Kapitel 47: Accelarate
Vor dem offenen Grab blieben sie stehen. Bella hielt sich etwas im Hintergrund, wollte Tristan die Gelegenheit geben, sich von seinem Vater zu verabschieden. Der junge Graf drehte sich noch einmal zu ihr um so als wolle er sich Mut zusprechen lassen. Bella nickte ihm kaum merklich zu und ging noch einige Schritte zurück. Ihre Augen signalisierte ihm jedoch „ich bin da“. Tristan blickte zurück auf das Grab seines Vaters.
Er holte tief Luft, hielt diese eine Weile in seinem Körper und blies sie dann langsam wieder aus. „Vater“, begann er unsicher. „Ich wollte – wollte mich von dir verabschieden. Ich weiß, dass wir beide nicht das beste Verhältnis zueinander hatten und ich weiß, dass du dir sicher oft gewünscht hättest, dass ich mich in vielen Dingen anders verhalten hätte, aber ich bin so wie ich bin. Ich glaube, so richtig hast du das nie akzeptiert, meine Andersartigkeit nicht akzeptiert. Ich wollte dich nie vor den Kopf stoßen mit dem was ich getan habe, oder gar verletzten. Das was ich eigentlich wollte war ein bisschen Anerkennung. Ich hatte nie das Gefühl, dass du mich so respektierst wie ich bin. Du hast dir viel eher einen Sohn gewünscht, der nicht wegläuft wenn es Schwierigkeiten gibt, sondern der zu dem steht was er getan hat.“ Tristan hielt einen Augenblick inne weil seine Stimme ihm den Dienst versagte. Dann fing er sich wieder. „Damals als die Sache mit Helena war, da hast du mich nicht abgeschoben, sondern ich konnte auf Königsbrunn wohnen bleiben. Das hab ich dir hoch angerechnet, aber ich habe es in deinen Augen gesehen. Das Unverständnis - und ich habe in ihnen gesehen, dass du dich für mich geschämt hast. Vater, das war viel Schlimmer als eine Strafe, die ich absitzen hätte können. Ich weiß, dass ich dich oft enttäuscht habe, und das tut mir leid. Aber ich wollte nur der Sohn sein den du akzeptierst wie er ist und dass du nicht versuchen würdest ihn zu ändern.“ Wieder stoppte Tristan, denn es fiel ihm schwer weiterzusprechen. „Trotz allem bist – warst du mein Vater, und ich habe dich geliebt.“ Beim letzten Wort fing der junge Graf an zu weinen, seine Stimme wurde brüchig.
Als Bellas sah, dass er zusammenzubrechen drohte, war sie sofort bei ihm. Tristan schlang die Arme um Bella und weinte an ihrer Schulter. „Ich wollte doch nur, dass er mich so akzeptiert wie ich bin“, flüsterte er schluchzend. „Ich weiß, Tristan, ich weiß“, sagte sie beruhigend zu ihm und strich ihm über sein schwarzes, mit tausend Schneeflocken benetztes Haar. Sachte schob sie ihn von sich als sie spürte, dass sein Weinen leiser wurde. Dann nahm sie seine Hand. „Komm“, sagte sie nur. „Wir gehen nach Hause.“
Engumschlungen lagen beide einfach nur da, nachdem sie sich geliebt hatten. Rebeccas Haut glühte noch förmlich von der Hitze, die Marlene in ihr entfacht hatte. Auch die Blondine war noch außer Atem. Normalerweise hätte sie so glücklich sein können. Die Frau, um die sie so lange gekämpft hatte, lag neben ihr und sie hatten zusammen geschlafen. Und doch war nichts in Ordnung. Ihr Vater war gestorben und nun hatte es noch jemand auf sie abgesehen. Rebecca war sich sicher, dass die Entwendung der Entwürfe gegen sie gerichtet war. Es wollte sie jemand treffen, direkt und bewusst schaden. Sie wollte Marlene jedoch nicht beunruhigen und so behielt sie den Verdacht für sich.
