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BeitragVerfasst: 28.04.2011, 21:48 
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Vielen Dank für die Ostergrüße! Ich hoffe, ihr hattet alle schöne Tage! Ich bin zurück, und deswegen kommt jetzt auch eine Fortsetzung:

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BeitragVerfasst: 28.04.2011, 21:50 
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Kapitel 7



Carla räumte das kalt gewordene Abendessen von Hannas Nachttisch und stellte stattdessen ein Glas Cola und eine Packung Salzstangen auf den Tisch. Hanna hatte sich bereits das zweite Mal übergeben und sah so elend und erschöpft aus, dass Carla Sorge hatte, sie in diesem Zustand allein zu lassen. Doch Hanna bestand darauf, dass Carla sich mit den anderen einen schönen Abend machen sollte. Also stellte sie Sophias Babyfon auf den Nachtisch und klopfte ein letztes Mal die Bettdecke zurecht. „Bitte sag sofort Bescheid, wenn du etwas brauchst“, bat sie und küsste Hannas Stirn. „Und wenn es mitten in der Nacht ist.“

Hanna nickte und schloss sofort wieder die Augen, als eine neue Welle der Übelkeit sie überkam. Noch einmal strich Carla über ihr Gesicht, dann schloss sie leise die Tür und trug das unangerührte Abendessen zurück in die Küche. Als sie sich ins Wohnzimmer zu den anderen gesellte, saßen Nina, Isabell und Erika zu dritt auf dem Sofa und blätterten in einem Fotoalbum. Florian, der vor dem Kamin kniete und Holz nachlegte, bemerkte Carla als erster. „Dann sind wir ja endlich vollzählig“, rief er ihr entgegen.

Nina sah nun auch auf und winkte Carla zu sich. „Isabell hat Fotos vom ‘No Limits‘ mitgebracht, Carla. Die musst du dir unbedingt anschauen.“ Sie zeigte mit dem Daumen zu dem Album auf Isabells Knien. „Hanna und Isabell haben die Kneipe ganz schön angeschickt.“

„Schau mal.“ Isabell drehte das Album auf den Kopf, so dass Carla die Bilder ebenfalls sehen konnte. „Da kommen Erinnerungen hoch, was?“

„Oh ja.“ Carla kniete sich vor Isabell und vertiefte sich wie die anderen in das Album. Die ersten Fotos zeigten Isabell und Hanna beim Renovieren des ‘No Limits‘. In zerrissenen Arbeitsklamotten und mit farbbeklecksten Gesichtern sah man sie hochkonzentriert beim Tapezieren und Streichen, dann folgten Bilder, in denen die beiden zusammen demonstrativ auf zwei Seiten einer Leiter standen und posierten wie Models für ein Modemagazin. Und schließlich kamen Fotos vom ‘No Limits‘, die nach der gelungenen Renovierungsaktion aufgenommen worden waren. „Ihr solltet mal sehen, wie es jetzt aussieht“, sagte Carla lächelnd. „Ihr würdet das ‘No Limits‘ nicht wiedererkennen.“

„Ist es besser oder schlechter geworden?“, wollte Isabell wissen.

„Einfach anders“, antwortete Carla und setzte sich neben Florian in einen Sessel. „Ich kann ja mal ein paar Fotos machen, wenn ich das nächste Mal in Düsseldorf bin, und dann emaile ich sie euch.“

„Au ja!“, rief Nina. „Das wäre klasse!“

Erika nahm Isabell das Album aus der Hand und legte es auf den Sofatisch. „Ich schlage vor, dass wir den Rest der Fotos später ansehen und jetzt erst einmal besprechen, was wir für Hanna tun können“, sagte sie in die Runde.

Alle Blicke richteten sich sofort Carla auf. „Sie hat ihr Abendessen nicht angerührt und sich das zweite Mal übergeben“, erstattete diese Bericht. „Das wird sicher eine schwere Nacht.“

„Dass sie Isabell erkannt hat, lässt aber doch wirklich hoffen.“ Nina schenkte jedem ein Glas Wein ein. „So weit waren wir noch nie.“

„Hat sie sich noch an irgendetwas anderes erinnert?“, erkundigte sich Erika.

Carla schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat nichts davon gesagt.“

„Was hat denn die Psychologin geraten?“

„Sie hat empfohlen, dass wir Hanna stärker mit ihrer Vergangenheit konfrontieren sollen, indem wir ihr Hinweisreize auf ihr altes Leben geben.“ Carla nippte nachdenklich an ihrem Wein. „Also habe ich begonnen, von Düsseldorf zu erzählen und von einer früheren Beziehung. Hanna hat schnell begriffen, dass wir uns früher schon kannten und zusammen waren.“

„Also hat sie sich doch erinnert?“, fragte Isabell hoffnungsvoll.

„Nein.“ Carla runzelte die Stirn. „Das ist ja das Merkwürdige. Sie hat geschlussfolgert, wer sie ist. Sie hat mich sogar nach ihrem richtigen Namen gefragt. Aber sie erinnert sich trotzdem nicht.“

„Vielleicht braucht sie noch mehr Hinweisreize?“, überlegte Erika. „Möglicherweise würden ihr Erinnerungen aus früheren Jahren weiterhelfen, zum Beispiel aus ihrer Kindheit.“

„Daran habe ich auch schon gedacht“, nickte Carla. „Ob wir Sylvia einbeziehen sollten?“

„Wer ist Sylvia?“, fragte Nina und schaute von einem zum anderen. „Hat Hanna noch Familie?“

„Sylvia ist Hannas Schwester“, erklärte Carla. „Sie würde uns sicher helfen, wenn wir sie darum bitten, aber soweit ich weiß lebt sie inzwischen in Kanada. Außerdem ist Hannas Schwester ziemlich kompliziert, und ich wäre froh, wenn wir es ohne sie hinbekommen würden.“

„Das geht mir ähnlich“, bestätigte Isabell. „Außerdem waren die beiden die meiste Zeit ihres Lebens zerstritten, was bedeutet, dass viele von Hannas Erinnerungen nicht eben angenehme sein werden.“

„Vielleicht überseht ihr einen entscheidenden Punkt“, mischte sich Florian ein. „Ihr denkt, dass es Hanna helfen würde, ihr so viel wie möglich von früher zu erzählen. Das scheint auch in gewissem Maße zu funktionieren, denn sie hat ja Isabell erkannt. Aber offenbar reicht es nicht aus.“

„Weil die traumatische Erfahrung sie daran hindert, sich zu erinnern“, seufzte Carla. „Das Trauma scheint vor ihrer Erinnerung zu liegen wie ein riesiger Felsbrocken vor einem Tor.“

„Dann müsst ihr da wohl ran“, folgerte Florian und nahm sich ein paar Chips aus der Schüssel. „Nützt nichts.“

„Na, du bist gut.“ Isabell rollte mit den Augen. „Und wie sollen wir das machen?“

Florian überlegte eine Weile. „Ich würde mit ihr auf einen Friedhof gehen.“

„Lieber hänge ich mich auf“, murmelte Carla. „Das kannst du vergessen. So etwas tue ich nicht.“

Erika legte beschwichtigend ihre Hand auf Carlas Knie. „So dumm finde ich Florians Idee gar nicht“, sagte sie zu ihr. „Ein Friedhof wäre wohl zu drastisch, aber vielleicht kommen wir wirklich nicht weiter, solange Hanna nicht mit der Ursache ihrer Amnesie konfrontiert wird.“

Carla stützte ihren Kopf in die Hände. „So etwas Ähnliches hat die Psychologin auch geraten, aber ehrlich gesagt… ich glaube nicht, dass ich das kann...“

„Und wenn es jemand anderes von uns tut?“, schlug Nina vor. „Erika und ich kennen Hanna jetzt seit über fünf Jahren. Sie vertraut uns wie keinem anderen.“

„Ich finde trotzdem, dass es falsch wäre, wenn es eine von uns tut“, widersprach Isabell. Sie stand vom Sofa auf und setze sich auf die Lehne von Carlas Sessel. „Können wir dich vielleicht irgendwie unterstützen?“, fragte sie und legte ihre Hand auf Carlas Schulter. „Oder gibt es etwas, womit wir es leichter für dich machen können?“

„Hast du denn keine Angst?“, fragte Carla, ohne aufzusehen. „Wenn ihr jetzt schon so elend ist, wie wird sie erst reagieren, wenn sie sich wirklich erinnert?“

„Ich bin keine Psychologin“, sagte Erika nachdenklich. „Aber eines steht fest: Hanna hat überlebt. Was passiert ist, ist unerträglich und grauenvoll - aber vorbei.“

„Und was willst du uns damit sagen?“ Nina schaute sie mit großen Augen an.

„Weiß ich auch nicht.“ Erika raufte sich die Haare. „Vielleicht, dass sie das Schlimmste schon überstanden hat?“

Isabell kam ihr zur Hilfe. „Erika hat recht. Hanna weiß, dass sie jetzt von Menschen umgeben ist, die sie lieben. Das wird ihr sicher helfen.“

„Also gut.“ Carla seufzte tief. „Wir sollten nichts unversucht lassen. Ich überlege mir etwas.“

Ihre Entscheidung wurde mit Beifall und Hochachtung aufgenommen. Alle waren erleichtert, dass Carla sich bereit erklärt hatte, mit Hanna zu sprechen und gaben alle möglichen Tipps, was sie sagen oder nicht sagen könnte. Doch letztlich wusste Carla, dass sie ihr Handeln von der Situation abhängig machen musste, und sie betete, dass sie stark genug sein würde, um Hanna eine Hilfe sein zu können. Eines hatte sich schon jetzt stillschweigend ergeben: Carla konnte auf keinen Fall am folgenden Tag abreisen und alle hier im Stich lassen.



* * *




Der nächste Tag begann in großer Runde mit einem Frühstück im Restaurant. Die Kinder fanden es großartig, in einem leeren Lokal herumtollen zu können und waren beide nur schwer auf ihren Stühlen zu halten. Im Gegensatz zu den quirligen Kindern waren die Erwachsenen eher ruhig und schweigsam, was in erster Linie darauf zurückzuführen war, dass sie noch bis drei Uhr nachts im Wohnzimmer gesessen und sich unterhalten hatten. Nachdem sie über Hanna gesprochen hatten, waren sie zu leichteren Themen übergegangen, und es war ein so netter Abend geworden, dass niemand Lust hatte, ihn zu beenden. Entsprechend müde waren alle am Morgen, und das begehrteste Getränk am Frühstückstisch war Kaffee.

Carla sprach noch weniger als die anderen während des Essens, weil sie sich die ganze Zeit Sorgen um Hanna machte. Nicht dass sie erwartet hätte, sie würde zum Frühstück erscheinen, aber dass von oben so gar keine Geräusche nach unten drangen, machte sie unruhig. „Ich sehe mal nach Hanna“, verkündete sie unvermittelt und stand schon auf, um die Treppe zu ihrem Zimmer hochzugehen.

Nach einem kurzen Klopfen öffnete sie vorsichtig die Tür und betrat Hannas Schlafzimmer. Sie war wach und begrüßte Carla mit einem schwachen Lächeln.

„Wie geht es dir?“, fragte Carla und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. „Konntest du schlafen?“

Hanna schüttelte den Kopf. „Fast gar nicht“, sagte sie heiser.

„Kann ich dir etwas bringen? Einen Tee oder etwas zu essen?“

„Nein, ich stehe gleich auf.“ Hanna wollte sich im Bett aufrichten, musste sich jedoch sofort wieder hinlegen. „Nur ein bisschen schwindelig“, erklärte sie, als sie Carlas besorgten Blick bemerkte. „Mir geht’s viel besser als gestern.“

„Wirklich?“ Carla sah sie zweifelnd an.

„Ja, wirklich“, versicherte Hanna. „Es war nur… alles ein bisschen viel gestern.“

„Sophia hat schon nach dir gefragt“, berichtete Carla lächelnd. „Sie will dir unbedingt ein neues Spiel zeigen, das sie sich ausgedacht hat.“

„Noch ein Grund mehr, flott aus dem Bett zu steigen“, lächelte Hanna. „Sind die anderen auch schon wach?“

„Im Moment gibt’s Frühstück unten im Restaurant, und danach wollen wir alle zusammen einen Ausflug machen und uns den Palast von Knossos ansehen.“ Carla machte eine Pause, um ein paar Salzstangenkrümel vom Nachttisch zu räumen. „Vielleicht hast du ja Lust, dich uns anzuschließen?“

„Ich glaube, das würde mir ein bisschen zu viel.“ Hanna schüttelte bedauernd den Kopf. „Aber ich könnte ein schönes Essen kochen, denn ihr kommt bestimmt hungrig wieder zurück.“

„Darauf freue ich mich jetzt schon“, versicherte Carla. „Und Isabell bestimmt auch.“

Hannas Gesicht wurde ernst. „Mir ist es unheimlich, dass ihr mich alle kennt, und ich kenne euch nicht. Ich komme mir so unfähig vor.“

„Das kann ich verstehen.“ Carla sah Hanna direkt in die Augen. „Aber du kennst uns viel mehr als du meinst, Hanna.“

„Gehen wir heute nochmal am Strand spazieren?“

„Sehr gern.“ Carla war froh, dass Hanna den Vorschlag von sich aus machte. „Nach dem Mittagessen ist dafür bestimmt Zeit. Dann schläft Sophia, und die anderen möchten den Nachmittag eh zu Hause verbringen.“

Hanna lächelte, doch sie sah dabei so traurig aus, dass Carla es kaum ertragen konnte. „Ich weiß, dass du bald wieder abreisen musst“, sagte Hanna leise. „Aber bis dahin möchte ich so viel Zeit wie möglich mit dir verbringen.“

„Das wirst du“, versprach Carla.

