Kapitel 39: Give me a reason
„Lass es, es kann warten“, sagte Tristan und küsste sie wieder. Doch das Telefon gab nicht auf. Beim vierten Mal riss Bella es entnervt vom Boden hoch um es auszustellen. Doch sie drückte aus Versehen auf grün statt auf rot. Tristan sah, wie seine Freundin blass wurde. Alarmiert richtete er sich im Bett auf. „Hast du einen Krankenwagen… Wie? Ja, ich komme“, hörte er dann Bella sagen.
„Wer war das zum Henker?“, fragte Tristan und wollte Bella wieder zu sich ziehen. Er hatte keine Lust auf weitere Schreckensmeldungen. Er wollte einfach nur, dass sie wieder zu ihm kam und sie da weitermachen konnten wo sie aufgehört hatten. Doch sie saß noch immer mit dem Handy da, das sie jetzt langsam sinken ließ. „Andi. Das war Andi. Er hatte einen Unfall.“ Tristan bemerkte, wie sich Bellas Gesichtsausdruck veränderte. Er sah die Sorge in ihren Augen, und es versetze ihm einen kleinen Stich. „Ja, und? Er lebt ja anscheinend, da er mit dir sprechen konnte“, sagte er härter als beabsichtigt. Bella sah ihn entsetzt an. „Sag mal, tickst du noch ganz richtig?“, giftete sie ihn an. Im selben Moment fiel ihr aber dann ein, dass Tristans Vater am heutigen Tag gestorben war und sie revidierte ihre Aussage sogleich: „Entschuldige, ich habe für einen Moment vergessen…“ „Schon gut“, beschwichtigte er sie. „Ich war auch drüber. Was ist denn passiert?“ Bella zögerte. „Ich weiß nicht, er ist wohl von der Straße abgekommen. Andi sagt, es wäre ihm nichts weiter Schlimmes passiert, aber so ganz glaub ich ihm das nicht, so wie er klang. Er hat sich aber keine Krankenwagen gerufen, er will wohl wieder den Starken markieren.“ „Ja, darin ist er gut“, ließ sich Tristan zu der Äußerung hinreißen, was ihm wieder einen tadelnden Blick von Bella einbrachte. Der junge Graf legte der Rothaarigen die Hand auf den Arm. „Hör zu, ich komm schon klar, fahr du mal zu Andi und bring ihn ins Krankenhaus. Ich will nicht schuld sein, dass er wohlmöglich einen noch größeren Schaden davonträgt als er jetzt schon hat.“ Wieder sah Bella ihn nur an, verkniff sich aber einen Kommentar. „Kann ich dich wirklich allein lassen?“, wollte sie wissen. „Ja, sag ich doch.“ Sein Blick schien etwas anderes zu auszudrücken, aber Bella wollte es einfach nicht sehen. Nicht jetzt. „Alles gut“, wiederholte Tristan. „Ich werd mal versuchen ein bisschen das Chaos zu beseitigen und dann vielleicht noch zu schlafen.“ Nach einem zweifelndem Blick von Bella fügte er noch hinzu: „Keine Sorge, ich werde mich weder im Selbstmitleid noch in Blutlachen suhlen, und ich werde auch nichts konsumieren was du nicht auch einnehmen würdest.“ Die Rothaarige atmete tief durch. „Ich fahr da jetzt kurz hin, und dann komm ich wieder, okay?“ „Brauchst du nicht, ich benötige keinen Aufpasser, Andi aber vielleicht schon.“ Wieder klang Sarkasmus in seiner Stimme mit. „Tristan, du hast heute deinen Vater verloren, und ich weiß, dass dir das verdammt nahe geht, also hör auf den Harten zu mimen. Das steht dir nicht.“ Sie hatte sich inzwischen angezogen. Bella beugte sich vor und gab Tristan einen Kuss auf den Mund. „Hm, so bist es zur Abwechslung mal du, die mich mitten im Sex sitzen lässt“, sagte er mit rauem, sonoren Tonfall und Bella lief es schon wieder heiß und kalt über den Rücken. „Was du kannst kann ich halt auch“, sagte sie und lächelte ihn an. „Ich meld mich.“
