geheimtipps verbergen.“

„Wenn Sie wollen, kann ich Sie bei der Wohnungssuche begleiten“, bot ich ihr an. „Ich kenne die einzelnen Viertel hier ziemlich gut.“

„Ja, hätten Sie denn Zeit dazu?“, fragte sie erstaunt. „Sie haben ja ab mittags geöffnet.“

„Das ist der Vorteil, wenn man die Chefin ist“, lächelte ich. „Ich kann mir meine Termine relativ frei einteilen.“

„Wenn das so ist, nehme ich Ihr Angebot gern an.“ Sie war sichtlich erfreut. „Wie kann ich Sie erreichen?“

„Ab mittags am besten hier im Restaurant…“ Ich riss einen Zettel von meinem Bestellblock ab. „Aber für alle Fälle gebe ich Ihnen meine Handynummer.“

Und so kam es, dass Caroline Stein meine Handynummer in ihrer Handtasche verstaute und ich die folgenden drei Tage im Fünfminutentakt auf mein Mobiltelefon schaute, um nachzuprüfen, ob sie sich vielleicht schon gemeldet hatte.

Am vierten Tag kamen mir begründete Zweifel, ob sie ihre Zusage tatsächlich ernst gemeint hatte. Am fünften Tag war ich überzeugt, dass sie mein Angebot als aufdringlich und unangemessen empfunden hatte. Am sechsten Tag hielt ich sie für eine über die Maßen unzuverlässige und egozentrische Person. Aber am siebten Tag war all das vergessen, als sie sich tatsächlich meldete. Sie habe die Sonnabendausgabe der Rheinischen Post durchforstet und sich drei Wohnungen herausgesucht, erklärte sie mir am Telefon und wollte wissen, ob ich bereit sei, diese mit ihr zu besichtigen. Wir verabredeten uns für den folgenden Montag.






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Als ich am Montagnachmittag die Straßenbahn nahm, um mich mit Caroline Stein vor dem ersten Objekt zu treffen, war mir völlig unklar, was mich erwarten würde. Wie reagierte wohl ein Eigentümer, wenn plötzlich Caroline Stein vor ihm stand und sich als potenzielle Mieterin vorstellte? Während der Fahrt malte ich mir alle möglichen Szenarien aus, die alle damit endeten, dass sie die Wohnungen mit Kusshand nachgeschmissen bekam. Ich zumindest hätte das getan, aber man soll ja nicht von sich auf andere schließen. Vielleicht würden wir auf geldhungrige Makler treffen, die den Preis noch einmal extra in die Höhe trieben, wenn sie erkannten, mit wem sie es zu tun hatten. Der Gegend nach zu urteilen hatte Caroline Stein es jedenfalls nicht nötig, sich eine kostengünstige Wohnung zu suchen. Ihr ging es darum, in einer respektablen Gegend mit guter Infrastruktur leben zu können, möglichst nicht zu weit weg vom Theater.

Es war ein kalter, unfreundlicher Novembertag, und als ich aus der Straßenbahn stieg, bereute ich, nicht meine Daunenjacke angezogen zu haben. Zumindest würden wir uns sicher mehr in Wohnungen als draußen auf der Straße aufhalten.

Caroline Stein stand schon an unserem vereinbarten Treffpunkt, als ich um die Ecke bog. Sie hatte sich tief eingegraben in ihre Winterjacke und eine voluminöse Wollmütze über ihre Locken gezogen. Ob ihr Outfit eher dem Kälte- oder dem Sichtschutz diente, war schwer zu sagen, auf jeden Fall gingen die Leute auf der Straße achtlos an ihr vorüber, ohne sie zu erkennen. „Wollen wir uns nicht duzen?“, fragte sie, nachdem wir uns begrüßt hatten. „Ich komme mir komisch vor, wenn wir zusammen Wohnungen ansehen und uns dabei siezen.“

„Okay, ich bin Fanny“, sagte ich überflüssigerweise und schüttelte ihr nochmals die Hand.

„Caroline“, sagte sie, ebenso überflüssig, und erwiderte meinen Händedruck.

Nachdem der Formalitäten Genüge getan war, traten wir durch das Gartentor des ersten Objektes. Von außen war schon zu sehen, dass die Belle Etage des Hauses nicht bewohnt war, und zusätzlich klebte das Schild Zu vermieten an einem der Fenster. Eine ältere Frau mit weißen Haaren öffnete uns die Tür und führte uns über eine großzügige Holztreppe nach oben in den ersten Stock. Sie ließ durchblicken, dass sie weit über zwanzig Bewerber hätte, aber Caroline den Vorzug geben würde, wenn diese Interesse zeigte.