„Und ich möchte, dass du mir mehr über mich erzählst.“

Carla beugte sich zu ihr und küsste ihre Wange. „Ich nehme mir den ganzen Nachmittag Zeit.“



* * *




Der Ausflug zum Palast von Knossos gestaltete sich viel entspannter und angenehmer als Carla erwartet hatte. Sie war keineswegs jemand, die unbedingt Menschen um sich herum haben musste, doch unter Hannas Freunden hatte sie sich schon immer wohl gefühlt, seien es die alten oder die neuen. Florian, der einzige Mann in der Runde, hielt sich die meiste Zeit zurück und spielte lieber mit Karolin und Sophia, wenn die Frauen über alte Zeiten plauderten. Doch er teilte Carlas Interesse für antike Ruinen, und die beiden hatten während der Besichtigung des Palasts ein sehr interessantes Gespräch über die Architektur der Griechen.

Trotz ihrer Faszination für alte Bauwerke konnte Carla den Rundgang nicht so genießen, wie sie es sich gewünscht hätte. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Hanna zurück, und sie wusste, dass es den anderen ähnlich ging. Alle zog es wieder zurück zu ihrer gemeinsamen Freundin, und so wurde es ein kürzerer Ausflug als ursprünglich geplant.

Obwohl sie früher aufbrachen, wartete schon ein leckeres Mittagessen auf die Ausflügler, als sie wieder zu Hause ankamen. Es gab ein leichtes Sommergericht, gebackenen Schafskäse nach Griechischer Art mit Chili, Cherrytomaten und Fladenbrot. Der Clou waren allerdings die verschiedenen Kräuter und Gewürze, die Hanna hinzugefügt hatte und die das eigentlich simple Gericht zu etwas Besonderem werden ließen.

„Mhhhhmmm.“ Nina schloss genießerisch die Augen, als sie den ersten Bissen kostete. „Wir sollten dieses Rezept unbedingt in die Karte aufnehmen. Das schmeckt köstlich.“

Diesmal gesellte sich Hanna beim Essen dazu, und Carla beobachtete erleichtert, dass ihr Gesicht deutlich mehr Farbe hatte als noch am Morgen. Offensichtich hatte ihr der ruhige Vormittag zu Hause gut getan. Teilweise scherzte sie sogar mit Isabell oder spielte Streiche mit den Kindern. Diese waren nach dem Essen nur schwer zur Mittagsruhe zu bewegen, aber ihre Eltern bestanden darauf, zumal geplant war, dass die Kinder an diesem Abend länger aufbleiben durften. Isabell erklärte sich bereit, den beiden Kindern eine Geschichte vorzulesen, so dass Carla mit Hanna den Weg zum Strand antreten konnte.

Der Abschnitt des Strands, den sie wählten, war so gut wie menschenleer, da die Bademöglichkeiten an dieser Stelle weniger komfortabel waren. Das Meer hatte eine Fülle von Tank und Algen angeschwemmt, die der Luft eine etwas moorige Würze verliehen.

Sobald sie die lauten Straßen verlassen hatten und durch den tiefen Sand stapften, schob Hanna ihre Hand in Carlas. „Erzählst du mir etwas von mir?“, bat sie. „Wer ich war und wer ich bin?“

Carla fasste sich ein Herz, und während sie Hand in Hand am Strand entlang gingen, begann sie, die Details aus Hannas Leben zu erzählen, die ihr bekannt waren. Sie startete mit Hannas Eltern, erzählte vom Tod ihrer Mutter und von ihrer älteren Schwester Sylvia, mit der Hanna von Anfang an ein schwieriges Verhältnis hatte. Carla berichtete von Hannas Umzug nach Düsseldorf, ihrem gutem Ruf als Catering-Fachfrau und von ihrem Start im ‘No Limits‘, das sie bald mit Isabell, ihrer besten Freundin, zusammen führte. Danach erzählte Carla auch von Hannas Ehe mit David McNeal und später von ihrer langjährigen Beziehung mit Lars Schneider. Und schließlich von Hannas Zerrissenheit zwischen Lars und ihr.

Hanna hatte bis dahin ruhig zugehört und intensiv Carlas Worten gelauscht. Es schien, als versuchte sie, all die Informationen zu verarbeiten und in sich einen Anknüpfungspunkt zu finden, der ihr einen Hinweis darauf gab, dass die Person, von der Carla erzählte, sie selbst war. Carla beobachtete sie ab und zu von der Seite, um zu erkennen, was in ihr vorgehen mochte, doch Hannas Gesicht verriet nur Interesse und hohe Konzentration. Erst als Carla begann, von der Beziehung zwischen ihnen beiden zu erzählen, wurde Hanna unruhig und wollte mehr wissen.

Carla allerdings fiel das Erzählen dieser Zeit am schwersten. Es tat ihr weh, über ihre Gefühle für Hanna zu sprechen und über das, was sie miteinander gehabt hatten. Es tat ihr weh, weil das Erzählen darüber die Sehnsucht nach dem Verlorenen nur noch mehr in ihr weckte und Hanna so nah neben ihr war. Es tat ihr weh, weil sie jetzt ein anderes Leben lebte, das das Frühere ausschloss. Und es tat ihr weh, weil Hanna die Erinnerungen an diese kostbare gemeinsame Zeit nicht mit ihr teilen konnte.

Hanna schien zu bemerken, dass Carla das Erzählen quälte und hörte auf, Fragen zu stellen. Eine ganze Weile gingen sie einfach nur Hand in Hand den Strand entlang, ohne weitere Worte zu verlieren. Beide spürten sie die unsichtbare, tiefe Verbindung zwischen ihnen, die durch Carlas kurzen Aufenthalt auf Kreta nicht zu erklären war. Etwas in Hanna wusste genau, wer Carla war, erkannte sie und suchte den Weg zu ihr, auch wenn die Erinnerung an die Ereignisse fehlte. Und etwas in Carla wusste das und ließ sich finden.

Nach einer halben Stunde machte der Strand eine Biegung, und dahinter wurde das Ufer steiniger und schwieriger zu begehen. Deswegen beschlossen sie, an dieser Stelle umzukehren und sich noch eine Weile in den Sand zu setzen, bevor sie zurückgingen. Hanna setzte sich dicht ans Ufer, so dass ihre Füße fast schon nass wurden, und Carla setzte sich direkt hinter sie. Sie legte ihre Arme um Hanna, ließ ihr Kinn auf Hannas Schulter ruhen, und eine Zeitlang blickten sie schweigend auf das türkisfarbene Meer hinaus. In der Ferne waren ein paar Segelboote zu erkennen, die in ihren Hafen zurücksteuerten, und weiter hinten, am Horizont, fuhr ein großer Dampfer gen Osten, um griechische Touristen zu anderen Inseln zu bringen.

„Etwas passt für mich nicht zusammen“, unterbrach Hanna schließlich die Stille. „Damals, nachdem Enno mich in einem Waldstück gefunden hatte, riet er mir, nicht zur Polizei zu gehen, weil ich womöglich in ein Verbrechen verwickelt war. Also habe ich es gelassen und hatte die fürchterlichsten Phantasien, was ich für ein schrecklicher Mensch gewesen sein muss. Doch alles, was du erzählst, erklärt nicht, warum ich in eine solche Lage gekommen bin…“

Carla zog Hanna noch ein wenig näher zu sich, ohne den Kopf von ihrer Schulter zu nehmen. „Es passt nicht zusammen, weil Enno dir nicht die Wahrheit erzählt hat“, sagte sie und versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu ignorieren. „Ich weiß inzwischen, dass es anders war.“

„Warum sollte er mich anlügen?“, fragte Hanna verwirrt.

„Weil er etwas zu verbergen hatte.“

„Wieso? Hatte er denn etwas mit dem Verbrechen zu tun?“ Hanna wurde unruhig.

„Ja und nein.“ Carla strich ihr sanft über das Haar. „Bist du dir sicher, dass du wissen willst, was geschehen ist?“

Hanna nickte stumm, und Carla schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. „Ich möchte, dass du eines nicht vergisst, Hanna“, sagte sie behutsam. „Nämlich, dass du jetzt hier bei mir bist, und dass du hier in Sicherheit bist.“ Vorsichtig umschloss sie Hannas Hände mit ihren. „Kannst du mich spüren?“ Erneut kam ein Nicken. „Du bist nicht allein, Hanna, ich bin bei dir, und hier ist alles frei und weit…“

Hanna musste schlucken. „Mir ist schlecht…“, flüsterte sie.

„Soll ich es doch lieber lassen?“

„Nein.“ Hanna schüttelte den Kopf. „Sag es mir.“

„Okay.“ Carla schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich zu sammeln. „Mein Bruder Ansgar“, begann sie und war selbst überrascht über die Ruhe in ihrer Stimme „hat uns alle glauben lassen, dass du an einem Blutgerinnsel im Gehirn gestorben bist. Aber die Wahrheit ist, dass er mich ausschalten wollte, um an die Spitze der Lahnstein Holding zu kommen.“ Ihre Finger strichen mit sanften, gleichmäßigen Bewegungen durch Hannas Haar, während sie sprach. „Dafür hat er dich benutzt. Er hat deine Medikamente vertauscht, weil er wusste, dass ich deinen Tod nicht verkraften würde.“

„Gift?“, flüsterte Hanna entsetzt.

„Ja, Gift.“ Ganz gleichmäßig, fast wie in Trance, bewegten sich Carlas Finger durch Hannas Haar. „Aber das Gift hat nicht ausgereicht… Trotzdem haben die Ärzte deinen… Tod festgestellt… Niemand hat… hat gemerkt, dass du wieder angefangen haben musst zu atmen… und dass dein Herz… wieder angefangen hat zu schlagen…“

Hanna rührte sich nicht, sie war so starr, dass Carla nicht fühlen konnte, ob sie atmete. Trotzdem wusste sie, dass Hanna ihr immer noch zuhörte.

„Gleich am nächsten Tag…“ Carla hielt einen Moment inne. Das folgende auszusprechen erschien ihr fast unmöglich. „Gleich am nächsten Tag“, fuhr sie fort „hat die Trauerfeier stattgefunden und…“ Sie fühlte Hanna erschauern, als sie das nächste Wort aussprach. „… die Beerdigung…“

„Der Rhein…“, wisperte Hanna. „Wir sind am Rhein gewesen…“

„Ja…“ Carla legte ihre Wange an Hannas. „Du wolltest unbedingt an unsere Stelle…“

„Du… hast mir gesagt, ich soll… die beschmutzten Tabletten nicht nehmen… Ich wollte noch mit dir… die Sterne anschauen… aber ich war so müde… so müde…“ Hanna begann zu zittern, erst kaum merklich, dann immer stärker und heftiger, bis ihr ganzer Körper bebte und Carla Mühe hatte, sie in ihrem Armen zu halten. „Mir war so kalt… so furchtbar kalt…“ Sie konnte kaum sprechen vor Zittern. „Und alles war so dunkel…“ Urplötzlich hörte Hannas Körper auf zu beben und wurde so still, dass Carla Angst bekam.

„Hanna?“, flüsterte sie. „Bist du noch da?“

Hanna antwortete nicht. Ihre Augen waren schreckensweit in die Ferne gerichtet, als sähen sie etwas Grauenvolles. „Es war so dunkel…“, wiederholte sie tonlos. „So dunkel… und so kalt…“

Carla küsste ihre Schläfe in der Hoffnung, die Berührung würde irgendwie zu Hanna durchdringen. „Ich bin bei dir“, sagte sie leise.

„Überall Wände…”, flüsterte Hanna. „Überall… Wände… Holz… Ich wollte rufen… schreien… aber ich war… zu schwach… viel zu schwach…“

„Ich weiß.“ Carla hielt sie fest, ganz fest.

„Ich konnte mich nicht bewegen…Ich wusste nur… ich komme nie wieder raus… niemals wieder…“

„Aber jemand hat dich gehört…“ Carla strich ihr über die Stirn.

„Ich erinnere das nicht…“

„Jemand hat dich gehört und aus dem Sarg geholt“, erklärte Carla. „Und jetzt bist du hier… am Leben…“

„Ja.“ Hanna schloss ihre Augen. Sie begann wieder zu zittern, und Carla wiegte sie sanft in ihren Armen.

„Es ist vorbei, Hanna… Es ist vorbei“, sagte sie immer wieder.

Längst hatten sie jegliches Zeitgefühl verloren, als Hanna irgendwann ruhiger wurde und auch die Atmung sich wieder zu normalisieren begann. „Danke, dass du da bist, Carla“, sagte sie mit heiserer Stimme. Ihre Haut und Kleidung waren klitschnass, als sie erschöpft ihren Kopf an Carlas lehnte.

„Wir sollten aufstehen und etwas Laufen“, schlug Carla vor. „Das wird dir bestimmt gut tun.“

Als Hanna einwilligte, zog sie sie nach oben in den Stand und schlang ihren Arm und Hannas Hüfte. Die ersten Schritte waren noch zögernd und wackelig, aber dann gehorchten Hannas Gliedmaßen ihr zunehmend, und sie konnten, zwar langsam, jedoch ohne weitere Unterbrechung, den Weg nach Hause antreten.

