Kapitel 9 (Teil 2)
Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte 5:10 Uhr an, als Carla am nächsten Morgen aufwachte. Sie ließ sich sofort wieder in ihr Kissen zurückfallen, als sie merkte, dass sie erst in einer Stunde aufstehen musste. Carla liebte die morgendliche Stille, wenn nichts zu hören war außer Hannas regelmäßige Atemzüge neben ihr. Sie vermittelten ihr ein Gefühl von Frieden und Geborgenheit, wie Carla es nie empfunden hatte. Gewöhnlich war ihr Leben vollgestopft mit Terminen, ein ewiges Hin- und Her zwischen beruflichen Verpflichtungen, öffentlichen Auftritten und der Versorgung Sophias, und Carla war es ein Rätsel, wie Hanna es fertig brachte, dass Carla so schnell Abstand von den alltäglichen Ärgernissen bekam, sobald sie sich sahen.
Hannas Vorliebe für spontane Unternehmungen stellte Carla vor manche Herausforderung, aber sie brachte eine Lebendigkeit und eine Lebenslust in ihren Alltag, wie sie es sich früher nie hätte träumen lassen. Von Kindheit an war ihr Leben von Zwängen bestimmt gewesen, von strategischen Entscheidungen und kühlen Kalkulationen. Und immer hatte das Vermögen und Ansehen der Familie, ihre Tradition und Stellung, im Mittelpunkt gestanden. Schon während ihrer Schwangerschaft hatte Carla sich vorgenommen, dass Sophia es anders haben sollte als sie, aber sie hatte nicht wirklich sagen können, was ihr selbst in ihrem Leben gefehlt hatte und wie sie Sophia vor einem derartigen Mangel bewahren konnte. Doch Hanna zeigte Carla jeden Tag, was sie damals gebraucht hätte. Wärme, Liebe, Geborgenheit, Vertrauen. Hannas hohe Emotionalität stand im krassen Gegensatz zu den unterkühlten Umgangsformen in Carlas Familie, und obwohl ihre Gefühlsschwankungen Carla zuweilen erschreckten, war sie fasziniert davon, wie intensiv Hanna alles um sich herum zu empfinden pflegte.
Von Carla war immer verlangt worden, dass ihr Kopf stets eingeschaltet blieb, und jetzt genoss sie es umso mehr, mit Hanna und Sophia unsinnige Dinge zu tun, die einfach nur Spaß machten. Ihr Leben war so anders geworden seit Hanna zurück war, so viel freudvoller und intensiver, dass sie sich ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen konnte. Die Angst, sie wieder zu verlieren, saß noch tief, und nichts beruhigte Carla nachts mehr, als Hanna schlafend neben sich zu wissen. Die wenigen Nächte des letzten Jahres, in denen sie an verschiedenen Orten sein mussten, hatten ihr Alpträume und Schlafschwierigkeiten beschert. Noch immer galt ihr erster Blick morgens Hanna, noch immer fürchtete sie, Hanna könnte nicht mehr da sein, wenn sie morgens aufwachte.
Carla drehte sich auf die Seite, mit dem Gesicht zu Hanna, und spielte mit einer dunklen Haarsträhne. Es war seltsam, mit ihr hier im Schloss zu sein, in ihrem alten Schlafzimmer. Nicht ein einziges Mal hatte sie Hanna früher auf das Schloss eingeladen, denn viel zu groß war ihre Furcht gewesen, dass ihr jemand ansehen könnte, wie sehr sie Hanna liebte. Und ausgerechnete hier würden sie heute ganz offiziell ihre Beziehung feiern, mit einer fulminanten Hochzeitsfeier, über die sich die Regenbogenpresse bereits seit Monaten das Maul zerriss. Die Spekulationen gingen von „Rosenstolz singt im Schlosspark“ über „Ellen DeGeneres und Portia de Rossie fliegen aus den USA ein“ bis zu „Anne Will überreicht die Trauringe“. Nichts davon war wahr, aber Carla ließ die Presse gewähren. Je mehr sich die Öffentlichkeit mit einer lesbischen Hochzeit beschäftigte, umso normaler würde es der Gesellschaft irgendwann erscheinen.
Hanna gab einen undefinierbaren Laut von sich und schmiegte sich enger an Carla. „Guten Morgen“, flüsterte Carla und küsste sie zärtlich.
„Noch ein paar Minuten“, murmelte Hanna und vergrub ihr Gesicht in Carlas Schulter.
„Wir haben noch Zeit“, sagte Carla sanft. „Aber lass mich heute nicht allein heiraten.“
Das wirkte. Hanna riss die Augen auf. „Oh Gott“, raunte sie, noch heiser vom Schlaf. „Heute ist unser Tag!“
Carla schlang die Arme um sie. „Sollte es mich kränken, dass dich das so in Panik versetzt?“, neckte sie.
„Warum nochmal wollten wir keine Hochzeit im kleinsten Kreise feiern?“, murmelte Hanna und versuchte, in Carlas Ohrläppchen zu beißen.
Carla entzog sich ihr lachend. „Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Idee war, ein Zeichen zu setzen?“
„Jaja, ich weiß“, grummelte Hanna in Carlas Hals. „Wer, wenn nicht wir. Wann, wenn nicht jetzt…“ Sie küsste Carlas Schlüsselbein. „Aber genau genommen war es Erikas Idee, deine Popularität auszunutzen“, stellte sie richtig. „Ich habe dem lediglich unvorsichtig zugestimmt…“
„Nun ja, eine politische Lesbe wirst du wohl nie werden“, lächelte Carla. „Aber ich erinnere mich genau, dass du Erika beigepflichtet hast, als sie sagte, es wäre schade, wenn wir meine Stellung in der Öffentlichkeit nicht nutzen würden.“
„Ich weiß ich gar nicht, was mich da geritten hat“, seufzte Hanna. „Was gäbe ich dafür, dich heute auf einer einsamen Insel zu heiraten.“
Carla küsste ihre Schläfe. „Hinterher werden wir froh sein, dass wir es so gemacht haben. Und ich bin mir sicher, dass uns viele lesbische Frauen dankbar dafür sein werden.“
„Das sollten sie auch, schließlich finde ich es nicht gerade toll, wenn wir uns vor der Kirche durch deine ganze Verehrerinnenschar schlängeln müssen. Wehe, dich küsst eine, bevor ich dich geküsst habe.“ Hanna verzog das Gesicht.
„Reicht es dir nicht, dass ich nur dich liebe?“ Carla nahm Hannas Hand und führte sie zu ihrem Herzen. „Ich wollte immer nur dich, und ich werde immer nur dich wollen.“
„Das ist gut zu wissen“, lächelte Hanna und beugte sich zu Carla für einen ausgedehnten Kuss.
Carla seufzte wohlig, als sie wieder Luft bekam. „Ich darf gar nicht daran denken, was gewesen wäre, wenn Nina mich damals nicht angerufen hätte“, überlegte sie sinnend.
„Ich wäre verloren gewesen“, sagte Hanna schlicht, während sie ihre Finger gedankenverloren über Carlas weiche Brüste wandern ließ, „wenn du nicht in ‘Ninas Ambrosia‘ aufgetaucht wärst.“ Sie stoppte die Reise ihrer Finger, als Carla scharf die Luft einzog, und ließ stattdessen ihren Mund folgen. „Ich habe zwar wie durch ein Wunder die Beerdigung überlebt, aber mein wahres Ambrosia bist du gewesen“, sagte sie zwischen zwei Küssen. „Du allein hast mich wieder zum Leben erweckt.“
„Es ist umgekehrt…“ Carla hielt den Atem an, als Hannas Lippen eine der beiden dunklen Knospen sanft umschlossen, während ihre Hand die andere Brust zärtlich liebkoste. „Ich war wie tot, bevor ich dich traf. Und ich war wie tot… ohne dich.“ Sie musste innehalten, als Hannas Berührungen intensiver wurden und eine Welle der Erregung in ihr auslösten. „Du bist… mein Ambrosia“, fügte sie stockend hinzu, und sie konnte Hannas Lächeln auf ihrer Haut spüren.