Die Wohnung war ein absoluter Traum, nur fand ich persönlich sie zu dunkel, denn die hochgewachsenen Bäume im Garten würden im Sommer kaum Licht hindurch lassen. Alles andere war perfekt, und die letzte Renovierung konnte höchstens zwei Jahre her sein. Die Wohnung verfügte über fünf große Zimmer mit hohen Fenstern und Stuck an den Decken, dazu noch eine geräumige Küche und ein nachträglich eingebautes Bad mit Dusche und Badewanne. Die alten Dielenböden waren gut erhalten, und die Elektrik erst kürzlich aufgerüstet. Und wenn man aus dem Wohnzimmerfenster sah, konnte man in der Ferne einen Park sehen. Gleich dahinter lag ein Einkaufszentrum, in dem man alles bekommen konnte, was für den Alltag vonnöten war.

Etwa eine halbe Stunde hielten wir uns bei der Dame auf, dann sagte Caroline, dass sie noch Termine hätte und sich zeitnah melden würde. „Was sagst du zu der Wohnung?“, fragte sie mich, sobald wir zurück auf die Straße traten. „Sie ist in einem guten Zustand, nicht wahr?“

„Sie ist in einem hervorragenden Zustand“, nickte ich. „Aber hast du die hohen Bäume im Vorgarten gesehen? Die nehmen dir im Sommer sämtliches Licht.“

„Ja, das ist mir auch aufgefallen.“ Sie zog ihre Mütze tiefer in ihren Nacken. „Und ich frage mich auch, ob ich tatsächlich fünf Zimmer brauche.“

„Das kann ich natürlich nicht beurteilen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Es kommt darauf an, wer noch so alles bei dir aus- und eingeht…“

„Rüdiger Kurat jedenfalls nicht, falls du darauf anspielst.“ Sie sah mich von der Seite an. „Ich weiß, dass es dieses Gerücht gibt.“

Aus irgendeinem Grund erleichterte mich diese Nachricht kolossal. „Du tust nicht besonders viel, um es auszuräumen“, entfuhr es mir, und ich wurde rot, als sie mich erstaunt ansah.

„Nein“, sagte sie schlicht und ließ es damit bewenden.

Die nächste Wohnung war längst nicht so schön wie die erste. Zum einen war sie bedeutend kleiner, zum anderen lag sie in einer ziemlich versnobten Gegend, von der ich annahm, dass Caroline sich als Künstlerin dort wenig wohl fühlen würde. Auch war die Wohnung nicht in einem so guten Zustand, kostete aber zweihundertfünfzig Euro mehr an Kaltmiete, vermutlich wegen der teuren Lage.

„Dann bleibt uns wohl nur noch die dritte“, sagte Caroline trocken, als wir in die Straßenbahn einstiegen. „Ganz wie im Märchen.“ Natürlich hätten wir auch mit dem Auto fahren können, aber um diese Uhrzeit tat man gut daran, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, da man sich sonst nur von Stau zu Stau hangeln würde, ganz abgesehen davon, dass allein die Parkplatzsuche eine halbe Stunde in Anspruch nehmen konnte.

Irgendwie war es lustig, mit Caroline Stein Straßenbahn zu fahren. Die meisten Leute waren so mit sich beschäftigt, dass sie nicht nach links und nicht nach rechts schauten, aber einige erkannten Caroline, und man konnte den Konflikt in ihren Gesichtern lesen. Erstaunlicherweise wagte es keiner, auf sie zuzugehen, so als hätte sie ein riesiges Bitte-nicht-ansprechen-Schild um den Hals hängen. Es war mir ein Rätsel, wie sie das machte, aber augenscheinlich funktionierte es.

Am Anfang unseres Ausfluges war ich noch recht schweigsam gewesen, weil ich mir unsicher war, ob Caroline nur meine Meinung über Wohngegenden schätzte oder auch meine Gesellschaft. Doch je länger wir unterwegs waren, desto gelöster wurde die Stimmung zwischen uns. Es machte richtig Spaß, mit ihr unterwegs zu sein, und bald plauderten wir ohne Unterlass. Über alles Mögliche tauschten wir uns aus und nutzten auch die Gelegenheit, über bestimmte Menschen am Theater zu lästern. Nicht weil es uns Spaß machte, über Leute herzuziehen, aber am Theater sind über hundert Angestellte beschäftigt, und einige davon sind wirklich eine Plage für die Menschheit. Es tat gut, sich darüber auszutauschen, und wir stellten überrascht fest, dass wir dieselben Leute mochten und nicht mochten, und zwar aus denselben Gründen. Überhaupt hatten wir auf viele Dinge dieselbe Sichtweise, nicht nur, was das Theater betraf.