Der Rückweg erschien Carla endlos. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie derart weit gegangen waren, doch schließlich gelangten sie an den schmalen Pfad, der hinauf zu ‘Ninas Ambrosia‘ führte. Selbst hier ließ Carla Hanna nicht los, und so stiegen sie Arm in Arm den Weg zum Restaurant hinauf. Schon von draußen konnte sie hören, dass die anderen sich hinten im Garten aufhielten, so dass sie ungesehen die Treppe zu Hannas Zimmer hochgehen konnten. Hanna fand es unhöflich, die anderen nicht zu begrüßen, doch Carla bestand darauf, dass sie sich sofort hinlegte. „Du kannst dich ja später noch zu uns gesellen“, schlug sie vor, während sie die Tagesdecke von Hannas Bett entfernte. „Ich sage den anderen, dass du Ruhe brauchst.“

Hanna verschwand ohne Widerworte im Bad und tauchte nach einer Weile im T-Shirt wieder auf. „Danke, dass du das machst, Carla“, sagte sie, als sie unter die Bettdecke schlüpfte. „Ich…“

„Schhhhh“, unterbrach Carla sie sanft. „Wir reden später weiter.“

Hanna war so erschöpft, dass sie eingeschlafen war, noch ehe Carla die Tür des Schlafzimmers geschlossen hatte. Auch Carla fühlte sich unendlich müde, doch sie wollte den anderen noch Bericht erstatten, bevor sie sich ebenfalls zurückzog. Ihre Glieder waren bleiern wie nach einem Marathonlauf, als sie sich in den Türrahmen zum Garten lehnte. Die Unterhaltung erstarb sofort, als die anderen sie bemerkten, und vier Augenpaare sahen ihr fragend entgegen. Selbst Sophia stürmte nicht wie sonst in die Arme ihrer Mutter, sondern unterbrach nur ihr Spiel und sah neugierig zu Carla.

Nina brach das Schweigen als erste. „Und?“, fragte sie ungeduldig. „Wie geht’s ihr?“

Carla verschränkte die Arme und sah vor sich auf den Rasen. „Ich habe ihr erzählt, was passiert ist“, berichtete sie. „Sie braucht jetzt Ruhe.“

„Konnte sie sich an etwas vom Friedhof erinnern?“, fragte Isabell.

„Ja, sie hat sich erinnert.“ Carla hielt ihre Hände an ihre pochenden Schläfen. „Ich glaube, der wichtigste Schritt ist getan.“

„Du solltest dich auch eine Weile hinlegen, Carla“, riet Erika. „Du kannst uns doch auch später Näheres erzählen.“

Carla war in der Tat nicht nach Reden zumute. „Das wäre mir tatsächlich lieber“, gab sie zu. „Ich stehe nachher wieder auf, um Sophia ins Bett zu bringen, und komme dann nochmal zu euch.“



* * *




Carla hatte ihrer Tochter gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil sie in den letzten Tagen so sehr mit Hanna beschäftigt gewesen war. Allerdings schien das Sophia nichts auszumachen, denn sie genoss es, bei den Erwachsenen im Mittelpunkt zu stehen, die im Übrigen alles versuchten, um ihr die Zeit auf Kreta so schön wie möglich zu machen. Nun hatte sie in Karolin auch noch jemanden gefunden, der wie eine große Schwester für sie war und von der sie sich viel abschauen konnte. Nur an den Abenden, wenn Carla Sophia ins Bett brachte, war zu merken, dass ihr die Mutter gefehlt hatte, denn sie war dann anhänglicher als sonst und kuschelte sich jedes Mal tief in Carlas Schoß.

Deswegen war es ihr so wichtig, ihre Tochter selbst ins Bett zu bringen, obgleich Isabell ihr angeboten hatte, es für sie zu übernehmen. Nachdem sie Sophia zum hundertsten Mal die Geschichte von Igraine Ohnefurcht vorgelesen hatte, bettete Sophia ihren Kopf in ihren Schoß, und Carla summte ihr ein Schlaflied, bis Sophia die Augen zufielen.

Gern hätte Carla sich sofort zu ihr gelegt, doch sie wusste, dass Hannas Freunde auf ihren Bericht warteten, und so raffte sie sich auf und begab sich nach unten ins Wohnzimmer. Viel erzählte sie nicht, denn es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. Fakt war, dass Hanna sich erstmals an ein Ereignis aus ihrer Vergangenheit erinnert hatte und ihr sogar die Nacht am Rhein wieder im Gedächtnis war. Also gab es die begründete Hoffnung, dass sich auch der Rest der Gedächtnislücken bald schließen würde. Die Freunde merkten Carla an, wie erschöpft und müde sie noch war und rieten ihr, sich doch wieder hinzulegen.

Bevor sie Schlafen ging, huschte Carla noch einmal in Hannas Zimmer, um sich zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Sie machte sich Gedanken, weil Hanna den ganzen Abend nicht wieder aufgetaucht war, doch ein Blick zu ihrem Bett überzeugte sie, dass Hanna einfach nur tief schlief.



* * *




Als Carla am nächsten Morgen vom Sonnenlicht geweckt wurde, war es kurz vor acht Uhr, und Sophia war längst aus ihrem Bett gehüpft und spielte auf dem Fußboden in aller Seelenruhe Memory. „Mama“, rief sie erfreut, als sie bemerkte, dass ihre Mutter aufgewacht war. „Du darfst mitspielen.“

Carla musste schmunzeln über ihre vergnügte Tochter, die wie selbstverständlich davon ausging, dass Erwachsene nichts auf der Welt lieber täten, als mit ihr Memory zu spielen. Sie setzte sich zu Sophia auf den Boden und spielte mit ihr, bis auch der letzte Doppelgänger der Tierfotos gefunden war. „Dann machen wir uns jetzt fertig, damit wir unten Frühstücken können“, kündigte Carla an und zog die protestierende Sophia von den Karten weg. „Je früher wir uns angezogen haben, desto eher können wir frühstücken und desto eher kannst du Kaufladen mit Karolin spielen.“

„Ich will aber jetzt Kaufladen spielen“, maulte Sophia.

„Erst gibt es Frühstück, und dann könnt ihr spielen“, insistierte Carla und half ihrer Tochter, den Schlafanzug auszuziehen. „Wo ist denn dein rotes Kleidchen geblieben?“

„Da habe ich so viel Erdbeereis raufgekleckert, dass Erika es in die Wäsche getan hat.“

„Ach, ihr habt Eis gegessen?“, fragte Carla neckend. „Dann brauchst du ja heute keines mehr zu bekommen.“

„Doooooch!“, rief Sophia und schlang ihre kleinen Ärmchen um Carla. „Nina hat versprochen, dass sie uns allen einen Eisbecher macht.“

„Na, wenn Nina das versprochen hat, kann ich ja kaum etwas dagegen sagen“, fügte sich Carla und handelte sich damit einen stürmischen Kuss ihrer Tochter ein. „Natürlich nur, wenn ich auch einen Eisbecher bekomme“, sagte sie drohend.

„Ich gebe dir was ab“, bot Sophia großzügig an, aber Carla wusste nur zu gut, dass ihr Angebot vergessen sein würde, sobald der Eisbecher vor Sophias Nase auftauchte.

„Vielleicht bekomme ich ja meinen eigenen“, lachte Carla und machte das letzte Knöpfchen von Sophias blauem Kleidchen zu. „Was hältst du davon, wenn du schon einmal nach unten gehst und Nina beim Tischdecken hilfst?“, schlug sie vor. „Nina freut sich bestimmt, und ich muss eh noch unter die Dusche.“

Sophia fand den Vorschlag großartig und tippelte die Treppe herunter, so schnell ihre kleinen Beinchen sie trugen. Nach zwanzig Minuten war der Frühstückstisch gedeckt, wenn auch etwas anders als sonst üblich. Natürlich bekam Sophia sehr viel Lob für ihre tatkräftige Hilfe, auch wenn die Eierbecher im Brötchenkorb gelandet waren, die Messer in den Marmeladengläsern steckten und der Käse gleichmäßig und sehr gerecht auf alle acht Teller verteilt war.

„Hat jemand schon etwas von Hanna gehört?“, fragte Isabell und schob den riesigen Käseberg auf ihrem Teller diskret auf die Käseplatte zurück, um sich ein Brötchen nehmen zu können. „Ich mache mir langsam Sorgen.“

„Vermutlich schläft sie noch“, sagte Florian achselzuckend. „Es tut ihr bestimmt gut, wenn sie etwas Schlaf nachholt. Schließlich hat sie viel zu verarbeiten.“

„Ich sehe trotzdem mal nach ihr“, beschloss Carla. „Ich habe eh keinen Hunger.“

„Warte mal.“ Nina hielt sie am Ärmel fest. „Nimm ihr einen Becher Kaffee mit hoch.“ Sie nahm Hannas verwaisten Becher und füllte ihn mit Kaffee. „Sie soll Bescheid sagen, wenn wir ihr etwas nach oben bringen sollen, okay?“

„Wenn sie noch schläft, bin ich gleich wieder zurück“, nickte Carla und stieg mit dem Becher die Treppe nach oben.

Sie stellte den vollen Becher auf den Boden vor der Tür ab und trat dann, ohne zu klopfen, leise in das Zimmer. Zu ihrer Überraschung war Hanna wach und saß aufrecht im Bett. Als ihre Blicke sich begegneten, richteten sich unwillkürlich die feinen Härchen auf Carlas Haut auf. Etwas war anders.

„Carla“, sagte Hanna nur und streckte ihr die Hand entgegen. „Meine liebe, liebe Carla.“

Carla nahm wortlos ihre Hand und setzte sich zu ihr ans Bett. „Du bist zurück“, sagte sie leise.

„Ja.“ Hanna lächelte und fuhr mit ihrer freien Hand zärtlich über Carlas Gesicht. „Es tut mir so leid… Was musst du durchgemacht haben…“

„Ich habe dich so vermisst“, flüsterte Carla. „So unendlich vermisst.“ Stille Tränen liefen ihre Wangen herunter. „Ich bin so froh, dass du da bist.“

Hanna sagte nichts, sondern zog sie zu sich aufs Bett, und Carla legte sich neben sie, den Kopf auf ihre Brust gebettet. Sie spürte Hannas Herzschlag unter sich, kraftvoll und regelmäßig wie eine Versicherung, dass sie nicht träumte. „Ich habe dich auch so vermisst“, sagte Hanna und fuhr mit ihren Fingern sanft durch Carlas Locken, wie sie es früher so häufig getan hatte. „Ich habe es nur nicht gewusst.“

„Ich wollte nicht mehr leben ohne dich.“ Carla hielt ihre Augen geschlossen. Sie hatte Angst, alles wäre nicht mehr wahr, wenn sie sie öffnete. „Nichts hatte mehr Sinn. Gar nichts.“

„Ich habe immer gewusst, dass ich jemanden liebe“, sagte Hanna, und an den heißen Flecken auf ihrem T-Shirt konnte Carla spüren, dass auch sie weinte. „Du hast mir so gefehlt…“

Carlas Körper erschauerte bei den Worten, und sie zog Hanna zu sich nach unten. „Meine Liebe“, flüsterte sie und küsste die so lang vermissten Lippen. Die Berührung war zart und zaghaft, so als müsse sich ihr Mund versichern, dass Hanna wirklich da war. Aber als Hanna seufzte und Carla Einlass gewährte, wurden ihre Lippen kühner und wagten sich weiter vor. Hanna erwiderte ihren Kuss, und das Salz ihrer Tränen begann sich mit dem vertrautem Geschmack ihrer Münder zu mischen und gab beiden das Gefühl, nach Hause zu kommen.

Bald begab sich Carlas Mund auf Wanderschaft und eroberte Zentimeter für Zentimeter der geliebten Haut zurück. Hannas rascher Atem drang an ihr Ohr, als ihre Hände unter der Decke nach dem T-Shirt suchten, während Hannas Finger ungeduldig ihre Bluse aufknöpften. Mit einem Schwung zog Carla den störenden Stoff über Hannas Kopf, und das Shirt landete neben der Bluse auf dem Boden. Betäubt von dem Duft, der ihr entgegen wehte, nahm Carla nur halbbewusst wahr, wie sich ihre nackten Körper hungrig aneinander drängten, sich Haut an Haut presste, und ihre Brüste sich weich auf Hannas legten. Carlas Lippen wanderten zu Hannas Mund zurück, immer wieder, so als hätten sie Angst, er wäre nicht mehr da, wenn sie zu weit weg gingen. Und Hanna empfing sie jedes Mal wieder neu, überwältigt und mit wachsendem Verlangen.

Carla spürte, dass ihr Körper nur noch der Erlösung entgegen strebte, doch Hanna stoppte ihre Hand, als sie in deren Schlüpfer dringen wollte. „Carla“, sagte sie leise, und dann noch einmal „Carla.“

„Was ist?“ Carla hielt sofort inne. „Soll ich aufhören?“ Sie hatte Mühe, ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen.

Hanna ließ Carlas Hand los und streichelte ihre Wange. „Du bist verheiratet, Carla. Willst du wirklich deine Frau betrügen?“

„Was?“ Carla brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Hanna hatte recht. Was um Himmels Willen taten sie hier? Eine bleierne Schwere überkam sie, als sie sich wortlos von Hanna rollte und sich auf die Bettkante setzte, um ihre Kleidung vom Boden aufzuheben. Alles schmerzte und protestierte in ihr, als sie Hanna ihr T-Shirt zurückgab. „Es tut mir leid“, sagte sie mit rauer Stimme.