Nachdem sie sich geliebt hatten, lagen Marlene und Rebecca einfach nur stumm nebeneinander. Keiner brauchte etwas zu sagen, es war nicht nötig. Die bloße Anwesenheit des Anderen war genug. Sie verstanden sich ohne Worte. So war es immer gewesen, und am heutigen Tage wurde die innere Verbundenheit der beiden Frauen noch um einiges deutlicher. Marlenes Hand lag in der von Rebecca, und alleine diese Berührung reichte der jungen Gräfin um zu spüren, dass sie nicht allein war, dass Marlene immer für sie da sein würde, egal was passierte. In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie zwar ihren Vater verloren hatte, dass sie aber einen Weg finden würde, darüber hinwegzukommen, irgendwie, irgendwann. Es würde wehtun, sehr lange Zeit, aber sie war nicht allein. Dankbar drückte sie Marlenes Hand fester und sah ihre Freundin an. „Danke.“ „Wofür?“, fragte die Blonde leise verwundert. „Dafür, dass du mich liebst.“ Marlene sah sie irritiert an. „Ich weiß, es ist kitschig, aber ich empfinde es grade jetzt in diesem Augenblick. Es ist nicht selbstverständlich, einen Menschen an seiner Seite zu haben, der einen liebt, bedingungslos. Grade im Hinblick darauf wie schwer es für uns war unsere Beziehung zu leben. Ich will dir einfach nur sagen, wie dankbar ich bin dafür, dass es dich gibt in meinem Leben, dafür, dass du für mich da bist, auch wenn du jetzt sagen wirst, dass es selbstverständlich ist. Das ist es nicht. Sebastian hat Tanja, die ihn auffängt, wenn ich es auch nicht verstehen kann, Hagen hat Dana, ich habe dich. Aber Tristan…. Wer fängt ihn auf? Verstehst du was ich meine?“ Marlene nickte. „Ja, natürlich. Ich verstehe dich, aber natürlich ist es selbstverständlich, dass ich für dich da bin. Ich liebe dich, einzig und allein nur dich, schon vergessen? Mir tut Tristan auch leid, aber er sagte ausdrücklich, er wollte allein sein.“ Rebecca sah Marlene zweifelnd an. „Ja, das hat er gesagt, aber hat er es auch so gemeint?“ Marlene sah auf die Uhr. „Rebecca, was willst du machen? Es ist Mitternacht durch. Willst du zu ihm gehen?“ Ihre Freundin schüttelte den Kopf. Dann wurde sie blass. „Helena! Wir haben Helena vergessen Bescheid zu geben!“ Sie erhob sich ruckartig. „Hat – hat Sebastian das nicht gemacht?“ „Ich weiß es nicht. Vor allen Dingen wie sollen wir ihr das am Telefon beibringen.“ Rebecca fing schon wieder an zu weinen. „Sie wird sich die größten Vorwürfe machen, dass sie nach Kambodscha gegangen ist.“ „Sie konnte es doch nicht wissen“, sagte Marlene, und strich Rebecca beruhigend über den Rücken. „Komm, leg dich wieder hin. Wir finden für alles eine Lösung, ja?“ Rebecca zögerte, dann nickte sie. Langsam ließ sie sich von Marlene wieder in die Senkrechte befördern. Sie schmiegte sich in ihre Arme. Irgendwann schlief sie ein.