„Ich liebe dich so sehr, dass es weh tut“, flüsterte Hanna. „Und ich werde nie begreifen, warum du ausgerechnet mich gewählt hast.“
Carla stöhnte leise. Sie nahm Hannas freie Hand, küsste sie zärtlich und führte sie weiter nach unten. „Nicht du um der Liebe willen, sondern um deinetwillen die Liebe…“, zitierte sie leise den Trauspruch, den sie sich später in der Kirche sagen würden. „Und auch um meinetwillen…“
Hannas Augen füllten sich mit Tränen, als sie sich zu Carla herabbeugte. „Nicht weil ich lieben muss, sondern weil ich dich lieben muss…“, fuhr sie leise fort und tauchte ein in Carlas Mund, während sie ihre Hand zwischen Carlas Schenkel schob.
Carla schloss die Augen, als Hannas Finger weiter nach innen vordrangen und schließlich langsam durch ihre Feuchtigkeit glitten. Sie hatte Mühe, ihre Stimme zu finden. „Vielleicht, weil ich bin wie ich bin…“, vollendete sie ihr Zitat. „Aber sicher, weil du bist wie du bist.“
„Ich liebe dich, Carla.“ Hanna drückte ihr Gesicht in Carlas Halsmulde und bedeckte sie mit Küssen, während sie ihre Finger rhythmisch in Carla bewegte. Sie wusste, was Carla ersehnte und brauchte, aber sie würde warten, bis sie es ihr ihr geben würde.
„Ich liebe dich auch…“ Carla atmete schwer. Sie glühte vor Erregung, und ihre Hüften drängten sich gegen Hannas Hand. „Hanna…“
„Ich weiß“, flüsterte Hanna.
Carla stöhnte, als sie spürte, wie ein Schwall von Feuchtigkeit sich über Hannas Hand ergoss.
„Mein Ambrosia“, flüsterte Hanna lächelnd.
„Ja…“ Carla sah sie mit schweren Augenlidern an.
„Darf ich kosten?“
„Ich sterbe auf der Stelle… wenn du es nicht tust.“ Carla seufzte, als sie Hannas Kopf zwischen ihren Beinen spürte. Sie hob ihre Schenkel, um ihr Platz zu verschaffen, und ihre Hände krallten sich in Hannas Haarschopf.
„Oh“, hörte sie Hanna murmeln. „Es ist angerichtet…“
* * *
Nicht weit von Carla und Hanna, in einem anderen Flügel des Schlosses, lag ein zweites Frauenpaar eng umschlungen im Bett und mochte noch nicht aufstehen. Erika hatte sich in Ninas Arm gekuschelt und lauschte einer Geschichte, die diese erzählte. Sie liebte Ninas Geschichten und war immer wieder erstaunt über deren unerschöpflichen Fundus. Nach all den Jahren überraschte Nina sie immer noch mit Erzählungen, die sie noch nie gehört hatte. Manchmal waren es Märchen, manchmal Fabeln oder Gleichnisse, zum Teil aber auch Dinge, die Nina oder jemand anderes wirklich erlebt hatte. Nina besaß eine großartige Begabung zu erzählen, und wenn Erika ihr lauschte, vergaß sie alles um sich herum. Es war die perfekte Entspannung vor einem anstrengenden Tag im Büro oder am Abend nach einem vollbrachten Tageswerk.
„… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, schloss Nina ihre Erzählung ab und küsste Erikas Stirn. „Guten Morgen, meine Schöne.“
Erika murmelte etwas Unverständliches. „Wie kannst du so früh am Tag schon so gute Laune haben?“, beschwerte sie sich. „Ich mag keinen Zeh aus dem Bett halten, wenn ich nur daran denke, was heute alles auf uns zukommt.“
Nina lachte. „Ich habe das Glück, dass ich heute etwas machen darf, was ich oft und gern tue, während du etwas machen musst, was du noch nie getan hast.“
„Das kannst du laut sagen.“ Erika rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Ich hoffe, ich enttäusche das Brautpaar nicht.“
„Ich bin mir sicher, dass du deine Sache großartig machen wirst“, sagte Nina voller Zuversicht. „Vermutlich wirst du dich gar nicht retten können vor Angeboten von Heiratswilligen, die dich ebenfalls als Zeremonienmeisterin engagieren wollen.“
„Nein danke, ich mache lieber zehn Werbekampagnen als eine Hochzeit“, maulte Erika. „Ich hoffe, Carla und Hanna können ermessen, was ich hier für sie tue. Es ist ein echter Freundschaftsdienst.“
„Ich bin mir sicher, dass sie das können“, lächelte Nina und strich Erika zärtlich durch das Haar. „Auch wenn die beiden genauso gut wissen wie ich, dass es einen Teil in dir gibt, dem dieser Tag so richtig Spaß machen wird.“
„Einen sehr kleinen Teil“, protestierte Erika, aber sie wusste, dass sie durchschaut war. „Oder vielleicht einen kleinen.“
„Sagen wir, einen mittelgroßen“, korrigierte Nina.
„Na gut, einen mittelgroßen“, wiederholte Erika ergeben. „Bekomme ich jetzt noch einen Kuss?“
„Aber klar.“
Erika lehnte sich zu Nina und holte sich einen Kuss ab, der dieser den Atem raubte.
„Hui, du bist wacher, als ich dachte.“ Nina rang nach Luft. „Ich hoffe, das heißt nicht, dass du gleich diesen schönen Ort hier verlassen wirst.“
„Keine Sorge.“ Erika zog Nina in ihre Arme zurück. „So wach bin ich nun auch wieder nicht. Und wann bietet sich einem schon die Gelegenheit, in einem solchen Gemach zu nächtigen.“ Sie wies auf die sündhaft teure Einrichtung des Zimmers. „Ganz zu schweigen von der Qualität des Bettes.“
„Ist es komisch für dich, wieder in Düsseldorf zu sein?“, wollte Nina wissen.
„Ein bisschen wehmütig macht es schon.“ Erika lächelte. „Als wir vom Flughafen kamen, war mir alles so vertraut.“
„Bereust du es, nach Griechenland gezogen zu sein?“
Erika entging der bange Unterton in Ninas Frage nicht. „Es gab noch keinen einzigen Tag, an dem ich das bereut habe“, sagte sie nachdrücklich. „Daran wird auch unser Aufenthalt hier nichts ändern.“
„Das ist schön.“ Nina atmete erleichtert auf.
Erika lehnte sich etwas zurück und sah Nina lange an. „Zweifelst du daran, dass ich glücklich mit dir bin?“, fragte sie ernst.
Nina wich ihrem Blick aus. „Naja, manchmal frage ich mich schon, ob ich dir genug geben kann“, gestand sie. „Du hast deine Kinder in Deutschland und deine Heimat zurückgelassen, du warst früher mit Männern zusammen…“
Erika legte ihre Hand auf Ninas Mund. „Das ist doch Unsinn“, unterbrach sie Nina. „Natürlich vermisse ich Milli und Steffi, aber die würde ich auch nicht öfter sehen, wenn ich noch in Deutschland leben würde.“ Sie küsste Ninas Hände. „Mir fehlt nichts, Nina. Deine Nähe ist es, die mich glücklich macht.“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich.“ Erika war erschrocken über Ninas Gedankengänge. „Nun sind wir schon so lange zusammen, und du denkst immer noch, du kannst mich nicht halten?“
Nina errötete. „Wundert dich das?“
„Ja, das wundert mich.“ Erika runzelte die Stirn. „Es hat viele Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, was ich dir damals angetan habe. Und immer wieder angetan habe. Aber was auch geschehen ist, ich habe dich immer geliebt. Das weißt du.“
„Das hat mir damals nicht viel genützt.“
„Das mag sein, aber bin ich nicht immer wieder zu dir zurückgekehrt? Fünf Jahre lang ist in London kein Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht habe und an dem ich dich nicht vermisst habe. Meinst du, ich begehe diesen Fehler noch einmal?“
„Naja, eigentlich weiß ich das ja auch.“ Nina starrte auf ihre Bettdecke. „Und du sagst mir ja auch oft, dass du glücklich bist. Aber an manchen Tagen bekomme ich halt Angst, dass…“
„Dass was?“
„Dass du doch etwas anderes möchtest.“ Nina hielt inne, als Erika sich umdrehte und zum Nachttisch griff. „Was ist?“, fragte sie verwirrt.