„Das muss es nicht.“ Hanna lächelte gequält. „Du kannst nichts dafür.“

„Ich...“ Carlas Hände zitterten, als sie sich die Bluse zuknöpfte. „Ich liebe dich, Hanna.“

„Du brauchst mir nichts zu erklären.“ Hanna beugte sich zu ihr und wischte mit ihrem Daumen eine Träne von Carlas Wange. „Ich weiß, wie es ist, wenn man zwei Menschen liebt.“

„Mit Stella… das ist etwas ganz anderes…“, flüsterte Carla.

„Ich weiß.“

„Was soll ich denn jetzt tun?“ Carla konnte Hanna nicht in die Augen sehen, ihr fehlte die Kraft dazu.

„Du kehrst in das Leben zurück, das du dir aufgebaut hast.“

„Was?“ Carla spürte, wie ihr übel wurde. Sie atmete schwer und und stützte ihren Kopf in die Hände. „Warum Hanna? Warum willst du, dass ich das tue? Haben sich deine Gefühle für mich geändert?“

Hanna lachte, doch es klang bitter. „Nein, das haben sie nicht. Aber alles andere hat sich verändert. Ich kann nicht verlangen, dass du dein Leben für mich aufgibst. Das habe ich damals nicht, und das werde ich auch jetzt nicht tun, erst recht nicht, wenn du eine Tochter hast.“

„Ich weiß nicht, ob ich ohne dich leben kann“, sagte Carla tonlos. „Ich habe es nie wirklich gekonnt. Wie kann ich nach Barcelona zurückkehren, als wäre nichts geschehen?“

Hanna nahm Carlas Hand und umfasste sie mit beiden Händen. „Du hast es doch noch gar nicht ausprobiert. Gib deinem Leben eine Chance, und dann wirst du sehen, ob es funktioniert.“

„Und wenn es nicht funktioniert?“

„Dann weißt du, wo du mich findest.“

„Und wenn du dich neu verliebst?“ Carla hob zweifelnd die Augenbrauen. „An Verehrern mangelt es dir offensichtlich nicht.“

„Besetzter kann ein Herz nicht sein“, versicherte Hanna lächelnd.

Carla biss sich auf die Lippen und sah aus dem Fenster, ohne irgendetwas wahrzunehmen. „Dann reisen wir noch heute ab“, beschloss sie. „Wir nehmen die nächste Maschine nach Barcelona.“

Hanna ließ Carlas Hand sinken. „Warum?“, fragte sie erschrocken. „Ich bitte dich um nichts, Carla. Aber nimm mir nicht die Zeit, die uns noch bleibt.“

Carla schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht mit dir zusammen sein und nicht zu dir können“, sagte sie leise. „Ich schaffe das nicht.“

„Okay.“ Hanna nickte.

Carla brach es das Herz, als sie den Schmerz in Hannas Gesicht sah. „Bitte verzeih mir, Hanna. Ich kann das sonst nicht.“

„Schon gut.“ Hanna ließ ihre Hand los und starrte an die Zimmerdecke. „Dann solltest du jetzt vielleicht gehen.“

Carla hatte das Gefühl, dass Zentnerlasten sie zu Boden drückten, als sie sich von Hannas Bett erhob. „Gut, dann lasse ich dich jetzt allein“, verkündete sie, ohne sich zu rühren.

„Sagst du den anderen, dass ich gleich herunterkomme?“, sprach Hanna gegen die Wand.

„Natürlich.“ Carla gab sich einen Ruck und ging zur Tür. „Ich liebe dich, Hanna“, sagte sie, als sie die Türklinke herunterdrückte. „Ich werde dich immer lieben.“

Erst als sie die Zimmertür hinter sich schloss, hörte sie Hanna antworten. „Ich liebe dich auch, Carla.“



* * *




Es war früher Nachmittag, als Hanna zu den anderen auf die Terrasse trat. Der Restaurantbetrieb war in vollem Gange und eigentlich hätte sie Schicht gehabt, doch Nina hatte ihr einen Zettel vor die Tür gelegt, dass sie schon am Abend zuvor Eleni gebeten hatte, für Hanna einzuspringen. Isabell bemerkte Hanna als erste und stand von ihrem Tisch auf, um ihr entgegenzugehen. Sie umarmte Hanna wortlos und drückte sie ganz fest, und Hanna ließ sich in die Umarmung der Freundin fallen wie in ein rettendes Sprungtuch.

„Willkommen zurück, Hanna“, sprach Isabell in ihr Ohr und küsste ihre Wange. „Ich habe dich vermisst.“

„Ich dich auch.“ Hanna spürte, wie ihr ganzer Körper aufatmete. „Ich bin dir so dankbar, dass du gekommen bist.“

„Na klar. Du bist und bleibst meine beste Freundin.“

„Mama, dein Eis schmilzt!“, rief Isabells Tochter warnend und schob zur Demonstration den triefenden Eisbecher in Isabells Richtung.

„Ich komme schon.“ Isabell löste sich lachend aus der Umarmung. „Gut, dass du aufpasst, Karolin.“

„Wie du siehst, hat Nina für uns alle einen Eisbecher zubereitet“, mischte sich Erika ein und erhob sich ebenfalls, um Hanna zu umarmen. „Möchtest du auch ein Eis? Dann sage ich Nina Bescheid.“

„Ja, sehr gern“, nickte Hanna und zog sich einen freien Stuhl an den Tisch, während Erika ins Restaurant ging, um Nina zu finden. Hannas Blick wanderte zu Carla, die Sophia auf dem Schoß hatte und sich mit ihr zusammen eine Eisbecher teilte. In Sophias Gesicht fanden sich diverse Spuren von Schokoladen-, Erdbeer- und Vanilleeis, und ihr blaues Kleidchen hatte auch schon einiges abbekommen. „Schmeckt das Eis, Sophia?“, fragte Hanna lächelnd.

„Lecker!“ Sophia nickte eifrig. „Gleich will ich noch einen Becher.“

Carla wischte mit einer Serviette die gröbsten Reste von Sophias Wangen. „Der halbe Eisbecher ist ja auch woanders gelandet“, kommentierte sie trocken.

Hanna war froh, dass Carla nichts von ihrer vorangegangenen Unterhaltung anzumerken war. Sie unterhielt sich mit den anderen wie immer, und man musste sie sehr gut kennen, um wahrzunehmen, dass hinter der Fassade etwas ganz anders war.

„Hier kommt Ihr Eis, Frau Novak.“ Nina hatte sich von hinten an Hanna herangeschlichen und hielt ihr einen riesigen Blumenstrauß vor die Nase, während sie mit der anderen Hand einen Eisbecher auf den Tisch stellte. „Herzlichen Glückwunsch zu deinem bravourösen Gedächtnis!“, strahlte sie und umarmte Hanna so fest, dass der Blumenstrauß leichten Schaden nahm.

„Eigentlich seid ihr es, die den Blumenstrauß verdienen“, sagte Hanna gerührt. „Was ihr für mich getan habt, kann ich nie wieder gutmachen.“

„Ach, was haben wir schon groß getan“, wehrte Nina ab. „Wir haben eine gute Freundin gewonnen und eine Spitzenkraft im Restaurant dazu.“

„Ihr wisst genau, was ich meine…“ Hanna umarmte Nina und Erika gleich noch einmal. „Danke für alles!“

„Eigentlich müssten wir jetzt zusammen feiern, aber leider hätten die Gäste dafür kein Verständnis“, sagte Nina bedauernd. „Ich schaue nachher nochmal vorbei.“ Sie nahm Hanna den Blumenstrauß wieder ab, um ihn in eine Vase zu stellen, und drückte ihr stattdessen einen Eislöffel in die Hand. „Lass dir dein Eis schmecken, du hast seit Tagen nichts Richtiges mehr gegessen…“

Hanna versprach Nina, alles aufzuessen und nahm wieder am Tisch Platz. „Du bist also Karolin“, sagte sie zu Isabells Tochter, als sie merkte, wie diese sie beobachtete.

„Aber das weißt du doch“, sagte Karolin erstaunt. „Darf ich ein bisschen von deinem Maracujaeis abhaben?“

„Aber klar.“ Hanna schob ihr ihren Eisbecher zu und wartete geduldig, bis Karolin genügend Maracujaeis in ihren Becher geschaufelt hatte. „Ich kenne dich noch aus Zeiten, da konntest du noch nicht einmal laufen“, stellte sie mit Erstaunen fest.

„Und jetzt komme ich in die Schule“, verkündete Karolin stolz. „Auf eine deutsche Schule.“

„Wir hielten es für das Beste, weil wir nicht wissen, wie lange wir in Mailand bleiben werden“, erklärte Isabelle. „Einige Jahre werden es aber wohl noch sein.“

„Meine Arbeit macht mir Spaß, und uns gefällt Italien“, pflichtete Florian ihr bei. „Und bis nach Düsseldorf sind es nur ein paar Stunden.“

„Wer ist eigentlich Sophias Vater?“, wandte sich Isabell an Carla. „Florian hat mir damals erzählt, dass du mit Susanne ein Kind zusammen hattest, aber er sagte mir nicht…“

„Ich habe Susanne seit Jahren nicht gesprochen“, verteidigte sich Florian. „Woher soll ich sowas wissen?“

„Susanne?“ Hanna ließ ihren Löffel sinken. „Ich dachte, du hättest mit Bernd…“

Carla sah sie entsetzt an. „Das ist nicht dein Ernst, Hanna.“

„Aber wer ist es dann?“ Isabell war verwirrt.

„Susanne und ich haben uns bewusst für ein Kind entschieden und…“ Carla räusperte sich. „Und der Vater ist…“

„Lars!“, krähte Sophia. „Lars ist mein Papa!“

Hannas Eislöffel landete klirrend in ihrem Becher. „Lars?“, fragte sie entgeistert. „Du meinst doch nicht etwa…“

„Doch“, bestätigte Carla errötend. „Es ist Lars Schneider.“

„Was?“ rief Isabell ungläubig, senkte ihre Stimme jedoch sofort wieder, als sich die anderen Restaurantgäste nach ihr umsahen. „Hannas Lars?", raunte sie. "Wieso das denn?“

„Habt ihr etwa…“ Hanna wurde blass. „Ich meine…“

„Nein.“ Carla schüttelte den Kopf. „Er hat sich bereiterklärt, uns zu helfen.“ Sie wies mit dem Kopf auf ihre eisschleckende Tochter. „Können wir das vielleicht ein anderes Mal besprechen?“

Hanna hörte sie gar nicht, sondern starrte unverwandt zu Sophia. In der Tat fanden sich in dem hübschen Gesicht Züge von Lars, wenngleich die Ähnlichkeit mit Carla klar dominierte. „Das ist verrückt…“, murmelte sie. „Das ist zu verrückt, um wahr zu sein…“

Zum ersten Mal sah Carla sie an. „Es ist nicht so verrückt wie du denkst, Hanna. Lars hat mir sehr beigestanden in meiner schwersten Zeit, und er war der einzige Mensch, mit dem ich wirklich über dich sprechen konnte…“

„Außerdem ist Lars ein toller Mensch“, versuchte Florian ihr zur Hilfe zu kommen. „Da fällt einem die Wahl leicht, nicht wahr?“

Carla nickte dankbar. „So ungefähr, ja.“

Isabell sah von Hanna zu Carla und wieder zu Hanna. „Ich glaube, meine beste Freundin und ich machen jetzt einen schönen Spaziergang“, verkündete sie. „Wir haben schließlich viel nachzuholen.“

Hanna sah sie erstaunt an, erhob sich aber gehorsam vom Tisch, um sich ihr anzuschließen. „Wann geht dein Flug?“, wandte sie sich an Carla.

„Um 18 Uhr brechen wir auf.“

Die Nüchternheit in Carlas Stimme tat Hanna weh, auch wenn sie die Reaktion verstehen konnte. „Bis dahin sind wir zurück“, versprach sie und verließ, ihren Arm in Isabells gehakt, die Terrasse.

„Was ist denn los mit Carla?“, fragte Isabell, sobald sie außer Hörweite waren. „Wieso reist sie heute noch ab?“

Hanna seufzte. „Ich habe ihr gesagt, sie soll zu ihrer Frau zurückkehren, und jetzt hält sie es hier nicht mehr aus.“

„Was?“ Isabell warf ihr einen verständnislosen Blick zu. „Das kapiere ich nicht. Wieso hast du das gesagt?“

„Sie hat ein neues Leben, Isabell. Sie hat Frau und Kind.“ Hanna fuhr sich durch ihre Haare. „Ich kann doch nicht verlangen, dass sie das alles aufgibt.“

„Aber sie liebt dich!“, protestierte Isabell aufgebracht. „Das sieht man doch drei Meilen gegen den Wind. Du kannst die Arme jetzt nicht nach Hause schicken!“

Hanna musste lächeln. „So habe ich mir das vorgestellt. Kaum haben wir uns wiedergefunden, kriege ich eine Standpauke.“

„Ach was“, sagte Isabell halb ernst, halb im Scherz. „Meine Standpauken hören sich anders an wie du weißt. Aber du hast mir auch immer deine Meinung gesagt, wenn du mit etwas nicht einverstanden warst.“

„Ja, ich weiß.“ Hanna lehnte seufzend ihren Kopf an Isabells Schulter. „Aber was soll ich denn tun?“

„Hast du ihr gesagt, dass du sie liebst?“

„Ja, ich habe ihr gesagt, dass ich auf sie warte, wenn sie sich für mich entscheidet.“

„Na, wenigstens etwas.“ Isabell runzelte die Stirn. „Wir haben uns übrigens gefragt, was ihr da oben so lange getrieben habt. Eigentlich wollte Carla nur mal kurz nach dir sehen.“

„Ja, wir haben über die Situation gesprochen.“

„Habt ihr miteinander geschlafen?“

„Fast.“

„Wie fast?“

„Ich habe es nicht so weit kommen lassen.“ Hanna sah auf den Sandboden, um ihr Erröten zu verbergen.