Die feinen Härchen auf Rebeccas Armen stellten sich auf als die Blondine sanft mit der Hand darüberfuhr. „Meinst du, wir hätten es nicht tun dürfen?“, fragte die junge Gräfin leise. Die Blondine sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Was hätten wir nicht tun dürfen?“, wollte sie wissen. Rebecca zögerte kurz. „Zusammen schlafen.“ Marlene wusste genau was sie meinte. War es pietätlos, am heutigen Tag, am Tage der Beerdigung Ludwig von Lahnsteins, zusammen Sex zu haben? Die Ex-Frau von Hagen überlegte kurz und antwortete dann: „Nein. Es war okay. Völlig okay. Dein Vater möchte, dass du glücklich bist. Er möchte nicht, dass du leidest“, befand sie. „Es macht ihn nicht wieder lebendig wenn du es nicht tust. Ich bin mir sicher, dass du gar nichts tun kannst was ihn enttäuscht. So perfekt wie du bist, so sehr wie du ihn geliebt hast, gibt es nicht, aber auch nichts, was nicht okay wäre. Und wenn es dir hilft, wenn du nur für einen Augenblick abschalten kannst von all dem was in der letzten Zeit passiert ist, so war es das Richtige.“ Unter Tränen lächelte Rebecca ihre Freundin an. „Wie machst du das, Marlene? Wie findest du immer die richtigen Worte?“ Die Blondine erwiderte Rebeccas intensiven Blick. „Es ist einfach so. Wir beide kennen uns so gut, wir wissen ohne Worte was wir fühlen, und ich muss mir auch keine Mühe geben, um die richtigen Worte zu finden weil wir gleich fühlen, wir sind wie Seelenverwandte. Das weißt du. Und das weiß ich. Und das wird immer so bleiben.“
[QUOTE=mariposa227;3384373]Sie beobachtete ihn wie er hinter dem Steuer des Wagens saß. Wirkte er sonst so oft verloren und beinah hilflos in der letzten Zeit – am Lenkrad kam er ihr kraftvoll und erhaben vor, beinah mächtig. Sie liebte es, einem Mann beim Autofahren zuzusehen. Die meisten Männer hatten eine besondere Art zu schalten, sie legten die Gänge nicht flüssig ein, sondern oft ruckartig, sie fuhren nicht bedächtig an, indem sie das Gaspedal langsam betätigten, sondern sie drückten es fast komplett durch. Sie ließen sich nicht von etwas abbringen sondern schauten geradeaus auf die Straße, blickten nicht in Rückspiegel um ihre Frisur zu überprüfen und bedienten das Radio locker per Lenkrad ohne hinzuschauen. Männer fuhren anders Auto als die meisten Frauen. Ampeln, die kurz davor waren auf „rot“ zu springen, wurden noch überfahren indem man das Gaspedal durchdrückte und Stoff gab und ab und an wurde auch im letzten Moment noch abrupt gebremst. Es schien als waren Männer hinter dem Steuer des Wagens wieder verkappte Neandertaler, die ihr Revier verteidigten. Bella mochte es. Sie selbst fuhr genauso ein „heißes Eisen“ mit ihrem Roller oder dann und wann wenn sie den Wagen ihres Vaters ausgeliehen hatte, und sie stellte einmal mehr fest, dass sie doch nur rein äußerlich eine Frau war. Tief in ihr drinnen wusste sie, dass sie deswegen schon immer besser mit Männern zurechtgekommen war, weil sie nicht wirklich wie eine Frau tickte. Das hatte sich bei ihrer Arbeit als Schreinerin schon sehr oft als hilfsbereit erwiesen, denn eine typische Frau hätte einen schweren Stand gehabt.