„Das wirst du gleich sehen.“ Erika öffnete die kleine Schranktür des Nachttisches und holte ihre Schmuckschatulle heraus. „Eigentlich hatte ich das hier für Kreta vorgesehen, aber vielleicht ist Düsseldorf genau der richtige Ort dafür.“
„Wofür? Wovon redest du?“ Nina sah sie verständnislos an.
„Ich liebe dich, und ich möchte nichts und niemand anderen als dich, Nina“, sagte Erika, während sie eine blaue Schachtel aus ihrer Schatulle nahm. „Du hast mir die glücklichsten Jahre meines Lebens beschert, und ich hoffe, dass noch viele weitere folgen werden, sofern du dazu bereit bist.“ Nina sah mit großen Augen zu, wie Erika die Schachtel öffnete und einen Ring herausnahm. „Es fehlt leider ein wenig der würdige Rahmen“, merkte Erika an, als sie Nina den Ring reichte. „Aber ungeachtet dessen möchte ich dich fragen, ob du dir vorstellen kannst, mit mir den Rest deines Lebens zu verbringen. Und…“ Sie holte tief Luft. „Und ob du mich heiraten würdest.“
Nina starrte auf den Ring und dann wieder zu Erika. „Wann hast du…“
„Das ist doch egal“, unterbrach Erika sie ungeduldig. „Es ist von langer Hand vorbereitet. Also sagst du ja oder nein?“
Nina wandte ihren Blick wieder zu dem Ring, aber sagte keinen Ton.
Erika, die allmählich Angst bekam, doch zu mutig vorgeprescht zu sein, beobachtete Nina beunruhigt. „Und?“, fragte sie noch einmal.
„Ja!“, platzte es aus Nina heraus. „Ja! Ja! Ja!“ Sie lehnte sich zu Erika und umarmte sie stürmisch. „Ja, ich will!“, sagte sie noch einmal und küsste sie leidenschaftlich.
„Dann muss ich dir jetzt diesen Ring aufsetzen“, erklärte Erika, die vor lauter Rührung nichts mehr sehen konnte. Nachdem sie sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte, ergriff sie Ninas Hand und streifte ihr den Ring über. Es war ein sehr schöner, aber schlichter Ring, damit er Nina bei ihrer Arbeit im Restaurant nicht behinderte.
„Er ist wunderschön.“ Nina strahlte und musste sich ebenfalls die Augen wischen. „Hast du auch einen für dich?“
„Es ist für alles gesorgt“, versicherte Erika und hielt Nina die blaue Schachtel hin.
Ganz vorsichtig, so als wäre er besonders zerbrechlich, nahm Nina den Ring heraus und streifte ihn über Erikas linken Ringfinger. „Ich liebe dich, Erika“, sagte sie und ihre Stimme bebte ein wenig dabei. „Du machst mich zum glücklichsten Menschen der Welt.“
„Das geht mir genauso.“ Erika küsste den Ring auf Ninas Finger. „Aber wir sollten es heute noch nicht verkünden, damit die volle Aufmerksamkeit bei Hanna und Carla bleibt.“
Nina sah sie zweifelnd an. „Die beiden wissen doch sofort Bescheid, wenn sie die Ringe an unseren Händen sehen. So etwas fällt denen gleich auf.“
„Naja, die beiden dürfen es auch ruhig wissen“, lächelte Erika. „Hauptsache, es macht nicht die Runde.“
„Ich kann es kaum glauben, ich bin tatsächlich verlobt.“ Nina betrachtete verzückt ihre Hand und hielt sie neben Erikas. „Denkst du dasselbe wie ich?“
Erika nickte. „Du möchtest Hanna und Carla fragen, ob sie unsere Trauzeuginnen sein würden.“
„Wäre das für dich okay?“
„Natürlich. Ich hatte dieselbe Idee.“
„Dann steht unserer Ehe ja nichts mehr im Wege.“ Nina besiegelte das Vorhaben mit einem langen Kuss. „Die beiden werden sich für uns freuen.“
„Ja, so wie wir uns für sie gefreut haben.“ Erika schreckte hoch, als ihr Blick auf den Wecker fiel. „Oh je“, stöhnte sie. „In einer Stunde kommt die Presse.“
„Schon wieder?“
„Ja klar. Die werden uns den ganzen Tag verfolgen.“
„Reicht es denen nicht, vor dem Standesamt herumzulungern?“
„Die Privaträume der Gräfin sind natürlich spannender.“
„Wenn es denn ihre Privaträume wären.“ Nina verdrehte die Augen. „Sie wohnt hier doch noch nicht einmal mehr.“
„Das ist egal. Schloss ist Schloss.“ Erika schwang ihre Beine aus dem Bett. „Ich fürchte, es ist vorbei mit der Gemütlichkeit. Auf in den Kampf.“
„Fürchte dich nicht, mein Herz.“ Nina schlang von hinten ihre Arme um Erika. „Deine Verlobte ist bei dir und passt auf dich auf.“
„Das ist auch gut so.“ Erika drehte ihren Kopf, um Nina einen Kuss zu geben. „Ich brauche nur auf diesen Ring zu schauen und werde durch den Tag schweben.“
* * *
Hanna zupfte nervös an ihrem olivgrünen Kostüm, als sie zum vierten Mal in den Spiegel schaute. Ihr war zwar klar, dass sie nicht anders aussehen konnte, als die letzten drei Male, als sie es gecheckt hatte, aber dieser Tag erschien ihr dermaßen unwirklich, dass sie ihrem Spiegelbild nicht traute. Was, wenn sie sich nur einbildete, dass der Blazer gut saß und ihre Haare in Wirklichkeit wirr zu Berge standen? Carla kramte nebenan lautstark im Spiegelschrank und fand nicht den richtigen Lippenstift. „Er ist sicher in deinem silbernen Etui“, rief Hanna und warf ihrem Spiegelbild einen misstrauischen Blick zu.
„Du bist ein Engel“, rief Carla von nebenan und tauchte mit dem Lippenstift in der Tür auf. Sie trug einen schneeweißen Armani Anzug mit einem weit ausgeschnittenen, rosa Seidenshirt darunter, und Hanna fand, dass sie absolut umwerfend aussah. „Und in Kürze sogar mein Engel“, fügte Carla triumphierend hinzu und küsste Hanna auf die Wange.
„Wenn ich gewusst hätte, dass ich jetzt in deinen Besitzstand übergehe, hätte ich mir die Sache nochmal überlegt.“ Hanna nahm unschlüssig ihre Haarbürste in die Hand und fragte sich, ob ein leichter Strich durch ihre Frisur die Sache verbessern oder in einer Katastrophe enden würde. „Kann ich noch einen Rückzieher machen?“
„So sind wir von Lahnsteins nun mal.“ Carla nahm Hanna die Sicht, als sie sich direkt vor den Spiegel stellte, um ihren Lippenstift aufzutragen. „Wir besitzen gern, und wir akzeptieren keine Rückzieher.“
„Wir Novaks besitzen auch gern, und dies ist heute mein Spiegel.“ Hanna drängelte Carla zur Seite. „Geh ins Bad und mach dich dort schick.“
Carla trottete murrend ins Bad zurück. „Ich fühle mich aber so allein, wenn du nicht um mich herum bist“, klagte sie.
Hanna wollte gerade antworten, da wurden sie von einem Klopfen unterbrochen. „Die Presse ist schon unten“, informierte sie ein Dienstmädchen. „Was soll ich denen sagen?“
„Auch das noch.“ Carla fuhr sich nervös durch ihre Locken. „Ich bin in fünf Minuten unten. Setzen Sie sie solange in die Bibliothek“, wies sie das Dienstmädchen an und presste dann ein Taschentuch zwischen ihre roten Lippen. „Soll ich das ohne dich machen?“, fragte sie in Hannas Richtung.