„Hanna.“ Isabell blieb stehen und fasste an Hannas Stirn. „Bist du sicher, dass du in Ordnung bist? Du scheinst mir ziemlich verwirrt…“

„Überhaupt nicht. Ich habe selten so klar gesehen.“ Hanna schüttelte ihre Hand ab und hakte sich wieder bei ihr ein. „Ich erinnere mich noch sehr genau, wie es mir ging, als ich mit Carla das erste Mal geschlafen habe und noch mit Lars zusammen war“, erklärte sie, während sie einen Sandweg einschlugen, der nach oben auf den Berg führte. „Es hat mich fast umgebracht. Und ich will nicht, dass Carla dasselbe durchmachen muss.“

„Meinst du nicht, dass es für solche Rücksichtsnahmen längst zu spät ist?“ Isabell sah sie zweifelnd an. „Warum gibst du ihr nicht die Chance auszuprobieren, wie es ist, wenn sie zu dir zurückkommt?“

Hanna schüttelte seufzend den Kopf. „Carla hat mindestens zwei längere Beziehungen gehabt, während ich weg war. Sie hat sich beruflich verändert, sie ist nach Spanien gezogen, sie hat eine Tochter, sie hat eine Ehefrau. Nichts ist mehr wie vorher. Wir können doch nicht so tun, als sei die Zeit stehengeblieben.“

„Genau davon rede ich ja. Wie soll Carla sich entscheiden, wenn ihr nicht aufeinander zugeht und gemeinsam schaut, wie es jetzt ist?“

„Ich glaube, du verwechselst da etwas“, widersprach Hanna verletzt. „Sie war es, die früher abreisen wollte. Obwohl ich sie gebeten habe, bis zum Urlaubsende zu bleiben.“

„Das ist ja auch kein Wunder, wenn du ihr sagst, dass sie zurückgehen soll“, unterbrach sie Isabell. „Dann hätte ich wohl auch so schnell wie möglich die Insel verlassen. Warum hast du ihr nicht gesagt, dass du mit ihr zusammen sein willst, damit ihr gemeinsam schauen könnt, ob es noch funktioniert? Wie soll sie jetzt wissen, wofür oder wogegen sie sich entscheidet?“

Hanna schwieg und stieß mit ihrem Fuß einen Stein aus dem Weg. Er prallte gegen einen Busch und rollte dann den Abhang hinunter. „Ich liebe sie so sehr, Isabell“, sagte sie leise. „Ich kann sie nicht noch näher an mich heranlassen, und dann geht sie womöglich zurück.“

„Das verstehe ich.“ Isabell legte tröstend ihren Arm um Hanna. „Trotzdem hast du Carla mit dieser Entscheidung sicher sehr wehgetan. Und dir selbst vermutlich noch mehr.“

„Es geht aber nur so“, beharrte Hanna und schlang ihren Arm um Isabells Hüfte, als sie auf einer Bank Platz nahmen, von der man hinunter ins Tal blicken konnte. „Ich möchte nicht, dass Carla eine Entscheidung fällt, die sie später bereut. Sie muss erst wieder in ihr altes Leben zurück und sich dort über alles klar werden. Und sich dann entscheiden. Entweder für mich oder gegen mich.“



* * *




Als Hanna und Isabell von ihrem Spaziergang zurückkamen, stand Carlas Gepäck schon neben Erikas Wagen. Für einen kurzen Moment überlegte Hanna, ob sie Carla doch nicht zum Flughafen begleiten sollte, aber schließlich riss sie sich zusammen und schloss sich Erika und Nina an. Die Verabschiedung zwischen Isabell und Carla war herzlich, aber kurz, da sie schon unter Zeitdruck waren. „Noch ist es nicht zu spät“, flüsterte Isabell Hanna zu, als sie sich zu Sophia und Carla auf den Rücksitz setzte. Hanna schüttelte nur stumm den Kopf.

Es war eine schweigsame Fahrt zum Flughafen. Nina, die neben Erika auf dem Beifahrersitz saß, wirkte bedrückt, und Carla sah nur stumm aus dem Fenster. Zwischen ihr und Hanna saß Sophia, die schon nach ein paar Minuten Autofahrt eingeschlafen war und ihren Kopf vertrauensvoll an Hanna geschmiegt hatte.

Hanna wusste, dass sie die kleine Sophia vermissen würde, sobald sie und ihre Mutter hinter der Absperrung verschwunden waren. Der Gedanke, dass sie Sophia vielleicht niemals wiedersehen würde, war schwer zu ertragen. Und vielleicht waren dies auch die letzten Minuten, die ihr mit Carla blieben. Vielleicht würde sie auch Carla nie wieder sehen. Jetzt wollte sie noch mit ihr zusammen sein, doch wer wusste schon, wie sie über alles denken würde, wenn sie wieder zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung war? Bei der Frau, die sie liebte. Und wenn Hanna weit weg war, wie ein vergangener Traum.

Hanna drehte ihr Gesicht zum Fenster, damit Carla ihre Tränen nicht sehen konnte. Ihr war übel, und ihr Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment implodieren. Niemals würde sie über Carla hinwegkommen können. Sie war die große Liebe, auf die sie immer gewartet hatte, und die sie doch nicht erkannt hatte, als sie direkt vor ihrer Nase stand. Wie viel Zeit hatte sie sinnlos vertan mit ihrem Zögern und ihren Zweifeln, dass man solche Gefühle für eine Frau haben könnte. Und wie viel Zeit war ihr verloren gegangen durch den Giftanschlag und seine Folgen. Und jetzt war es zu spät. Jetzt konnte sie Carla nicht einmal mehr in die Augen sehen.

Nach einer Ewigkeit rollte der Wagen auf den Parkplatz des Flughafens, und sie mussten Sophia aufwecken, damit Carla einchecken konnte. Gemeinsam begaben sie sich in das Flughafengebäude und gingen ohne Umschweife zum Schalter der Aegean Airlines. Hanna spürte ihre Knie weich werden, als Carla ihr Ticket erhielt, und sie war froh, dass Nina und Erika wie zwei Wachposten links und rechts neben ihr standen. Wenig später war die Zeit des Abschieds gekommen, und Carla bedankte sich herzlich bei Erika und Nina für ihre Gastfreundschaft und für das, was sie für Hanna getan hatten. „Ich melde mich, sobald ich zu Hause bin“, versprach sie.

Hanna merkte, dass Erika und Nina sich diskret zurückzogen, um ihnen Zeit zu geben, sich zu verabschieden, doch sie fühlte sich vollkommen taub, als Carla sie umarmte. „Ich kann dir nicht genug danken“, sagte sie, als Carla sie wieder losließ. „Du hast mir mein Leben zurückgegeben.“

Es war das erste Mal seit ihrem Gespräch am Morgen, dass Carla lächelte. „Du mir meines auch“, sagte sie und küsste Hannas Wange.

Erika und Nina traten wieder zu ihnen und hielten Hannas Hände, als Carla und Sophia hinter der Absperrung verschwanden. „Ich habe alles falsch gemacht“, flüsterte Hanna.

„Nein, das hast du nicht.“ Erika legte ihren Arm um sie. „Carla braucht jetzt Zeit, um herauszufinden, was sie will.“




TO BE CONTINUED

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Zuletzt geändert von kimlegaspi am 26.06.2011, 12:28, insgesamt 13-mal geändert.

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Danke Kim. Great update!

Hanna and Carla both need a hug. :heul:

Supercell needs a hug, too. :heul:


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Wow.Ich kann nur sagen super.
Man kann die Liebe zwischen den beiden förmlich spüren.
Ich freue mich schon auf mehr.
:bigsuper: :danke: :regenbogen: :ok:





lg
Martina


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kimlegaspi hat geschrieben:
... „Ich kann nicht mit dir zusammen sein und nicht zu dir können“, sagte sie leise. „Ich schaffe das nicht.“

alles wird gut .-)

danke schön
sabam

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ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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Hammer toll, super, grandios und soo schön..Ich hoffe, dass die Beiden endlich zu einander finden, auch wenn es Stella noch gibt..

sonnigen Gruß, Steffi

:danke: :ok: :bigsuper: :klatsch:


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DANKE, supercell, Martina5, sabam und maddy!!!!
:danke: :danke: :danke: :danke:

Zitat:
Hanna and Carla both need a hug. Supercell needs a hug, too.


LOL! Here comes a big hug, supercell :knuff: .


Zitat:
alles wird gut .-)


Ganz genau, sabam. Kann ja nicht so weitergehen mit dem dauernden Geheule :) .

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:bigsuper:

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Our live begins to end the day we become silent about things that matter.

Martin Luther King


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Vielen Dank für deine tolle Story!
Ich kann es kaum abwarten, bis du wieder einen neuen Teil gepostet hast!
Das "Geheule" find ich überhaupt nicht schlimm, was raus muss, muss halt raus! :D :D :D :D


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Hallo Kim,

danke für die vielen kreativen Ostereier, die du uns mitgebracht hast. :wink:


LG


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BeitragVerfasst: 05.05.2011, 17:04 
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Vielen Dank, ho, Ratz und tiefgang!!! Freut mich sehr :D .

Der nächste Teil ist mir streckenweise echt schwergefallen. Ihr werdet schon merken, warum... Also jetzt, weiter im Text:

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Zuletzt geändert von kimlegaspi am 05.05.2011, 18:13, insgesamt 1-mal geändert.

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Kapitel 8

Schon von weitem entdeckte Carla Stellas blonden Haarschopf hinter der Absperrung. „Schau mal, Sophia.“ Sie hob ihre Tochter hoch, damit sie besser sehen konnte. „Da hinten steht Stella. Wollen wir mal winken?“

„Stella!!!“ Sophia wurde ganz aufgeregt und begann, so ungestüm zu winken, dass Carla sie kaum auf dem Arm halten konnte.

„Erst müssen wir noch unser Gepäck holen“, erklärte sie ihrer ungeduldigen Tochter. „Und dann kannst du Stella einen Kuss geben.“

Sophia wollte auf der Stelle von Carlas Armen herunter und düste anschließend im Flughafen herum wie eine wilde Hummel. „Sophia, bleib hier bei mir“, befahl Carla nachdrücklich. „Sonst verlieren wir uns aus den Augen.“

Sophia schob ihre Unterlippe vor und hängte sich an Carlas Bein, während diese vor dem Laufband auf ihre Koffer wartete. Als die ältere Frau neben ihnen mitbekam, dass sie Deutsch sprachen, zwinkerte sie Carla zu. „Die Kleine will zu ihrem Papa, stimmt’s?“, lächelte sie. „Ich weiß, wie das ist.“

Carla wollte gerade etwas erwidern, da merkte sie, wie der Ehemann der Frau diese unauffällig in die Rippen stieß. „Mensch Helga“, raunte er ihr ins Ohr. „Das ist doch die Gräfin von Lahnstein. Die ist doch eine Lesbierin.“ Die Frau erschrak und wandte sich errötend von Carla ab.

„Möchtest du wieder auf den Koffern sitzen?“, fragte Carla ihre Tochter, als ihr Gepäck endlich in Sichtweite kam. „Dann siehst du viel schneller, wo Stella uns abholt“, sagte sie so laut, dass das Paar neben ihr es hören konnte. „Einen schönen Tag noch“, rief sie der Frau zu, während sie den Gepäckwagen samt Koffer und Sophia an ihr vorbei schob. Die Frau starrte ihr nur mit offenem Mund hinterher.

„Stella!“, rief Sophia schon von weitem. „Schau mal, wo ich sitze!“

Stella hob Sophia lachend von ihrem Gepäckthron und drückte sie. „Hallo Sophia, du bist ja heute eine Prinzessin.“ Sie gab ihr einen Kuss und entließ sie aus ihren Armen, um Carla zu begrüßen. „Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht, als du angerufen hast“, erklärte sie, als sie Carla umarmte. „Ich habe selbst noch gar nicht ausgepackt.“

„Bist du zufrieden mit der Tagung in Wien?“ Carla hakte sich bei Stella ein. „Entschuldige bitte, dass ich mich die letzten zwei Tage nicht gemeldet habe.“

„Ja, es war ganz okay, aber du kennst ja den Müller.“ Stella stöhnte demonstrativ. „Der musste am Schluss natürlich dreimal erwähnen, dass er das Ganze organisiert hat. Dabei wusste jeder im Raum dass die Schröder und ich das alles auf die Beine gestellt haben. Dass der selbst nicht merkt, wie peinlich er ist…“ Sie schüttelte angewidert den Kopf. „Und wie war’s bei dir?“

Carla beobachtete ihre Tochter, anstatt Stella anzusehen. „Kreta ist eine wunderschöne Insel“, antwortete sie ausweichend. „Man kann Wandern, Baden, Tauchen, Segeln, und die antiken Bauwerke sind sehr beeindruckend.“

„So braungebrannt wie du bist, kannst du dich aber nicht nur in Ruinen aufgehalten haben“, lächelte Stella und fischte ihren Autoschlüssel aus der Hose. „Ich stehe gleich auf dem ersten Deck.“

Erst als sie alle drei im Auto saßen und Stella den Wagen vom Flughafengelände steuerte, merkte Carla, wie erschöpft sie eigentlich war. Aber es war anders als eine normale Erschöpfung, alles fühlte sich so weit weg an, und die vertrauten Straßen erschienen ihr seltsam fremd, so als sei sie eine Ewigkeit fortgewesen.