Grade fuhr Tristan mit Vollgas über eine Ampel, die auf Rot umzuspringen drohte und Bella wurde in den Ledersitz gedrückt. Tristan sah sie kurz von der Seite an, erwartete, dass sie sich beschwerte. Zu seiner Überraschung tat sie völlig unbeeindruckt und das wiederrum beeindruckte ihn. Bella war eine besondere Frau, das war ihm schon vom ersten Augenblick an klar gewesen. Ganz kurz ließ er den Blick über sie wandern, wie sie da saß, völlig entspannt trotz seines rasanten Fahrstiles und einmal mehr bemerkte er, wie anziehend er sie fand. Sie war nicht im klassischen Sinne schön, nein, das war sie gewiss nicht. Sie war zwar schlank, aber doch um die Hüften eher kräftig gebaut, aber das störte Tristan nicht im geringsten. Manchmal witzelte er, dass sie nicht in seine Hosen passen würde, aber Bella konterte dann sofort mit einem „Kein Wunder bei so einem Hungerhaken wie dir“ und lachte. Sie war witzig und spontan, sie war nicht schnell beleidigt und man konnte Sachen mit ihr machen, bei denen andere Frauen das Weite gesucht hätten. Sie hatte wundervolle rote Locken, die irrwitzig umher tollten wenn sie lachte oder sich aufregte. Er liebte ihre Haare. Er liebte ihr Lachen, und er liebte ihren Mund wenn er mal wieder nicht stillstand. Er liebte auch den Sex mit ihr. Auch der Sex war Besonders. Sie hatte eine Leidenschaft in sich, die er nur bei wenigen Frauen gespürt hatte. Selbst bei Marlene, die er über alles geliebt hatte, hatte Tristan oft das Gefühl gehabt, dass sie nur mit angezogener Handbremse mit ihm schlief. Bella aber gab sich ihm hin, vollkommen, ohne dass sie ihr eigenes Ich aufgab. Wenn sie mit ihm schlief so tat sie es mit einer Intensität, die ihm den Atem raubte. Er hatte das Gefühl, dass sie wirklich ihn meinte, wenn sie ihn ansah, dass sie ihn erkannte mit nur einem kurzen Augenblick, den ihre Augen die seinen trafen und dass sie bis auf den Grund seiner dunklen unergründlichen Seele blicken konnte. Er musste ihr auch nichts erklären, sagen was er gerne hatte und was nicht, sie wusste es einfach von selbst. Es war als würden sie beide zusammengehören als würden sie ohne Worte genau wissen, was der andere dachte und empfand.
Tristan lächelte kaum merklich hinter dem Steuer des Lenkrades. Vielleicht hatte er sie gefunden. Die Eine. Die Frau, die zu ihm gehörte und zu der er gehörte. Er hatte es bisher nur noch nicht begriffen gehabt. Erst am heutigen Tage, als sie wortlos vor ihm stand bei der Beerdigung seines Vaters - und das obwohl er sie zwei Tage zuvor so fertiggemacht hatte - war ihm bewusst geworden, wie viel er für diese verrückte kleine Frau mit den unbändigen Locken und dieser ganz speziellen Art so zu sein wie sie wirklich war, empfand.
Wieder drehte er den Kopf in ihre Richtung. Bella sah ihn an. Für einen kurzen Moment blickte er in ihre Augen und sie sah in seine. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Straße.
Auf einmal – kurz vor Königsbrunn – hielt Tristan den Wagen abrupt am Straßenrand an. Er bremste ziemlich hart und Bella wurde unsanft nach vorne gedrückt. Jetzt war sie doch etwas erschrocken. Warum hielt Tristan hier auf der Landstraße? Der Graf drehte den Schlüssel um und stoppte den Motor. Dann drehte er sich langsam zu ihr. Bella sah ihn irritiert an. „Was ist los? Warum hältst du?“, wollte sie wissen. Er sah sie an. Direkt. In die Augen. Langsam öffnete er seinen Mund. Er sah ernst aus. Bella sah ihn wie paralysiert an. Etwas war anders.
„Ich muss dir etwas sagen.“
Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme beunruhigte die Rothaarige. Sie hatte plötzlich Angst vor dem was Tristan ihr mitteilen wollte. Unsicher sah sie ihn an. „Was – was musst du mir sagen?“, fragte sie leise.
Tristan holte tief Luft und schloss die Augen.
Sekunden wurden zu Minuten und Bellas Herz klopfte wie verrückt. Sie starrte auf Tristan und es kam ihr wie eine Ewigkeit vor bis sich sein Mund öffnete um die Worte zu formen.
Tristan öffnete seine Augen wieder. Braune Augen trafen blaue. Nie zuvor hatte er sie so intensiv angeschaut und nie zuvor hatte ihr Herz heftiger geklopft als in diesem Augenblick. „Tristan, was musst du mir sagen?“, wiederholte Bella. „Ich…“ , begann Tristan und sprach nicht weiter.
Herzrasen.
Atemnot.
Schwindel.
Adrenalin.
„Ich liebe dich.“
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