„Ich dachte, du magst es nicht, wenn ich dich heute allein lasse.“ Hanna stand schon neben ihr. „Wir machen das zusammen.“
Diese Äußerung brachte ihr ein strahlendes Lächeln ein. „Ich liebe dich“, sagte Carla und warf ihr eine Kusshand zu. „Du siehst übrigens toll aus.“
„Du auch“, versicherte Hanna. „Ich glaube, ich werde dich doch heiraten.“
„Hat sich deine Schwester schon gemeldet?“, fragte Carla, als sie gemeinsam die Treppe hinunterstiegen.
„Ja, sie sind gut angekommen und ruhen sich in ihrem Hotel aus. Von dort aus werden Hagen und sie direkt zum Standesamt fahren.“ Hanna war froh, dass die Treppe über ein Geländer verfügte, denn heute traute sie ihrem Gleichgewichtssinn nicht über den Weg. „Was ist mit Leonard?“
„Den habe ich heute schon gesehen. Vermutlich hilft er draußen beim Aufbau der Bühne.“
„Und Stella?“
„Ihr Flieger hat Verspätung, und sie schafft es nicht zum Standesamtstermin. Sie kommt erst am Nachmittag zur kirchlichen Zeremonie dazu.“
Hanna sah auf ihre Füße. „Ich habe ein bisschen Angst, sie zu treffen“, gestand sie.
Carla legte ihren Arm um Hanna. „Ich bin mir sicher, dass ihr euch gut verstehen werdet. Ihr habt doch schon ein paarmal telefoniert, da ging es doch ganz gut.“
„Immerhin hast du sie noch geliebt, als du dich für mich entschieden hast“, sagte Hanna seufzend.
„Ja, ich habe sie noch geliebt, aber ich habe sie anders geliebt als dich. Das kannst du nicht vergleichen.“ Carla forschte besorgt in Hannas Gesicht. „Wenn ich gewusst hätte, dass es dir Schwierigkeiten macht, hätte ich nicht vorgeschlagen, sie einzuladen.“
„Nein, nein. Das ist schon okay“, beeilte sich Hanna zu versichern. „Sie ist ein wichtiger Mensch in deinem Leben, und deswegen ist es auch mir wichtig, dass sie dabei ist.“
„Außerdem wird sie ja ihre neue Freundin mitbringen.“ Carla nahm Hannas Hand, als sie durch die Flügeltür in die Bibliothek traten. „Guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange warten“, sprach sie in die Runde, und Hanna war wie immer erstaunt, wie die Frau an ihrer Seite von einer Sekunde auf die andere eine perfekte Fassade aufsetzen konnte.
* * *
Erika stand mit Isabell vor dem Ablaufplan des Tages und ging die letzten Details durch. „Standesamt 11:30 Uhr, Empfang und Mittagessen im Rheinturmrestaurant ab 12:30 Uhr, Fotografentermin für das Hochzeitspaar um 14 Uhr, kirchlicher Segen mit allen Gästen um 15:30 Uhr, Empfang der Gäste im Schloss ab 17:30 Uhr, Abendessen um 18 Uhr, Live-Band um 20 Uhr, Feuerwerk um 23 Uhr“ zählte sie auf. „Ist das Fleisch für das Abendessen schon geliefert?“
„Nina sagt, es wird in einer halben Stunde gebracht.“ Isabell schaute auf ihre Armbanduhr. „Bis zum Standesamtstermin wird sie es nicht schaffen, aber in der Kirche wird sie ja auf jeden Fall dabei sein. Außerdem gibt es hier genug Angestellte, die noch Arbeit übernehmen können.“
„Wie schade.“ Erika seufzte. Sie hätte Nina so gern neben sich gehabt bei der standesamtlichen Verpartnerung von Carla und Hanna. Aber wenigstens würden sie zusammen in der Kirche sitzen können. Erika griff nach ihrem Handy, um Lars anzurufen, der draußen im Garten half. „Kannst du sagen, wann die Pyrotechniker im Schlossgarten fertig sind, Lars?“
Die Antwort von Lars war kaum zu verstehen, da um ihn herum noch gebaut und gehämmert wurde. „Das kann sich noch zwei Stunden hinziehen“, brüllte er in sein Handy. „Sie haben nicht gewusst, dass hier auch die Bühne für die Live-Musik steht, und nun müssen sie umdisponieren.“
„Ist Florian auch bei dir?“, brüllte Erika zurück.
„Ja, er ist extra gekommen, um noch mitanzupacken, aber wir können hier nicht viel tun.“
„Dann solltet ihr beiden langsam damit beginnen, euch in Schale zu werfen“, rief Erika ins Handy. „Wir müssen in einer Stunde beim Standesamt sein.“
„Das gilt wohl auch für mich.“ Isabell sah an ihrer Küchenschürze herunter. „Ich fürchte, Nina muss sich um den Rest des Buffets allein kümmern.“
„Sind denn die Kinder schon umgezogen?“ Erika verstaute ihr Handy wieder in ihrer Handtasche.
„Karolin ja, Sophia nein.“
„Bist du dafür zuständig?“
„Eigentlich nicht, aber ich fürchte, dass es an mir hängen bleibt“, seufzte Isabell. „Ursprünglich hatte Elisabeth das übernommen, aber sie ist vollauf damit beschäftigt, die angereisten Familienmitglieder zu begrüßen.“ Sie verdrehte die Augen. „Du glaubst nicht, was für Nerven es mich gekostet hat, Karolin zu überreden, ihr Kleid anzuziehen. Blumenmädchen müssen nun mal Kleider anziehen.“
„Na, wenn Karolin ihr Kleid schon anhat, wird es kein Problem sein, dass Sophia ihres auch anzieht“, versuchte Erika, Isabell Mut zu machen. „Die beiden sind doch wie Pech und Schwefel.“
„Auf jeden Fall haben sie sich auf ihre Rolle gut vorbereitet“, lachte Isabell. „Seit drei Tagen streuen sie alles in der Gegend herum, was nicht niet- und nagelfest ist.“
* * *
Hanna war während der standesamtlichen Zeremonie so aufgeregt, dass sie aus Versehen fast mit „Isabelle Jones“ unterschrieben hätte, aber zum Glück fiel ihr der Fauxpas gleich nach den ersten Buchstaben auf und sie konnte den Namen unauffällig korrigieren. Ansonsten ging die Verpartnerung erstaunlich schnell und ohne Komplikationen über die Bühne. Hanna hatte erwartet, dass die Ansprache des Standesbeamten ein bewegender Akt sein würde, aber der Mann schien so gestresst von der ganzen Situation und der Presse draußen vor der Tür, dass er seinen Text herunterratterte, als sei der Teufel hinter ihm her. Carla hatte während seiner Rede mehrfach schmunzelnd zu Hanna herübergesehen, aber diese hatte nicht zurückgeschaut, weil sie befürchtete, sofort losprusten zu müssen, wenn sie in Carlas amüsiertes Gesicht sehen würde.
Links und rechts von Carla und Hanna saßen Isabell und Lars, die offenbar beide angestrengt versuchten, dem Tempo des Standesbeamten zu folgen. Viel hätte nicht gefehlt, und Hanna hätte mit Lars hier gesessen, um ihm das Ja-Wort zu geben, schoss es Hanna durch den Kopf. Wenn sie Carla nicht getroffen hätte, würde sie vielleicht jetzt mit Lars in irgendeiner langweiligen Eigentumswohnung wohnen und immer noch die Tische im No Limits abwischen. Was für ein Glück, dass das Schicksal anderes mit ihr vorgehabt hatte.
Hinter Lars, in der ersten Bankreihe, saßen Sylvia, Hagen und Elisabeth, die Sophia auf dem Schoß hatte, und dann kamen Ludwig, Leonard, Ansgar, Nico und ihr Mann Philipp. Florian hatte mit Karolin in der zweiten Reihe Platz genommen, zusammen mit seinem Vater Arno, Erika und Lars‘ Schwester Charlie, die schon nach zehn Minuten fünf Taschentücher verbraucht hatte. Auf den hinteren Bänken folgten weitere Bekannte, Freunde und diverse Verwandte von Carla, von denen Hanna größtenteils noch nie etwas gehört hatte.