Carla schloss die Augen, als sie merkte, dass Stella sie von der Seite beobachtete. „Ich bin ziemlich müde“, erklärte sie.

„Sag mal, hast du geweint?“

„Ein bisschen. Du weißt ja, dass ich über verschiedene Dinge nachdenken musste.“

„Ist die Sache mit Ansgar so schlimm?“

„Ja, ist sie. Es sprengt alles, was er sich bisher geleistet hat.“

„Kann ich irgendwie helfen?“ Stella streichelte Carlas Oberschenkel. „Du sagst mir, wenn ich etwas tun kann, okay?“

Carla nahm Stellas Hand von ihrem Oberschenkel und küsste sie. „Danke, Schatz. Ich bin froh, dass du da bist.“

„Wollen wir uns nachher noch ins Wohnzimmer setzen?“

„Lieber nicht. Entschuldige, aber ich bin wirklich hundemüde.“

„Na gut.“ Stella lächelte. „Wir können ja morgen alles nachholen.“

„Ich wollte morgen eigentlich ins Büro.“

„Aber du müsstest doch noch Urlaub haben?“

„Ja, das stimmt, aber ich habe meinen Urlaub früher beendet, weil im Büro alles drunter und drüber geht.“

„Schade.“ Stella war sichtlich enttäuscht. „Ich hatte mich so gefreut, als ich gehört habe, dass du früher zurückkommst.“

Carla beugte sich zu ihr und küsste ihre Wange. „Wir machen uns morgen einen richtig schönen Abend und gehen Essen mit allem Drum und Dran.“

„Auch gut.“ Stella gab ihr einen versöhnlichen Klaps auf das Knie. „So ist das halt mit euch Businessfrauen. Vielleicht gewöhne ich mich ja irgendwann mal daran.“



* * *



„Frau von Lahnstein? Gräfin? Hören Sie mir zu?“

Die kratzige Stimme von Herrn Sawatzki riss Carla aus ihren Gedanken. „Ja, selbstverständlich“, sagte sie gedehnt. „Wir machen es dann wie besprochen.“

Herr Sawatzki klopfte seine Pfeife im Aschenbecher aus. „Verzeihen Sie, Gräfin, aber Sie haben mir noch nicht gesagt, welchen meiner beiden Vorschläge Sie annehmen wollen.“

Carla verschränkte die Arme und stand vom Tisch auf, um im Konferenzzimmer auf und ab zu gehen. Sie musste sich unbedingt konzentrieren. Wenn sie jetzt einen Fehler machte, könnte das weitreichende Folgen haben. „Beide Vorschläge haben ihre Vor- und Nachteile“, begann sie diplomatisch und versuchte krampfhaft, sich daran zu erinnern, welches die beiden Vorschläge gewesen sein mochten. „Ich schlage vor, wir halten beide Möglichkeiten auf der Flipchart fest und notieren die Pros und Contras in der jeweiligen Spalte.“

„Ich kann das aufschreiben“, meldete sich Seniora Sarazar und trat schon zur Flipchart.

„Wir sollten heute unbedingt zu einer Entscheidung kommen“, sagte Senior Albert, sichtlich gereizt. „Noch einmal fliege ich nicht nach Barcelona.“

„Das ist ganz in meinem Sinne“, nickte Carla und versuchte, ihn mit einem Lächeln zu besänftigen. „Ich bin zuversichtlich, dass wir heute zu einer Einigung kommen werden, Senioras und Seniores.“

Über eine Stunde lang ging es noch hin und her zwischen den verschiedenen Parteien, bis die Miró-Ausstellung endlich unter Dach und Fach war. Man einigte sich darauf, lediglich Zeichnungen des Künstlers auszustellen und die Vernissage in einem gemeinsamen Flyer mit dem Fundació Joan Miró anzukündigen, so dass weitere Gelder für die Versicherung der Bilder frei wurden. In dieser abgespeckten Form war das Projekt durchführbar, auch wenn Carla sich ursprünglich andere Ziele gesetzt hatte. In Anbetracht der beteiligten Parteien schien dies der bestmögliche Kompromiss zu sein.

„Würden Sie mir bitte eine Aspirin bringen, Seniora Sanchez?“, fragte Carla, als sie sich von ihren Geschäftspartnern verabschiedet hatte. „Und ich brauche die Telefonnummer vom Grafikbüro Motruigez.“

Beide Wünsche lagen nur wenige Minuten später auf Carlas Schreibtisch. Ihre Sekretärin wirkte seit ihrer Rückkehr deutlich bemühter und stellte sogar noch eine Flasche Mineralwasser auf den Tisch. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Seniora von Lahnstein?“

Carla stützte die Arme auf ihren Schreibtisch und massierte ihre Schläfen. „Es müssten noch ein paar Kataloge bestellt werden. Ich mache Ihnen noch heute eine Liste.“

Carla setzte sich an den Computer, um einen längst fälligen Brief an den Senator zu verfassen, doch während des Schreibens schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Wie es Hanna wohl jetzt gehen mochte? Sie hatte so traurig ausgesehen, als sie sich am Flughafen verabschiedet hatten. Aber war es nicht ihr eigener Vorschlag gewesen, dass sie wieder zurückgehen sollte? Carla starrte nachdenklich auf den Bildschirm. Warum hatte Hanna diesen Vorschlag überhaupt gemacht? Brauchte sie vielleicht Zeit? War sie sich ihrer Gefühle vielleicht doch nicht mehr so sicher wie früher?

Hannas Vorschlag hatte vernünftig und uneigennützig geklungen, doch je länger Carla darüber nachdachte, desto mehr Zweifel kamen ihr. Immerhin war seit ihrer Beziehung für sie beide viel Zeit vergangen, und wer sagte ihr, dass es genauso schön werden würde wie früher. War es überhaupt möglich, dass sie und Hanna an das Leben anknüpfen konnten, das sie damals gehabt hatten?

Carla war in den Tagen auf Kreta klar geworden, dass sie mit Hanna zusammen sein wollte, aber vielleicht war nicht möglich, was sie sich wünschte. Wo sollten sie leben? In Spanien? In Griechenland? In Deutschland? Und würde Hanna tatsächlich bereit sein, alles aufzugeben für sie? Über eine mögliche Zukunft hatten sie nie gesprochen, weil Hanna das unterbunden hatte. Und jetzt saß sie hier mit all den Fragen und wusste keine Antwort.

Carla begann daran zu zweifeln, dass es wirklich der Mensch Hanna war, den sie zurück wollte. Vielleicht sehnte sie sich nur zurück, was sie früher einmal zusammen gehabt hatten? Vielleicht war alles nur eine Illusion? Der Gedanke, alles so zu belassen, wie es war und einfach so weiterzuleben wie zuvor, hatte etwas Verführerisches. Carla würde Stella nicht wehtun müssen, sie würde Sophia keine Trennung zumuten müssen, sie könnte ihren Beruf weiterführen, sie könnte in Barcelona bleiben – gar nichts müsste sich ändern. Schon einmal war sie über Hanna hinweggekommen, vielleicht würde sie es auch ein zweites Mal können.

Doch so einfach es sich anhörte, allein bei dem Gedanken, Hanna nie wieder zu sehen, krampfte sich in Carla alles zusammen. Es war undenkbar. Wenn Carla ehrlich zu sich war, musste sie sich eingestehen, dass sie seit ihrer Rückkehr kaum einen klaren Gedanken fassen konnte vor Sehnsucht. Mit jeder Faser ihres Körpers wünschte sie sich Hanna herbei, und es kostete sie ungeheure Überwindung, nicht zum Telefon zu greifen und Ninas Restaurant anzurufen. Nein, es konnte nicht nur eine fixe Idee sein, die sie von Hanna hatte. Es war nicht nur die Nostalgie, der sie noch nachhing, es war viel, viel mehr. Sie liebte Hanna noch immer, stärker vielleicht sogar, nachdem sie so schmerzhaft hatte lernen müssen, was sie verloren hatte.

Doch wer garantierte ihr, dass Hanna genauso empfand? Sie hatte zwar versichert, dass sie auf sie warten würde, aber so etwas war schnell gesagt. Im Grunde genommen wussten sie wenig voneinander, und hatten nur eine Ahnung, was in den letzten Jahren alles gewesen war. Tatsache war, dass sie in verschiedenen Welten lebten, und niemand konnte sagen, ob sie gemeinsam einen Alltag gestalten konnten oder nicht. Und vielleicht war das Leben manchmal so, dass man auf die Dinge, die einem am wertvollsten waren und die man am meisten ersehnte, verzichten musste. Aufgrund ihres Vermögens und ihrer Stellung war Carla immer gewohnt gewesen zu bekommen, was sie wollte. Vielleicht war dies die große Herausforderung, die das Leben für sie bereithielt.

Carla öffnete ihren Schreibtischschrank und tastete ganz hinten nach zwei großen Kugeln im obersten Regal. Als sie beide vor sich auf den Schreibtisch stellte, einen Weihnachtsmann und einen Elch, rieselte weißer Schnee von den Dächern der Kugeln auf ihren Grund. Als Hannas Haushalt aufgelöst wurde, hatte Carla Lars daran gehindert, Hannas Elch zu entsorgen und die Schneekugel zu sich genommen. Seitdem stand sie für alles, was Carla so unwiederbringlich verloren schien; für Hanna, für ihre Liebe, und für die Geborgenheit, die sie bei Hanna gefunden hatte.

Bevor Carla Hanna getroffen hatte, war ihr Leben ruhelos und oberflächlich gewesen. Carla hatte versucht, all die Erwartungen zu erfüllen, die an sich gerichtet waren, und war von einem Termin zum nächsten gehetzt. Ab und zu eine Affäre, in der sie Zuflucht gesucht hatte, sich fallen lassen wollte und es doch nicht konnte. Erst in ihrer Beziehung mit Hanna hatte sie gelernt, was es bedeutete, sich geborgen zu fühlen, einem Menschen voll zu vertrauen und die inneren Mauern Stück für Stück abzubauen. Niemanden hatte sie so nah in sich herangelassen wie Hanna, und auch wenn ihr diese Erfahrung in späteren Beziehungen nützlich war, so hatte sie sich doch gehütet, einem Menschen noch einmal wieder so nahe zu kommen. Hannas Tod hatte sie im freien Fall getroffen, und sie hatte sich geschworen, dass ihr dies nie wieder passieren würde.

War nur so ein Gefühl, hatte Hanna gesagt, als sie damals in ihrem Büro in Düsseldorf vorbeigekommen war, um sich für die Schneekugel zu bedanken. Nur ein Gefühl war es auch gewesen, das Carla dazu verleitet hatte, die beiden Kugeln überhaupt zu kaufen, und nur ein Gefühl hatte ihr gesagt, dass Hanna eigentlich längst den Weg zu ihr suchte und nur Zeit brauchte, um ihn zu finden. Damals hatte sie ihr Gefühl nicht getäuscht, und sie war froh gewesen, so lange gewartet zu haben. Im Grund war ihr auch nichts anderes übrig geblieben, als abzuwarten, denn an Hanna kam sie nicht vorbei, so oft sie es auch versucht hatte.

Aber jetzt war die Situation vollkommen anders. Reichte es da aus, sich auf sein Gefühl zu verlassen? Reichte es dafür, den liebsten Menschen so sehr weh zu tun und ihnen den Füßen unter dem Boden wegzuziehen?

Hanna hatte Carla geraten, sie solle ihrem Leben eine Chance geben und ausprobieren, ob es noch funktionierte. Vielleicht hatte Hanna recht und sie musste sich tatsächlich einfach nur Zeit geben, um wieder in ihren Alltag zurückzufinden. Dafür brauchte sie Abstand von Kreta und von allem, was dort geschehen war. Carla beschloss, sich vier Wochen Zeit zu geben. Danach musste eine Entscheidung her.

„Seniora von Lahnstein?“ Carla schrak zusammen als ihre Sekretärin an die offene Bürotür klopfte.

„Kommen Sie rein, Seniora.“ Carla verstaute rasch die beiden Schneekugeln wieder in ihrem Schreibtisch. „Was gibt es?“

„Ich wollte nur wissen, ob ich mich schon um die Katalogliste kümmern soll.“

Oh je, die Liste. Die hatte Carla ganz vergessen. „Erledigen Sie doch bitte zunächst diese Korrespondenz.“ Sie kramte auf ihrem Schreibtisch nach einer Akte und hielt sie Seniora Sanchez entgegen. „Und ich benötige eine Telefonnummer in Kanada.“



* * *



„Wie findest du denn diesen hier?“ Nina hielt Erika einen Salzstreuer unter die Nase. Sie waren jetzt schon im dritten Geschäft, um nach neuen Salz- und Pfefferstreuern für das Restaurant zu suchen, aber Erika hatte bisher jeden Vorschlag von Nina abgelehnt.

„Einfallslos“, sagte Erika und rümpfte die Nase. „Du versprichst deinen Gästen schließlich, dass sie bei dir speisen wie die Götter. Dafür brauchst du dann auch edlere Salzstreuer.“

„Und diese hier?“ Nina hielt zwei kleine Männchen hoch, die sich in inniger Umarmung befanden. Eine Figur enthielt Salz, die andere Pfeffer.