Wir waren so ins Gespräch vertieft, dass wir nicht merkten, wie sich draußen der Himmel bedrohlich zusammenzog. Als wir nach einer halben Stunde Fahrt aus der Straßenbahn stiegen, um das letzte Objekt zu besichtigen, fielen die ersten dicken Tropfen aus den Wolken. „So ein Mist!“, fluchte ich und versuchte, meinen Kragen so hochzuziehen, dass es mir nicht in den Nacken regnete. Hätte ich bloß meine Jacke mit der Kapuze angezogen. „Ich wohne hier ganz in der Nähe“, erklärte ich Caroline. „Wollen wir vielleicht dort den Schauer abwarten?“

Sie sah prüfend auf ihre Armbanduhr. „Nein, der Makler erwartet mich um fünf Uhr. Ich will ihn nicht versetzen.“

Also kämpften wir uns durch den Regen. Die anderen Passanten hatten offenkundig den Wetterbericht gehört, jedenfalls waren sie wesentlich präparierter als wir. Es war gar nicht so einfach, den spitzen Regenschirmen auszuweichen, um ernsthaften Verletzungen zu entgehen.

Der Regen wurde zunehmend dichter, und nach zehn Minuten waren wir beide bis auf die Haut nass. Auch Caroline sah jetzt ein, dass es keine gute Idee war, wenn sie dem Makler in diesem Aufzug gegenübertrat. „Vielleicht sollten wir doch erstmal zu dir gehen“, schlug sie vor. „Ich möchte nicht, dass du dir meinetwegen eine Lungenentzündung holst.“

Ich stimmte sofort zu, denn ich fror wirklich erbärmlich. Caroline rief also ihren Makler an und informierte ihn, dass sie sich um etwa eine Stunde verspäten würde. Dann begaben wir uns im Laufschritt zu meiner Wohnung.

Wir atmeten beide auf, als ich die Tür aufschloss und wir in die geheizten Räume traten. „Ich tropfe dir alles voll“, jammerte Caroline, halb im Ernst, halb lachend. „Hättest du vielleicht ein Handtuch für mich?“

„Nicht nur ein Handtuch, ich kann dir auch etwas Frisches zum Anziehen geben.“ Ich hängte unsere Jacken über zwei Stühle, damit sie trocknen konnten. „Und wie wäre es mit einer heißen Dusche?“

„Wunderbar“, schwärmte sie. „Aber du zuerst. Du hattest ja nicht einmal eine Mütze dabei.“

Ich drehte die Thermostaten der Heizung auf die höchste Stufe und schlüpfte im Eiltempo unter die Dusche, um sie nicht so lange warten zu lassen. Das heiße Wasser auf der Haut war herrlich, und innerhalb von fünf Minuten fühlte ich mich wieder völlig durchgewärmt. Schnell zog ich mir eine neue Jeans und einen Wollpulli an und nahm den Föhn mit aus dem Bad, damit Caroline schon unter die Dusche konnte, während ich mir die Haare trocknete.

Caroline hatte sich dicht an die Heizung gestellt, als ich ins Wohnzimmer kam, und sah aus wie ein begossener Pudel mit ihren nassen Locken. „Soll ich dir frische Kleidung vors Badezimmer legen?“, fragte ich und drückte ihr ein sauberes Handtuch in die Arme.

„Nein, ich lasse die Tür offen. Danke, dass du mir was leihst.“ Caroline schüttelte sich fröstelnd. „Ich beeile mich“, sagte sie, als sie im Bad verschwand.

„Lass dir so viel Zeit, wie du möchtest“, rief ich ihr hinterher, aber ich wusste nicht, ob sie mich noch gehört hatte. Während aus dem Bad das Rauschen der Dusche ertönte, kramte ich in meinem Kleiderschrank nach Sachen, die Caroline passen könnten. Nach längerem Suchen fand ich eine weiße Jeans, die ich im letzten August gekauft hatte und seit Monaten kürzen lassen wollte. Wie gut, dass immer etwas dazwischen gekommen war. Ich warf die Hose aufs Bett und legte eine blaue Fleecejacke daneben, unter die ich normalerweise einen Pullover zog. Dann suchte ich noch Unterwäsche und Socken heraus und legte die Sachen ins Bad, den Blick fest auf die Fliesen gerichtet.

Ich atmete tief durch, als ich wieder im Flur stand. Das wäre geschafft. Nachdem ich mir die Haare getrocknet und den Föhn durch den Türspalt ins Badezimmer gelegt hatte, kochte ich uns einen heißen Kaffee. Ich zündete noch ein paar Kerzen an und war gerade dabei, einen Teller selbstgebackene Kekse aufzudecken, da trat Caroline ins Wohnzimmer. Ihr Haar war noch feucht, und ihre Wangen glühten noch von der heißen Dusche. Die Sachen, die ich für sie ausgesucht hatte, passten perfekt, insbesondere die Fleecejacke stand ihr besser als mir.