Als der Standesbeamte seine Ansprache beendet hatte, ging er ohne Übergang zur Trauformel über. „Ich frage Sie, Frau Carla Sophia Gräfin von Lahnstein, ist es Ihr freier Wille, mit der hier anwesenden Frau Hanna Novak eine Lebenspartnerschaft einzugehen, so beantworten Sie diese Frage mit einem Ja“, ratterte der Beamte und blickte dabei Carla eindringlich an.
Für einen Moment stand die Zeit still, als Carla stumm zu Hanna hinübersah. Endlich, sagten ihre Augen, Endlich sind wir da, wo wir schon vor langer Zeit hätten sein sollen, und ihre Stimme sprach ein festes, klares „Ja.“
„Nun frage ich Sie, Frau Hanna Novak“, fuhr der Beamte unbeeindruckt fort. „Ist es Ihr freier Wille, mit der hier anwesenden Frau Carla Sophia Gräfin von Lahnstein eine Lebenspartnerschaft einzugehen, so beantworten Sie diese Frage mit einem Ja.“
„Ja“, fiel Hanna dem Standesbeamten ins Wort und versank tief in Carlas blauen Augen. Es war das erste Mal, dass sie Carla in einer öffentlichen Situation weinen sah.
„Dann erkläre ich Sie hiermit rechtmäßig zu Frau und Frau“, leierte der Standesbeamte, doch seine Worte gingen im Applaus und Gejohle der Gäste unter. Hanna schlang ihre Arme um Carla und küsste ihr die Tränen von den Wangen. „Wir haben’s gleich geschafft“, raunte sie ihr ins Ohr. „Nur noch ein paar Unterschriften.“
„Noch sind wir nicht fertig, ich muss Sie alle bitten, wieder Platz zu nehmen“, rügte der Standesbeamte, und nach wenigen Sekunden war wieder Ruhe im Saal. „Es ist meine Pflicht, Sie noch auf einige Dinge hinzuweisen…“
Der Rest der Zeremonie ging für Hanna im Nebel unter. Sie war Carlas rechtmäßige Frau, und keine Macht der Welt würde dies mehr ändern können. Als alle Unterschriften getätigt waren und sie Hand in Hand aus dem Standesamt traten, musste Hanna unwillkürlich an die ersten verstohlenen Küsse zwischen ihnen denken, an die kleinen Lügen und Täuschungen, um ihre Beziehung geheim zu halten, an ihren Streit, als Hanna wenigstens Isabell davon erzählen wollte, und an die Abfuhr von Carlas Vater, als Hanna Carla nach ihrer Entführung besuchen wollte. Und nun standen sie hier, Seite an Seite, und ihr Foto würde morgen in allen Zeitungen zu sehen sein.
„Das hält sich ja noch in Grenzen“, murmelte Hanna und wies mit dem Kopf in Richtung Pressefotografen.
„Oh, das ist nur die Vorhut“, prophezeite Carla. „Die meisten warten vor der Kirche. Man will uns in Brautkleidern sehen. Wo ist unsere einsame Insel, wenn man sie mal braucht“, schimpfte sie leise, während sie mit strahlendem Lächeln für die Fotografen posierten.
„Wenn ich Sie bitten dürfte, meine Damen…“ Hanna hatte gar nicht gemerkt, wann der Fahrer von Ludwigs prachtvoll geschmückter Limousine zu ihnen getreten war. „Der Wagen steht gleich um die Ecke“, informierte er sie.
Die Zeit zwischen der standesamtlichen und der kirchlichen Zeremonie war die unerfreulichste des ganzen Tages, denn Hanna und Carla mussten von einem Termin zum nächsten hetzen. Für das Mittagessen im Rheinturmrestaurant blieb ihnen nicht einmal eine Stunde (nicht, dass Hanna einen Bissen herunterbekommen hätte), da sie vor dem anstehenden Fotografentermin nochmals zum Schloss zurückmussten, um sich umzuziehen. Außerdem sollte ein Teil der Fotos im Schlosspark gemacht werden. Hanna fand, dass Carla in ihrem Brautkleid wie eine junge Königin aussah, und sie konnte sich gar nicht sattsehen an dem bezaubernden Anblick ihrer Frau. Sie war um jedes Foto froh, bei dem der Fotograf sie aufforderte, Carla anzusehen anstatt zu ihm in die Kamera zu blicken. Leider verlangte er dies viel zu selten.
Bei den letzten Fotos klopfte der Butler Justus schon demonstrativ auf seine Uhr. Der Termin musste abrupt beendet werden, und der Fotograf hatte seine Kamera noch nicht wieder verstaut, da saßen Hanna und Carla schon im Auto, um rechtzeitig in der Kirche zu sein. Diesmal wurden sie in zwei getrennten Limousinen zur Kirche gebracht, wie es der gute Ton verlangte. Hanna war ein bisschen bang, so ganz allein ohne Carla. Von weitem waren schon die Glocken zu hören, und als die spätgothische Kirche in ihr Blickfeld kam, fühlte sie sich, als würde sie in wenigen Sekunden einem unersättlichen Monster zum Fraß vorgeworfen.
Carla hatte in der Tat Recht behalten. Der Rummel vor der Kirche war so groß, dass Teile des Geländes abgesperrt worden waren, damit die Bräute und Gäste überhaupt bis zur Kirche vordringen konnten. Sogar die Polizei und zwei Rettungswagen waren angerückt, um bei Bedarf schnell eingreifen zu können. Hanna sollte die Kirche über den Hintereingang betreten, doch auch hier hatten sich längst Schaulustige eingefunden. Etwas abseits, auf dem Parkplatz der Kirche, standen alternativ gekleideten Frauen in Gruppen zusammen, die zum Teil Transparente hochhielten, auf denen Forderungen wie „Gleiches Recht für alle!“ oder „Gebt uns die Homo-Ehe!“ standen. Einige hatten offenbar eine längere Anreise gehabt, denn sie versuchten, vor ihrem VW Bus einen Grill anzuschmeißen und legten sich dabei mit den Polizisten an, die dies rigoros zu unterbinden versuchten. Hanna rechnete schon mit einer ernsten Auseinandersetzung, doch als die Frauen sie bemerkten, ließen sie alles stehen und liegen und winkten und jubelten ihr entgegen, als wäre sie ein Staatsoberhaupt. „Danke, Hanna und Carla!“, riefen ein paar von ihnen, als sie an ihnen vorbeiging. „Viel Glück, Hanna!“, rief jemand anderes, und irgendjemand warf ihr eine rote Rose vor die Füße.
Ausgerechnet dieser Moment war es, als Hanna zum ersten Mal an diesem Tag das sichere Gefühl überkam, dass die Entscheidung für eine öffentliche Trauung richtig gewesen war. Hätte sie Lars geheiratet, hätte sie die volle Unterstützung des Staates und der Kirche gehabt. Jetzt aber, da sie mit Carla ihr Leben verbringen wollte, musste sie sich mit halbherzigen Kompromissen zufrieden geben. Ihr lag wenig daran, ihren Hochzeitstag zu einer politischen Veranstaltung verkommen zu lassen, aber wenn lesbische Frauen diesen Tag nutzten, um auf diese Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen, sollte ihr das mehr als recht sein.
Hanna bückte sich und hob, unter allgemeinem Gejohle, die Rose vor ihren Füßen auf. Sie winkte damit in die applaudierende Menge und schritt dann so schnell sie ihre hochhackigen Schuhe trugen zum Hintereingang der Kirche, wo Sylvia schon auf sie wartete. „Du siehst phantastisch aus“, empfing sie Sylvia und lächelte dabei so gerührt, dass Hanna sich ein weiteres Mal fragte, warum sie eigentlich so viele Jahre damit verbracht hatte, sich mit ihrer Schwester zu bekriegen. Sylvia konnte gehässig und kalt wie ein Eisblock sein und wenn es um Geld und Macht ging, war mit ihr nicht zu spaßen. Aber gerade in jüngerer Zeit hatte Sylvia mehrfach unter Beweis gestellt, dass man sich auf sie verlassen konnte. Hanna war diese Entwicklung nicht entgangen und sie hatte sie honoriert, indem sie ihre Schwester gefragt hatte, ob diese sie zum Altar führen würde. Sylvia hatte überrascht, aber erfreut zugesagt. Und nun stand sie vor Hanna in einem gelben Kostüm und einer Orchidee im Knopfloch, und ihr Lächeln machte sie um Jahre jünger.