„Niedlich, aber Kitsch“, lautete Erikas unerbittliches Urteil. „Du brauchst etwas Durchsichtiges, wo man Pfeffer und Salz sehen kann. Wie wäre es mit Streuern aus Plexiglas?“

„Ist das nicht zu teuer? Wir haben immerhin sechzig Tische, wenn man die Terrasse hinzurechnet.“

„Schatz, Qualität und guter Geschmack zahlen sich immer aus.“ Erika küsste Ninas Nasenspitze. „Das habe ich nun wirklich in meinem Job gelernt.“

„Also gut.“ Nina seufzte und zog Erika zu den Designartikeln. „Dann überlasse ich dir mal das Feld“, verkündete sie und machte eine ausladende Handbewegung. „Aber meckere nicht, wenn wir irgendwann von deinem Gehalt leben müssen.“

„Im Gegenteil.“ Erika hielt eine sehr schicke, aber unbezahlbare Wanduhr hoch und betrachtete sie von allen Seiten. „Dein Restaurant könnte mal wieder einen neuen Look vertragen, sonst wird es langweilig für die Einheimischen. Und wenn alles fertig ist, entwerfe ich eine neue Werbekampagne für dich, für die du weniger bezahlen musst als für eine Kassenbrille bei Fielmann.“

„Oh danke, meine Augen sind noch zu gut intakt, um dafür nach Deutschland zu reisen.“ Nina nahm Erika die Uhr aus der Hand. „Jedenfalls gut genug, um zu lesen, dass die hier unerschwinglich ist.“

„Na schön.“ Erika gab Nina noch einen Kuss. „Aber was hältst du denn von einer Renovierung?“

„Ich finde die Idee toll“, sagte Nina und leckte sich die Lippen. „Aber können wir vielleicht erst einmal unsere traute Zweisamkeit genießen, bevor wir damit anfangen?“

Erika musste lachen über Ninas charmanten Augenaufschlag. „Es ist ganz schön leer im Haus, seitdem Isabell und ihre Familie auch noch abgereist sind, was?“

„Ja, aber so schön es mit ihnen war, jetzt möchte ich dich endlich wieder eine Weile für mich allein haben.“ Nina hielt einen überdimensionalen Salzstreuer hoch. „Was hältst du von dem?“

„Gar nicht schlecht.“ Erikas Augen durchforsteten das Regal. „Gibt’s die auch etwas kleiner?“

„Die gibt’s sogar in drei Größen.“ Nina zog einen kleineren, etwa zwanzig Zentimeter hohen, rechteckigen Streuer aus dem Regal. „Voilá!“

„Das ist er.“ Erika suchte sofort nach dem passenden Pfefferexemplar. „So einen habe ich mir vorgestellt.“

Gemeinsam gingen sie zur Kasse, um eine Großbestellung aufzugeben. Zu ihrem Bedauern waren nicht genug Exemplare vorrätig, aber die Verkäuferin versprach, dass sie in zehn Tagen geliefert würden. „Vielleicht sollten wir doch nicht mehr so lange mit der Renovierung warten“, überlegte Nina, als sie das Gebäude verließen. „Es würde Hanna bestimmt ablenken, wenn sie was Handwerkliches zu tun hätte.“

„Ja, ich mache mir auch Sorgen um sie“, nickte Erika. „Solange Isabell noch da war, konnte sie Hanna wenigstens ein bisschen aufrichten, aber seitdem sie weg ist, sitzt Hanna nur noch in ihrem Zimmer und schreibt Tagebuch.“

„Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn sie sich so zurückzieht.“ Nina reichte Erika den Autoschlüssel. „Ich wünschte, wir könnten irgendwas für sie tun.“

„Ob wir mal ein paar Tage mit ihr wegfahren, damit sie auf andere Gedanken kommt?“

„Dagegen würde sie sich sicher wehren. Ich habe das Gefühl, sie will nichts hören und nichts sehen.“ Nina seufzte, als sie sich anschnallte. „Hat Carla sich eigentlich nochmal gemeldet?“

Erika schüttelte den Kopf. „Nein, nur direkt nach ihrer Ankunft.“

„Meinst du, sie entscheidet sich gegen Hanna?“

„Wer weiß.“ Erika zuckte mit den Schultern. „Auf jeden Fall denke ich, dass sie Zeit braucht. Insofern überrascht es mich nicht, dass sie nichts von sich hören lässt.“

„Ich würde sie zu gern mal anrufen und fragen, wie es ihr geht.“

„Da bist du nicht die einzige, aber es wäre sicher verkehrt. Sie wird ihre Gründe haben, wenn sie sich nicht meldet, und uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten und ihre Entscheidung zu akzeptieren.“



* * *



Hanna saß am Strand, genau an der Stelle, an der sie damals mit Carla gesessen hatte, als ihre ersten Erinnerungen gekommen waren, und schaute auf das aufgewühlte Meer hinaus. Es war ein stürmischer Tag, und auf dem Wasser waren weiße Schaumkronen zu sehen, die sich in Richtung Küste wälzten. In den letzten zwei Wochen hatte es Hanna immer wieder hierher gezogen, an diesen Ort, an dem sie, so fühlte es sich an, ihr Leben wieder zurückbekommen hatte. Und seitdem war alles anders. Auf einmal hatte sie zwei Identitäten. Sie könnte den Rest ihres Lebens als Isabelle Jones verbringen, und niemand würde etwas merken. Wenn sie jedoch den deutschen Behörden ihre wahre Identität mitteilte, würde eine Flut von Bürokratie über sie hereinbrechen, und eventuell würde sie sogar für den gefälschten Personalausweis ins Gefängnis müssen. War ihr ihre wahre Identität dieses Risiko wert?

Es war nicht so, dass sich hinter Isabelle Jones eine inhaltlose Hülle verbarg. Sie war gefüllt mit fast sechs Jahren Erinnerungen an Griechenland. Isabelle hatte eine Arbeit, Freunde, ein Zuhause und eine potenzielle Beziehung mit einem attraktiven Mann. Sie hatte ihre eigenen Erlebnisse, schöne und traurige, und sie hatte einen Platz im Leben. Hanna Novak hatte diesen Platz nicht. Hanna Novak existierte nur noch als Grabstein. Was war ihr aus diesem alten Leben anderes geblieben als ihre Erinnerungen? Nichts anderes war mehr da. Ihre persönlichen Dinge waren längst vernichtet, als hätte es sie nie gegeben. Nur ihre Erinnerungen waren noch da und die Menschen, die sie aus dieser Zeit noch kannten. Solange Carla und Isabell noch hier gewesen waren, wusste und konnte Hanna spüren, wer sie war. Jetzt, da beide abgereist waren, fühlte sie sich nur verwirrt.

Wer wollte sie sein? Welches Leben sollte sie wählen? Und wo war ihr Zuhause? Der Traum, den sie jede Nacht immer wieder von vorn träumte, sprach eine eindeutige Sprache. In dem Traum war sie abwechselnd mal Hanna, mal Isabelle, und immer war es Hanna, die das letzte Wort hatte. Aber warum sollte sie das Risiko einer Strafverfolgung eingehen, wenn sie eh nicht nach Deutschland zurückkehrte? Sicher waren in Düsseldorf noch Freunde, die sich an sie erinnern würden, doch weder Carla, noch Isabell, noch Lars waren mehr dort. Was zog sich noch an diesen Ort zurück? Machte es da nicht mehr Sinn, als Isabelle Jones auf Kreta zu bleiben und ihr Leben einfach normal weiterzuführen? Nicht zuletzt hatte die Person Isabelle etwas Tröstliches, weil sie keine Vergangenheit mit Carla von Lahnstein verband.

Hanna war tief verunsichert, dass Carla sich überhaupt nicht meldete. Das kurze Telefonat nach ihrer Ankunft in Barcelona hatte sie mit Erika geführt und Hanna nicht einmal grüßen lassen. Und seitdem war Funkstille. Obwohl es unrealistisch gewesen war, hatte Hanna gehofft, dass Carla nach ihrer Ankunft in Barcelona den nächsten Flug zurück nach Heraklion nehmen würde.

Die ersten Tage nach Carlas Abreise hatte sie sich noch sagen können, dass es richtig gewesen war, Carla in ihr Leben zurückzuschicken und dass sie ihr Zeit geben musste. Doch je länger Carla sich nicht meldete, desto unsicherer wurde Hanna. Als Carla hier gewesen war, da hatte sich das Band zwischen ihnen so fest und stark angefühlt. Doch jetzt fragte sich Hanna, ob sie sich die Tiefe ihrer Verbindung nur eingebildet hatte. Ihr war bewusst, dass sie niemals wieder einen Menschen so lieben würde wie Carla, doch im Gegensatz zu ihr hatte Carla sich nach ihrer Beziehung wieder verliebt, und zwar mehr als einmal. Sie hatte um Hanna getrauert und sie losgelassen. Konnte man jemanden wieder lieben, von dem man sich auf diese Weise verabschiedet und gelöst hatte?

Außerdem hatte Carla so viel mehr zu bedenken und zu berücksichtigen als sie. Damals, als sie Carla kennenlernte, hatte diese ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Nun war es Hanna, die Carlas Leben auf den Kopf zu stellen drohte. Und genauso wie Carla damals versucht hatte, Hannas Entscheidung für jemand anderen zu akzeptieren, würde Hanna nun akzeptieren müssen, wenn Carla sich für jemand anderen entschied.

Leise Schritte im Sand ließen Hanna plötzlich aufhorchen. Hatte sie sich verhört? Hier war doch sonst keine Menschenseele. Hanna drehte sich um und blinzelte. Eine Gestalt in einem weißen Kostüm kam auf sie zu. Nein… das konnte doch nicht…

„Sylvia?“

„Hanna. Du bist es wirklich.“ Hannas Schwester beschleunigte ihren Schritt. „Deine Freunde haben tatsächlich die Wahrheit gesagt.“

Hanna stand auf und lief ihr entgegen. „Woher weißt du…“, stotterte sie, als sie Sylvia umarmte.

„Deine Freundinnen, Frau Ryan und Frau Sander, haben mir gesagt, dass ich dich hier finden würde.“

„Haben sie dich angerufen?“

„Nein, Carla hat mich informiert.“

„Carla?“ Hanna spürte wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Es tat so gut zu hören, dass Carla noch an sie dachte. „Woher wusste sie…“

„Ich habe keine Ahnung, wie sie meine Telefonnummer herausbekommen hat. Aber gestern Morgen wurde mir ein Anruf aus Barcelona durchgestellt, und es war Carla, die mir erzählt hat, dass du am Leben seist.“

„Und dann hast du gleich das nächste Flugzeug genommen?“ Hanna war so baff, dass sie sich erst einmal setzen musste.

„Ich habe mich nicht einmal mehr umgezogen.“ Sylvia folgte ihrem Beispiel und setze sich neben Hanna in den Sand. „Ich musste doch wissen, ob die Nachricht stimmte.“

„Das erklärt, warum du in diesem Aufzug herumläufst“, lächelte Hanna. „Ist dir nicht viel zu heiß?“

„In der Tat habe ich in der Aufregung ganz vergessen, dass es hier so viel wärmer ist als bei uns.“ Sylvia entledigte sich ihres Blazers und atmete auf, als der Wind über ihre freien Arme fuhr.

„Ich kann dir ein paar T-Shirts von mir leihen“, bot Hanna an.

„Nein danke, ich werde nicht lange bleiben. Übermorgen ist ein wichtiges Meeting, bei dem ich nicht fehlen darf.“ Erst jetzt fiel Hanna auf, dass Sylvia eine Tasche bei sich trug. „Ich wollte dich nur einmal sehen.“ Sylvia öffnete den langen Reißverschluss der Tasche. „Und dir etwas zurückgeben.“

Hannas Augen füllten sich mit Tränen, als sie sah, was Sylvia aus der Tasche zog. „Herr Schmidt?“, fragte sie fassungslos.

„Ich dachte, du brauchst jetzt wieder jemanden, der auf dich aufpasst“, sagte Sylvia und reichte ihr den Schlafteddy aus ihrer Kindheit. „Er stand die ganzen Jahre auf einem Regal in meinem Schlafzimmer.“

Hanna drückte den Teddy fest an sich. „Du ahnst nicht, was für eine Freude du mir damit machst.“

Sylvia räusperte sich. „Du hast also einen Giftanschlag überlebt und dein Gedächtnis dabei verloren?“, fragte sie kopfschüttelnd. „Ich habe es erst für einen schlechten Scherz gehalten, als Carla angerufen hat. Aber dann sagte ich mir, dass Carla darüber keine Scherze machen würde. Also musste ich mich selbst überzeugen.“

„Ja, es hört sich unglaublich an. Das weiß ich selbst.“ Hanna setzte sich in den Schneidersitz und platzierte Herrn Schmidt in ihrem Schoß. „Aber wie du siehst, bin ich tatsächlich am Leben.“

Sylvia lächelte. „Es ist schön, wieder Familie zu haben“, sagte sie. „Ich dachte, ich wäre die einzige, die übrig geblieben ist.“

Hanna wusste genau, was sie meinte. „Wir haben uns allerdings lange nicht verhalten wie eine Familie.“

„Ja, das stimmt.“ Sylvia hob eine Handvoll Sand auf und ließ ihn langsam durch ihre Finger rieseln. „Nachdem du gestorben warst, habe ich manche Dinge mit mehr Abstand gesehen, und ich habe Vieles bereut.“

„Das geht mir auch so“, nickte Hanna. „Wir haben so viel Zeit mit unnützen Streitereien vertan.“

„Wir werden wohl nie die besten Freundinnen werden“, prophezeite Sylvia lächelnd. „Aber immerhin sind wir Schwestern, und ich bin froh, dass du da bist.“

„Und ich bin froh, dass du gekommen bist“, sagte Hanna aus vollem Herzen. „Wir brauchen uns ja nichts vorzumachen, die meiste Zeit unseres Lebens konnten wir uns nicht ausstehen. Aber als wir uns versöhnt haben, habe ich gemerkt, wie viel du mir doch bedeutest.“

Sylvia nickte, sagte aber nichts. Auf einmal tat sie Hanna leid. Wie alle Menschen, war sie auch nur auf der Suche nach Liebe, aber ihre Härte und Kompromisslosigkeit hatten sie zu einer einsamen Frau gemacht. „Carla hat mir erzählt, dass du mit einem neuen Partner nach Kanada ausgewandert bist?“, fragte Hanna, um die Stimmung ein wenig zu heben.