Ich muss ziemlich seltsam geguckt haben, denn sie sah unsicher an sich herunter. „Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte sie und prüfte den Sitz der Hose.

„Nein, nein. Du siehst… toll aus“, stotterte ich. „Wirklich.“

Offenbar hatte sie die Duschlotion gewählt, die Lennart mir zum Geburtstag geschenkt hatte, denn der süße Geruch von Vanille umhüllte mich, als sie näher an den Tisch trat. Bisher war mir gar nicht aufgefallen, wie tiefblau ihre Augen waren, oder kam das nur durch das Kerzenlicht?

Ich kann gar nicht sagen, was dann als nächstes passierte, ich erinnere mich nur, dass wir schweigend voreinander standen, eine ganze Weile, und auf einmal beugte sie sich zu mir und küsste mich.

Ich wich zurück, und als ich aufsah, merkte ich, dass sie genauso erschrocken war wie ich.

Und dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Caroline trat ein paar Schritte zurück, das Schloss der Wohnungstür drehte sich, und Lennart stand in der Wohnung. „Hey Fanny, du bist ja zu Hause“, rief er überrascht und kam auf mich zu, um mich zu begrüßen. Dann entdeckte er Caroline. „Oh, wir haben Besuch“, sagte er erfreut und reichte Caroline die Hand. „Ich bin Lennart Stuve.“

„Caroline Stein.“ Caroline schüttelte ihm die Hand.

„Störe ich euch?“, wandte er sich an mich. „Ich kann mich auch ins Arbeitszimmer verziehen…“

„Nein, nein, ich wollte sowieso gerade gehen“, sagte Caroline und nahm ihre Winterjacke von der Stuhllehne.

„Aber…“ Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie sie ihre Kleidung zusammengesammelt hatte. „Was ist mit der dritten Wohnung?“, fragte ich verwirrt.

„Ich schau sie mir allein an. Du willst sicher Zeit mit deinem Freund verbringen.“ Sie war schon auf dem Weg zur Wohnungstür.

„Warte…“ Endlich kam Bewegung in mich und ich rannte hinter ihr her. „Bleib doch noch…“

„Ich muss wirklich gehen“, sagte sie, schon im Hausflur. „Wir sehen uns am Mittwoch nach der Vorstellung.“

„Na gut, wie du meinst...“ Ich sah ihr ratlos hinterher.

„Nächstes Mal sagst du mir Bescheid, wenn du Prominenz in unserer Wohnung empfängst“, rügte mich Lennart, als er hinter mir auftauchte. „Wieso musste sie so schnell weg? Bin ich ein so grässlicher Anblick?“

Ich hatte keine Lust, auf seine Scherze einzugehen. „Sie hat halt Termine“, sagte ich und schob mich an ihm vorbei zurück in die Wohnung. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Baseballschläger über den Kopf gezogen. Hatte mich Caroline Stein eben geküsst? Der Moment war so flüchtig gewesen, dass ich mich fragte, ob er wirklich passiert war. Aber warum sonst war alles in mir so in Aufruhr? Mein Herz klopfte so wild, dass ich Angst hatte, Lennart würde mir etwas anmerken. Was wäre geschehen, wenn er nicht nach Hause gekommen wäre?

In meinem Kopf ging alles drunter und drüber, und ich teilte Lennart mit, dass ich mich für eine Weile hinlegen würde. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, mir die Decke über den Kopf zu ziehen und für den Rest des Tages nicht mehr hervorzukommen.

Als ich dann aber so dalag, an die Zimmerdecke starrte und die letzten Wochen Revue passieren ließ, wurde ich nur noch verwirrter. Warum hatte ich Caroline nie erzählt, dass ich einen Freund habe? Wieso hatte ich alle Schichten so gelegt, dass ich ihr begegnete? Und was hatte mich geritten, ihr anzubieten, mit ihr Wohnungen anzusehen? Und je mehr die Gedanken zu all diesen Fragen sich zu einer einzigen Antwort verdichteten, desto elender wurde mir zumute.





To be continued....

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Zuletzt geändert von kimlegaspi am 03.12.2011, 18:33, insgesamt 4-mal geändert.

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BeitragVerfasst: 03.12.2011, 08:31 
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aahhhhhh, jetzt wird spannend .-)

ich tippe drauf, dass caroline sich nicht mehr in restaurant blicken lässt.
erstmal ...

sabam

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ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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BeitragVerfasst: 03.12.2011, 12:56 
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Registriert: 02.12.2008, 21:54
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Ich bin mal wieder total begeistert von deiner neuen Story in Adventskalender Form..Grandios..Ich freue mich auf die nächsten Türchen


:bigsuper: :freu: :klatsch: :danke: :herzschlag:


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