„Ist Carla schon hier?“, fragte Hanna, als sie mit Sylvia durch die schwere Holztür trat.
„Nein, aber sie kommt sicher jeden Moment.“ Sylvias letzte Worte gingen in lautem Jubel und Applaus unter, der von draußen bis ins Innere der Kirche drang. „Das wird sie sein“, kommentierte Sylvia trocken und führte Hanna in einen Nebenraum, in dem der Pastor bereits auf sie wartete. Gemeinsam sprachen sie ein letztes Mal die Details der Zeremonie durch, und dann war es auch schon so weit, dass die Orgel einsetzte und sich alle auf ihre Plätze begeben mussten.
„Wir können noch nicht rein, die Presse ist noch da“, verkündete Sylvia, die einen Blick ins Kirchenschiff geworfen hatte. „Die Fotografen haben offensichtlich irgendjemanden entdeckt. Sie stehen alle auf einem Fleck und lassen sich auch vom Küster nicht abhalten.“
Also musste die Orgel noch ein paar Variationen spielen, bis endlich der letzte Fotograf vertrieben war, und das Haupttor der Kirche geschlossen werden konnte. Die Orgel verstummte nach einem dramatischen Finale, und eine erwartungsvolle Stille trat ein. Da plötzlich erschallte eine Trompete von der Empore, die nicht etwa eine Kantate von Bach spielte sondern Kajagoogoos „Too shy“. Hanna sackten die Beine weg bei den ersten Tönen des Liedes, doch Sylvia hatte sie fest eingehakt und stand wie ein Fels in der Brandung neben ihr am Seiteneingang zum Kirchenschiff. Der Klang der Trompete war das Zeichen für Carla und Leonard, von der gegenüberliegenden Seite aus zum Gang des Mittelschiffs zu schreiten, während Hanna und Sylvia noch auf das Zeichen des Küsters warten mussten, bis sie den beiden folgen durften.
Die Kirche platzte aus allen Nähten. Bis auf den letzten Platz waren die Bänke gefüllt. Alle drehten sich zu ihnen um, als sie den Mittelgang betraten, und Hanna fürchtete, sie würde jeden Moment über ihre eigenen Füße stolpern. Ihre eleganten Schuhe und das bis zum Boden reichende Brautkleid erhöhten nicht gerade die Trittsicherheit. Nach einigen Sekunden hatte sie sich jedoch wieder gefangen und wagte einen Blick in die Gästeschar. Jetzt wurde ihr auch klar, woran die Fotografen sich so lange aufgehalten hatten. In einer der hinteren Bänke saßen Hella, Anne und Maren mit ihren jeweiligen Partnerinnen und lächelten Hanna freundlich zu. Hella hob grüßend den Arm und machte ein Thumbs-Up-Zeichen in Hannas Richtung. Dieser schoss auf der Stelle die Röte ins Gesicht, und sie heftete ihren Blick wieder auf Carla und Leonard, die jetzt am Altar angekommen waren.
Hanna brauchte Carlas Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass ihr die Musik auf der Empore genauso nahe ging wie ihr. Sie hatten den Programmpunkt gemeinsam ausgesucht, doch die Trompete jetzt tatsächlich spielen zu hören, umringt von all den Menschen in einer festlich geschmückten Kirche mit Carla im Brautkleid bei ihr, das war ein unbeschreibliches Gefühl. Vermutlich war jedem in der Kirche klar, dass dieses Lied eine besondere Bedeutung für Carla und Hanna hatte, aber nur ihre engsten Vertrauten wussten, dass sie schon vor neun Jahren ein Paar gewesen waren, und dass ihr Zusammenkommen in Griechenland eine Wiedervereinigung gewesen war. Doch selbst die engsten Vertrauten wussten nicht, dass dieses Lied dafür gesorgt hatte, dass Carla nach einem ausgelassenen Abend zu Hanna nach Hause gekommen war, und dass Hanna an diesem Abend zum ersten Mal aufgegeben hatte, gegen etwas in sich anzukämpfen, wogegen sie machtlos war.
„Liebe Gemeinde, liebe Verwandte, liebe Freundinnen und Freunde des Brautpaares“, begann der Pastor mit sonorer Stimme, sobald Sylvia und Leonard sich gesetzt hatten und Hanna zu Carla an den Altar getreten war. „Wir haben uns hier versammelt, weil zwei Menschen, die sich lieben, ihre Liebe vor Gott segnen lassen möchten. Ich bitte Sie alle, während des Gottesdienstes nicht zu fotografieren und auch keine Videoaufnahmen zu machen.“
Der Pastor sagte noch diverse andere Dinge zum Ablauf des Gottesdienstes, deren Inhalt sämtlich an Hanna vorbei ging. Sie konnte nur daran denken, dass Carla neben ihr stand, als ihre Frau, und wie wunderschön sie war, und dass sich alles anfühlte, als sei es nur ein schöner Traum, unwirklich wie ein Märchen oder wie ein Film aus Hollywood.
Hanna kniff unauffällig die Augen zusammen, aber als sie sie wieder öffnete, stand der Pastor immer noch da und redete. „Statt eines Eingangspsalms habt ihr das Hohelied der Liebe aus dem ersten Korintherbrief ausgewählt, das eine Freundin für euch verlesen wird“, sagte er gerade und bat Nina, zu ihm an den Altar zu treten.
Nina sah absolut entzückend aus, und Hanna wunderte sich, wie sie es wohl geschafft hatte, sich nach der Schlacht in der Schlossküche noch derart in Schale zu werfen. Sie trug ein bordeauxrotes Kleid, schwarze Schuhe und eine silberne, schwere Kette, die ihren gebräunten Teint noch mehr betonte. Bei näherem Hinsehen fiel Hanna ein Ring an ihrem Finger auf, den sie an ihr bisher noch nicht gesehen hatte. Ein prüfender Blick zu Erika offenbarte, dass diese den gleichen Ring trug. Erika, die Hannas Blick verfolgt hatte, lächelte ihr verschmitzt zu, und Hanna machte eine stumme Geste, die besagte, dass sie später unbedingt Details hören wollte.
Nina, die von dem Intermezzo zwischen Hanna und Erika nichts mitbekommen hatte, entfaltete den Zettel in ihrer Hand und stellte sich mit dem Gesicht zur Gemeinde. Als sie zu lesen begann, war es so still im Saal, das man eine Stecknadel hätte fallen lassen hören. „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle…“, begann sie, und Hanna war überrascht, wie gut Ninas Stimme, obgleich weich und hell, vom Saal getragen wurde. „Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“
Hannas Blick schweifte von Nina zu Carla, deren Mundwinkel leicht zitterten. Zu gern hätte sie Carla in den Arm genommen, aber noch durften sie sich nicht berühren. Nina fuhr mit der Verlesung des Korintherbriefes fort, und ihre Stimme strahlte dabei eine Kraft und Authentizität aus, dass selbst der Pastor beeindruckt schien.
„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe; diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen“, schloss Nina und faltete ihren Zettel wieder zusammen. Leicht verlegen blickte sie zu Carla, die ihr wortlos dankte, und setzte sich dann wieder zu Erika auf ihren Platz. Es folgte ein Lied, das von der gesamten Gemeinde gesungen wurde, und ein Gebet, bevor der Pastor seine Ansprache zum Trauspruch hielt.
„Ihr habt einen weltlichen Trauspruch in Form eines Gedichts gewählt“, wandte sich der Pastor wieder an Hanna und Carla, „das ich jetzt verlesen werde.“ Er zog ein Papier aus seiner Bibel und begann zu lesen: „Nicht du um der Liebe willen, sondern um deinetwillen die Liebe. Nicht weil ich lieben muss, sondern weil ich dich lieben muss…“
Hanna schloss unwillkürlich die Augen, als ihr bei den Worten Bilder vom Morgen durch den Kopf schossen. Sie wusste genau, wo vorhin noch ihre Hand und ihr Mund gewesen waren, als Carla diese Worte geflüstert hatte.