Bella raste mit ihrem Roller durch die dunkle Nacht. Irgendwo musste Andi sein, er hatte es ihr beschrieben. Sie sah nach links und rechts bis sie schließlich zur rechten Hand die Scheinwerfer eines Autos sah. Bella bremste abrupt und hielt den Roller am Straßenrand an. Sie stieg ab und rannte zu der Stelle unweit der Landstraße, wo sie Andis roten Mustang stehen sah. „Andi?“ fragte sie als sie das Fahrzeug erreichte. Sie riss die Fahrertür auf. Andi hing mehr schlecht als recht im Sitz und presste sich ein Stück seines Hemdes auf die blutende Stelle an der Stirn. „Andi!“, rief sie entsetzt. „Wieso hast du dir keinen Krankenwagen gerufen? Bist du irre? Das muss genäht werden!“ „Ich bin doch nicht aus Zucker“, gab er zurück. Bella wurde jetzt ärgerlich. Sie riss ihm den Fetzen vom Kopf. „Nicht aus Zucker? Hör auf den Helden zu spielen, das steht dir nicht. Wir fahren jetzt sofort ins Krankenhaus. Keine Widerrede.“ Ihr Tonfall beeindruckte Andi ungewollt. „Rutsch rüber, oder ist dir noch was anderes passiert außer der Kopfwunde und deinem angeknacksten Ego?“ Andi schüttelte den Kopf und bugsierte sich auf den Beifahrersitz. „Wie ist das überhaupt passiert?“, wollte Bella wissen. Noch ehe Andi antworten konnte, zog seine WG-Freundin die Nase kraus. „Sag mal, stinkst du so nach Bier? Was hast du denn bitte alles gebechert? Und wieso bist du betrunken Auto gefahren? Sag mal, spinnst du?“ Sie sah ihn aufgebracht an. Andi senkte den Kopf. „Man, weiß ich doch auch nicht“, sagte er und seine Stimme bekam wieder den Kieks nach oben. „Wie, das WEIßT du auch nicht? Wie besoffen kann man sein, dass man das nicht weiß?“ „Ich war im No Limits, und habe… Verdammt, ich habe ein paar Frauen angebaggert, und es lief nicht so richtig. Dann hab ich halt ein bisschen was getrunken“, gab Andi patzig zurück. Bella, die inzwischen den Sicherheitsgurt angelegt hatte und den Motor startete, sah ihn erzürnt an. „Das erklärt alles Fritzsche. Manchmal frag ich mir wirklich, wie es sein kann, dass du Chef einer Baufirma bist. Dein Gehirn ist teilweise wirklich auf Erbsengröße geschrumpft. Was setzt eigentlich immer aus bei dir?“ Andi war kurzzeitig unfähig etwas zu sagen, doch dann sprudelt es nur so aus ihm heraus: „Was da aussetzt? Das fragst du nicht im Ernst? Ich sag dir jetzt mal was: DU bist doch überhaupt der Grund dafür, dass es aussetzt!“ Er hatte sich jetzt in Rage geredet. Bella sah ihn verständnislos an. „Ich? Ich bin der Grund dafür? Jetzt kapier ich gar nichts mehr.“ „War klar! Du kapierst ja nie etwas“, schrie Andi und hielt sich immer noch den Kopf. Er verzog das Gesicht weil ihm der Schädel brummte. „WAS soll ich kapieren, Andi was? Hör mal, ich habe keine Lust für Spielchen. Tristans Vater ist heute gestorben, und ich hab weiß Gott besseres zu tun als mit Schuldzuweisungen anzuhören, weil du zu dusselig bist und besoffen Auto fährst.“ „Ludwig ist gestorben?“ Andis Stimme klang entsetzt. Er hatte den Grafen gemocht. „Ja, verdammt noch mal. Und jetzt will ich wissen, was du gemeint hast damit, dass ich der Grund bin.. für was auch immer.“ „Wie ist das mit Ludwig passiert?“ „Lenk nicht ab, Fritzsche. Darüber können wir reden wenn ich dich ins Krankenhaus gebracht habe. Ich will wissen, was das mit dem Grund auf sich hat. JETZT!“ Andi zögerte bis er es nicht mehr aushielt. Es war jetzt auch schon egal, alles egal. „Der Grund? Du willst den Grund wissen, warum ich mich mal wieder sinnlos betrunken habe? Der Grund ist: Ich liebe dich! Nur du kapierst es ja nicht. Jetzt weißt du es, und nun fahr mich bitte ins Krankenhaus. Mein bestes Hemd ist im Arsch.“
Bella streckte die Hand zum Zündschlüssel und stellte den Motor wieder ab.
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