Ein Blick zu Carla überzeugte Hanna, dass diese mit demselben Problem zu kämpfen hatte, und sie biss sich auf die Lippen, um sich nicht zu verraten. Sie war froh, als der Trauspruch gesagt war und das nächste Lied gesungen wurde. Anschließend folgte ein Sologesang von einem glockenklaren Sopran, der, begleitet von einem kleinen Orchester, Edvard Griegs „Solveig‘s Song“ von der Empore sang. Hanna und Carla hatten lange diskutiert, ob sie dieses Stück tatsächlich in den Gottesdienst aufnehmen sollten, denn es stand für eine Zeit der Trauer und Verzweiflung. Aber Carla wollte die Dämonen aus der Vergangenheit endgültig vertreiben, und sie hoffte, dass das Einbeziehen dieser Arie, die sie nach Hannas vermeintlichem Tod so oft für sich allein gehört hatte, ihr dabei helfen würde. Beide, Carla und Hanna, standen mit dem Rücken zur Gemeinde, den Blick auf den Boden gesenkt, als die Klänge der wehmütigen Melodie durch den Saal schwebten, und sie hoben die Köpfe nicht, bis die Arie vollendet war.
The winter may pass and the spring disappear, the summer too will vanish and then the year. But this I know for certain: You’ll come back again. And even as I promised you’ll find me waiting then. I will wait for you until you’re near me and if you’re waiting above we’ll meet there.
Der Pastor sprach ein Gebet und bat Hanna und Carla anschließend, sich zu erheben, um den ungewöhnlichsten Part dieser Zeremonie zu begehen: die abgewandelte Form eines Trauspruchs. „Hanna Novak, willst du Carla Sophia von Lahnstein, die Gott dir anvertraut, als deine Frau lieben und ehren und eine Partnerschaft mit ihr nach Gottes Gebot und Verheißung führen in guten und in bösen Tagen bis dass der Tod euch scheidet, so antworte: Ja, mit Gottes Hilfe.“
„Ja, mit Gottes Hilfe“, sagte Hanna laut und vernehmlich.
„Carla Sophia von Lahnstein, willst du Hanna Novak, die Gott dir anvertraut, als deine Frau lieben und ehren und eine Partnerschaft mit ihr nach Gottes Gebot und Verheißung führen in guten und in bösen Tagen bis dass der Tod euch scheidet, so antworte: Ja, mit Gottes Hilfe.“
„Ja, mit Gottes Hilfe“, wiederholte Carla mit fester Stimme.
Der nun folgende Ringwechsel war der Moment, vor dem Hanna sich am meisten gefürchtet hatte, denn sie musste an dieser Stelle ein paar Worte sagen, und zwar so deutlich, dass auch die Menschen, die auf der letzten Bank saßen, es verstehen konnten. Hanna holte tief Luft, als Isabell ihr Carlas Ring reichte, und legte Carlas kühle Hand in ihre. „Viele Menschen träumen von der großen Liebe“, sprach sie und hatte große Mühe, dass ihr die Stimme nicht wegbrach. „Ich habe sie erlebt. Und ich erlebe sie jeden Tag neu. Mit dir. Du machst mich sehr glücklich, und dafür bin ich dir unendlich dankbar. Ich liebe dich, und ich will mein Leben mit dir teilen, was immer auch geschieht.“
Carlas schlanke Finger waren trotz der sommerlichen Temperaturen so kühl, dass Hanna keine Mühe hatte, ihr den Trauring überzustreifen. Jetzt nahm Carla Hannas Ring von Lars in Empfang und legte Hannas Hände in ihre. „Bevor ich dich getroffen habe, dachte ich, dass ich manche Dinge in meinem Leben nie erfahren würde“, sagte sie, und ihre blauen Augen ruhten so intensiv auf Hanna, als wären sie allein im Saal. „Du hast alles für mich verändert. Unser Weg zueinander war nicht gerade, sondern er war gepflastert mit Hindernissen, und viele Lieben zerbrechen an solchen Umständen. Unsere ist daran gewachsen. Ich liebe dich und will meinen Lebensweg mit dir zusammengehen. Ich möchte dich an meiner Seite haben als Frau, Partnerin, Freundin und Mutter meiner Tochter.“ Carla streifte Hanna ihren Ring über den Finger, und dann durften sie sich endlich, endlich in die Arme nehmen und küssen.
Das Publikum hinter ihnen schniefte und schnäuzte vernehmlich, und der Pastor musste seinen anschließenden Segen ungewöhnlich laut sprechen, um das Rascheln der gezückten Taschentücher zu übertönen. Selbst die Sopranistin, die inzwischen von der Empore hinuntergestiegen war, brauchte eine Weile, um sich wieder zu sammeln, bevor sie mit allen Anwesenden Bette Midlers „The Rose“ anstimmte.
Erstmals seit Beginn der Zeremonie standen Carla und Hanna mit dem Gesicht zu den Gästen, so dass sie durch die Bankreihen schauen konnten. Während Hannas Blick durch die Reihen schweifte, musste sie feststellen, dass sie weniger als ein Viertel der geladenen Gäste kannte. Die Familie der von Lahnsteins war riesig und sehr verzweigt, und sicher hatte es sich manch entfernter Cousin nicht nehmen lassen, bei diesem medienträchtigen Ereignis vor Ort zu sein. Aber auch dafür hatten Carla und sie sich bewusst entschieden. Sie hätten entweder im sehr kleinen oder im ganz großen Kreis heiraten können, und die vielen unbekannten Gesichter vor Hanna war das Resultat ihrer Entscheidung für die große Lösung.
Die hochgewachsene blonde Frau mit dem Kurzhaarschnitt, die hinter Erika und Nina saß, musste Stella sein. Hanna kannte sie schon von vielen Fotos und vermutete, dass die Frau neben Stella deren neue Partnerin sein musste, ein Fotomodell, das in New York lebte. Hanna hatte schon von Carla gehört, dass Stellas Freundin sehr attraktiv sei, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie aussah wie Kate Moss in jüngeren Jahren. Stella fing Hannas Blick auf und lächelte ihr freundlich zu, und Hanna erwiderte das Lächeln. Erst jetzt merkte Hanna, wie unendlich sie diese kleine Geste erleichterte und wie sehr ihre Schuldgefühle gegenüber Stella sie belastet hatten. Für sie gehörte dieser kurze Moment mit Stella zu den schönsten der ganzen Trauung, und sie nahm sich vor, mit ihr später unbedingt ein paar Worte zu wechseln.
Nachdem Fürbitte und Vater unser gesprochen waren, leitete die Orgel mit kräftigen Akkorden das Ende der Zeremonie ein, und Carla und Hanna schritten langsam Arm in Arm dem Ausgang entgegen. Ein paar Meter vor ihnen gingen Karolin und Sophia und verstreuten mit großer Ernsthaftigkeit und Inbrunst ihre Blumen. Sophia sah so süß aus in ihrem kleinen Kleidchen und war so konzentriert bei der Arbeit, dass Hanna ihren Blick kaum von ihr wenden konnte. Sie liebte Sophia wie ihre eigene Tochter und war unsagbar froh über ihr gutes Verhältnis zu ihr. Carlas Trennung von Stella war sehr hart für Sophia gewesen, und Hanna und Carla hatten ganz bewusst beschlossen, dass Hanna in ihrem ersten Jahr in Barcelona noch zu Hause bleiben würde, damit sie eine engere Bindung zu Sophia aufbauen konnte.
Diese Entscheidung hatte sich absolut bewährt, denn auch wenn Sophia Hanna von Anfang sehr gemocht hatte, so vermisste sie Stella doch sehr, und es hatte seine Zeit gedauert, bis sie Hanna als ihre zweite Mutter akzeptieren konnte. Vor zwei Monaten hatte Carla dann Hanna damit überrascht, dass sie ein altes Restaurant für sie gekauft hatte, das diese nun nach eigenem Gusto renovieren und modernisieren konnte, um es dann zu führen. Hanna freute sich ungemein auf die neue Aufgabe, doch sie und Carla waren sich einig gewesen, dass sie erst nach der Hochzeit mit der Renovierung des Gebäudes beginnen würden. Schon in wenigen Wochen, sobald sie aus Ägypten zurück waren, würden sie gemeinsam Restaurantmessen besuchen und Möbelkataloge wälzen, und Hanna konnte die Zeit bis dahin kaum abwarten.
Hanna spürte Carla durchatmen, als sie aus dem Tor der Kirche ins Licht traten und von einer jubelnden Menge empfangen wurden. Die Menschen schwenkten kleine Fähnchen, Hüte und Transparente, und viele riefen ihnen gute Wünsche zu. Als Hanna und Carla in die Menge winkten, wäre Hanna fast über einen Kameramann gestolpert, der vor ihren Füßen kniete, um die Szene möglichst nah einzufangen. Der ganze Platz war übersät von Menschen, und Hanna traute ihren Augen kaum, als sie weiter hinten einen improvisierten Bratwurststand entdeckte, der offensichtlich kurzfristig aufgebaut worden war, um seinem Inhaber das Geschäft des Jahres zu bescheren. Und das alles, weil die Frau an ihrer Seite die Gräfin von Lahnstein war.
Hanna hatte erwartete, dass sie den Rummel als unangenehm empfinden würde, doch das Gegenteil war der Fall. Es rührte sie, dass sich so viele Menschen mit ihnen freuten, und sie hatte in diesem Moment tatsächlich das Bedürfnis, ihr Glück mit der ganzen Welt zu teilen. Und abgesehen davon würde sie ihre frischgebackene Frau schon morgen ganz für sich allein haben, und in Ägypten würde sie Carla höchstens mit den Fischen teilen müssen.
* * *
Die Party im Schlosspark von Königsbrunn wurde ein voller Erfolg. Erika führte mit Herz und Humor durch das Programm, so souverän, als würde sie dies jeden Tag machen, und Ninas Leckereien am Buffet kamen hervorragend bei den Gästen an. Lars und Florian hatten schon nach einer Stunde so viel Sekt intus, dass sie mit einer kleinen Karaoke-Performance für Stimmung sorgten und auch andere Gäste mit ihrem Auftritt ansteckten. Doch so belustigend die Aktion auch war, für die Ohren war sie eine Beleidigung, und so waren die meisten Gäste nicht traurig, als endlich die engagierte Live-Band loslegte und Musik aus den 1980er Jahren spielte. Schon der erste Song, Roger Chapmans „Shadow on the wall“, lockte zahlreiche Gäste auf die Tanzfläche, die den gesamten Abend über voll bleiben würde.
Hanna hatte sich schon seit Wochen darauf gefreut, mit Carla tanzen zu können, doch nun musste sie feststellen, dass es gar nicht so einfach war, in Brautkleidern zu tanzen. Außerdem blieb ihr gar nicht so viel Zeit dafür, wie sie gehofft hatte, denn sie war ständig mit Gästen in Gespräche verwickelt. Dennoch nutzten Carla und Hanna jeden kleinen Augenblick, um sich davonzustehlen und gemeinsam zu tanzen. „Zeigst du mir nachher deine Schallplattensammlung?“, flüsterte Carla in Hannas Ohr, während sie eng umschlungen zu Barbra Streisands „Woman in Love“ tanzten.
„Vielleicht ja, vielleicht nein“, flüsterte Hanna zurück.
„Was soll das denn heißen?“, protestierte Carla entrüstet. „Ich bin deine Frau.“
„Trotzdem.“ Hanna küsste Carlas Mundwinkel. „Mit dir und den Schallplatten, da weiß man nie, wo das hinführt.“
„Hierhin hat es uns geführt.“ Carla vergrub ihr Gesicht in Hannas Haar. „Genau hierhin hat es uns geführt...“
Jemand tippte Hanna von hinten auf die Schulter, so dass sie ihren Tanz unterbrechen mussten. Es war Nina, die etwas verlegen hinter ihr stand und offenbar etwas zu sagen hatte. „Entschuldigt, dass wir euch stören“, meinte sie ungewöhnlich schüchern. „Aber Erika und ich hätten noch etwas sehr Wichtiges mit euch zu besprechen.“
„Was gibt es denn?“, fragte Carla und sah neugierig Erika entgegen, die nun auch zu ihnen trat.
„Vielleicht ist die Tanzfläche nicht der richtige Ort?“ Erika schaute zögernd zu Nina.
Carla sah auf Erikas Hände. „Hanna, siehst du das, was ich sehe?“, fragte sie in beiläufigem Tonfall.
„Ja, das tue ich“, bestätigte Hanna und schob Erika und Nina von der Tanzfläche. „Ich denke, die beiden sind uns eine Erklärung schuldig.“
„Erika und ich haben uns verlobt“, platzte Nina heraus und strahlte über das ganze Gesicht.
„Und wir wollten euch fragen, ob ihr unsere Trauzeuginnen sein möchtet“, ergänzte Erika und legte ihren Arm um Nina.
„Wow!“, sagte Hanna nur und starrte sprachlos zu Carla.
Diese erholte sich schneller. „Sehr gern sogar!“, sagte sie kopfschüttelnd. „Es ist uns eine Ehre.“ Sie umarmte erst Erika, dann Nina und küsste beide auf die Wange. „Herzlichen Glückwunsch! Ich freue mich sehr für euch!“
„Ich mich auch.“ Hanna hatte ihre Stimme wiedergefunden und schloss Nina und Erika gleichzeitig in ihre Arme. „Herzlichen Glückwunsch, ihr Lieben!“
„Dann wäre das ja geritzt“, freute sich Nina und stibitzte sich von einem der Tische eine Flasche Champagner und vier Gläser.
„Auf euch“, sagte Carla, als sie gemeinsam anstießen.
„Und auf euch“, ergänzte Erika und stieß ein zweites Mal an die Sektgläser.
„Also auf uns!“, rief Hanna, und noch einmal klirrten die Gläser.
„Oh, es wird Zeit für das Feuerwerk.“ Erika verschluckte sich fast an ihrem Champagner, als sie auf ihre Armbanduhr schaute. „Während ich es ankündige, könnt ihr schon mal die besten Plätze besetzen“, schlug sie vor und verschwand mit ihrem Sektglas in Richtung Bühne.
Hanna hatte in ihrem Leben schon viele Feuerwerke gesehen, nicht nur zum jährlichen Silvester. Doch dieses war unumstritten das Schönste, denn es war ihr Feuerwerk. Carla stand dicht hinter ihr und hatte ihre Arme um Hanna gelegt, während sie gemeinsam in den Nachthimmel schauten und die weißen, roten und grünen Formationen verfolgten, die sich spontan über ihnen am Himmel ergossen.
„Wenn das ein Traum ist, dann kneif mich bitte“, flüsterte Carla.
„Dann haben wir den gleichen Traum“, sagte Hanna leise. „Und ich möchte auch nie wieder aufwachen.“
„Ich liebe dich, Hanna.“
Hanna drehte ihren Kopf zu ihr. „Auch wenn ich alt und grau bin und meine Zähne verloren habe?“
„Dann lieben wir uns zahnlos.“
„Ich würde dir auch deine Bettpfanne bringen, wenn’s nottut“, lächelte Hanna und küsste Carla.
„Du vergisst, dass wir eine Menge Personal haben werden, wenn wir alt und grau sind. Wir werden zahnlos in unseren Liegestühlen sitzen, dem jungen Volk zuschauen und uns von vorn bis hinten bedienen lassen.“
„Klingt wie ein Wellnesstrip.“
Carla lächelte. „Das Leben ist gut, solange du bei mir bist.“
„Ich liebe dich.“ Hanna kuschelte sich zurück in Carlas Arme und zusammen beobachteten sie, wie eine weiße Explosion über ihnen den Himmel erhellte und tausend kleine Sterne wie Elfenstaub auf sie herabregneten.
ENDE :herzschlag:
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