„Das ist richtig. Hagen und ich sind inzwischen verheiratet.“ Sylvia hob ihre rechte Hand, um ihren Ring zu zeigen. „Ich bin glücklich mit ihm, er versucht immer noch, mir die Welt zu Füßen zu legen.“

„Vielleicht lerne ich ihn ja irgendwann mal kennen?“

„Ich hoffe, du besuchst uns mal in Kanada?“, fragte Sylvia, und Hanna merkte an ihrem Blick, dass sie es sehr ernst meinte. „Es tut mir leid, dass ich diesmal nicht lange bleiben kann.“

„Ich bin froh, dass du überhaupt gekommen bist.“ Hanna schüttelte den Kopf. „So viele Stunden Flug für einen einzigen Tag. Das werde ich dir nicht vergessen.“

„Ach was“, wehrte Sylvia ab. „Das musste einfach sein.“

„Kommst du mit zu Erika und Nina und isst mit uns zu Abend?“

„Sehr gern. Deine Freundinnen haben mir schon ein Zimmer zur Verfügung gestellt“, erklärte Sylvia. „Sind die beiden zusammen?“

„Schon seit einer Ewigkeit. Sie sind gemeinsam nach Griechenland ausgewandert.“ Hanna sah Sylvia aufmerksam an. „Stört dich das?“

„Nein, warum sollte es?“ Sylvia schüttelte den Kopf. „Darf ich dich etwas Persönliches fragen, Hanna?“

„Natürlich“, antwortete Hanna leichthin, doch sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Sie wusste, was Sylvia sie fragen würde.

„Was ist mit dir und Carla?“

„Das ist schwer zu sagen.“ Hanna drückte Herrn Schmidt fest an ihre Brust. „Ich wünschte, das Leben wäre nicht so kompliziert…“

„Sie bedeutet dir noch sehr viel?“

„Ja.“

„Und was ist mir ihr?“

„Sie hat gesagt, dass sie mich noch liebt.“ Hanna schluckte. „Aber sie ist verheiratet, sie hat Frau und Kind, und sie lebt in Spanien.“

Zu Hannas Überraschung tat Sylvia etwas, was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte, sie legte den Arm um Hanna. „Ich weiß, wie sehr Carla dich geliebt hat“, sagte sie. „Ich habe miterlebt, wie sie um dich getrauert hat, wie sie alle um sie herum von sich weg stieß, und wie sie nicht mehr leben wollte. Und sie hat mir einmal gesagt, dass sie nie wieder einen Menschen so lieben könnte, wie sie dich geliebt hat.“

„Das hat sie gesagt?“ Hanna merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, aber sie wollte vor Sylvia nicht weinen.

„Ja, das hat sie gesagt“, bestätigte Sylvia und ließ Hanna wieder los.

Hanna spürte, wie Übelkeit in ihr hochstieg. „Ich habe solche Angst, dass sie nicht zurückkommt.“

„Warum rufst du sie nicht an und fragst sie, wie es weitergehen soll?“

„Weil ich ihr gesagt habe, sie solle sich die Zeit nehmen, sich zu entscheiden.“ Hanna strich sich über die Stirn. „Und die Zeit muss ich ihr dann ja wohl auch geben.“

„In dem Fall bleibt dir wohl tatsächlich nichts übrig als abzuwarten.“ Sylvia erhob sich aus dem Sand. „Ich würde gern auf deinen Vorschlag zurückkommen und mit dir und deinen Freundinnen zu Abend essen.“

„Oh entschuldige.“ Hanna erschrak. „Dass ich darauf nicht geachtet habe! Du bist bestimmt total ausgehungert.“

„Das Essen im Flugzeug war nicht gerade umwerfend“, gab Sylvia zu. „Ein gutes Abendessen wäre jetzt genau das Richtige.“

„Gut ist bei uns alles“, versicherte Hanna. „Aber ich hoffe, uns bleibt neben dem Essen trotzdem noch Zeit, dass du mir mehr über dein Leben in Kanada und über deinen Mann erzählen kannst.“

„Sicher.“ Sylvia zog ihre Schuhe aus, um besser im Sand laufen zu können. „Ich denke, wir haben uns beide viel zu erzählen.“



* * *



Carla saß auf dem Fußboden in ihrem Zimmer und starrte in ihren Terminkalender. Die vier Wochen, die sie sich gegeben hatte, waren um. Es hatte keinen Tag gegeben, an dem sie Hanna nicht vermisst hatte, aber auch keinen Tag, an dem sie sich hätte vorstellen können, Stella zu verlassen. Sie war es, die Carla Halt gab, und bei der sie zur Ruhe kam, wenn mal wieder alles auf sie hereinstürzte und sie sich zerrissen fühlte zwischen Beruf, aristokratischen Verpflichtungen und ihren Aufgaben als Mutter. Stella war ein so positiver Mensch, sie gab einem immer das Gefühl, dass alles gut werden würde, und dass man okay war, wie man war. Neben Stella brauchte sie sich nicht anstrengen, keine überhöhten Erwartungen erfüllen und sich nicht rechtfertigen für das, was sie tat. Sie vertraute Stella wie kaum einem anderen Menschen auf der Welt, und sie wusste, dass Stella immer für sie da sein würde. Und sie konnte sich darauf verlassen, dass Stella ihr die Meinung sagen würde, wenn sie einen Fehler machte.

Mit ihrer Geradlinigkeit und Natürlichkeit, so frei von Missgunst und Berechnung, stand sie für alles, was Carla in ihrem Leben als Gräfin verwehrt geblieben war. Wie selten konnte sie sich darauf verlassen, dass eine Geste ehrlich gemeint war, oder dass sich jemand wirklich für ihre Person interessierte und nicht für ihr Ansehen oder ihr Geld.

Stella hatte sich auf ein Leben mit ihr eingelassen und sie verließ sich darauf, dass Carla dasselbe tat. Es war noch nicht lange her, da hatten sie sich gegenseitig versprochen, füreinander da zu sein in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod sie scheide. Und nun?

Carla stand vom Fußboden auf und öffnete die oberste Schublade ihrer Kommode. Sie brauchte nicht lange zu suchen, sie wusste, wo der Brief sich befand. Er lag in einer blauen Mappe ganz links hinten in der Schublade. „Für Carla“, stand auf seinem Umschlag, mit einem schwarzen Füllfederhalter geschrieben. Hanna hatte vorausgeahnt, dass sie sterben würde, aber sie hatte nicht vorhergesehen, dass sie durch einen Zufall in letzter Sekunde gerettet würde.

Carla kannte die Zeilen in dem Brief längst auswendig, sie hatte sie so oft gelesen, dass das Papier an manchen Stellen dünn geworden war. Und doch musste sie ihn immer wieder hervornehmen.

Liebste Carla,

wenn du diese Zeilen liest, werde ich nicht mehr leben. Es gibt Sterne, die sind so weit entfernt, dass man ihr Licht noch sieht, selbst wenn sie schon verloschen sind. Dieser Brief soll so etwas sein wie ein Lichtstrahl. Viele Menschen träumen von der großen Liebe, ich habe sie erlebt. Mit dir. Du hast mich sehr glücklich gemacht, und dafür bin ich dir unendlich dankbar. Es tut mir wahnsinnig weh, dass ich dich in deiner Trauer zurücklassen muss. Aber ich wünsche mir von Herzen, dass du ein neues Glück findest.

In ewiger Liebe

Hanna



Carla wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Hanna hatte gewollt, dass sie ein neues Glück finden würde, und es waren nicht zuletzt diese Worte gewesen, die es ihr ermöglicht hatten, sich auf einen anderen Menschen einzulassen. Und jetzt musste sie sich plötzlich entscheiden. Und wie auch immer ihre Entscheidung ausfiel, sie würde einem geliebten Menschen wehtun. Dann haben Sie doch längst Ihre Antwort, hatte die Psychologin gesagt. Ja, ihr Herz hatte längst die Antwort, aber was war mit ihrem Verstand? Was war mit ihrer Verantwortung als Partnerin und als Mutter?

Vier Wochen lang hatte Carla versucht, an ihre Beziehung mit Stella anzuknüpfen. Sie liebte Stella, daran bestand kein Zweifel. Und dennoch, so sehr sie es versucht hatte, für Stella etwas Ähnliches zu empfinden wie für Hanna, es gelang ihr einfach nicht. Sie verstand sich mit Stella großartig, und sie passten gut zusammen, aber Carla vermisste oft die Tiefe in ihrer Beziehung. Trotzdem hatte sie Stella geheiratet, denn sie liebte sie, und Stella war ein toller Mensch. Doch nun waren alle Gefühle wieder zurück, die sie für Hanna empfand, und die Gedanken an sie und die Sehnsucht nach ihr waren allgegenwärtig in allem, was Carla tat. Und sie schafften eine Distanz zwischen ihr und Stella, die Carla nicht überwinden konnte, so sehr sie sich auch bemühte. Das gab ihr das Gefühl, Stella Unrecht zu tun und nicht ehrlich zu ihr zu sein. Und so etwas hatte Stella nicht verdient.

Sollte sie ihr vielleicht doch endlich die Wahrheit sagen? Wie würde Stella reagieren? Und was bedeutete das für ihre Ehe? Wenn Stella sich von ihr trennte, und Hanna nicht bereit war, Kreta zu verlassen, dann blieb ihr am Ende gar nichts. Carla wusste, dass sie eine Entscheidung ohne doppelten Boden fällen musste, mit dem Risiko, alles zu verlieren. Und trotzdem wog diese Tatsache weniger schwer, als der Gedanke, Stella tief verletzen zu müssen.



* * *



„Carla?“

„Ja?“

„Hast du mir überhaupt zugehört?“ Stella hielt einen DIN-A4 Zettel hoch, damit Carla ihn sehen konnte. „Wir müssen der Kindergärtnerin Bescheid sagen, ob Sophia den Ausflug mitmachen darf oder nicht.“

Carla blickte sie verständnislos an. „Ausflug?“

„Ja, davon reden wir doch seit drei Tagen.“ Stella wirkte ungehalten. „Deine Tochter übrigens auch.“

„Oh ja, du meinst den Ausflug zu dem Freizeitpark.“ Carla fuhr sich mit dem Handrücken über die Augenlider. „Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken woanders. Natürlich darf Sophia mitkommen. Ich finde nur, dass sich noch mindestens zwei Eltern bereiterklären sollten, die Erzieherinnen zu begleiten, damit genug Erwachsene dabei sind.“

„Ja, den Punkt hatten wir schon.“ Stella faltete frustriert den Informationszettel wieder zusammen. „Und vielleicht erinnerst du dich, dass der Kinderladen deinem Vorschlag nicht zugestimmt hat.“

„Jaja, du hast Recht. Das war mir entfallen.“ Carla legte die Mappe in ihrem Schoß zurück zu dem Stapel auf dem Couchtisch. „Hast du Lust auf einen entspannten Fernsehabend? Es gibt eine Reportage über Schlösser und Burgen in Cornwall.“

„Nein, ich habe keine Lust auf einen entspannten Fernsehabend, ich will jetzt wissen, was ich dem Kindergarten rückmelden soll.“ Stella setzte sich in den Sessel neben ihr. „Was ist denn bloß los mit dir, Carla?“

„Na, dann mach es halt, wie du meinst.“ Carla machte eine abwehrende Handbewegung. „Von mir aus kannst du zusagen, sonst würde Sophia sicher sehr enttäuscht sein.“

„Carla, du hast meine Frage nicht beantwortet“, beharrte Stella.

„Ach, du weißt ja, die Arbeit, der Stress…“

„… und Ansgar. Ja, ich weiß.“ Stella schüttelte den Kopf. „Würdest du bitte ehrlich zu mir sein, Carla?“

„Wieso? Was meinst du?“ Carla griff nach der Fernsehzeitung.

„Carla…“ Stella nahm ihr die Zeitung aus der Hand. „Mir reicht es langsam. Merkst du gar nicht, wie seltsam du dich in letzter Zeit aufführst?“

„Wie führe ich mich denn auf?“

„Du bist zickig, du bist unterkühlter als die Queen, und du bist ungerecht zu Sophia, die nun wirklich nichts dafür kann. Wenn du die toughe Geschäftsfrau mimen willst, dann mach das gefälligst in deinem Büro. Zu Hause ist das ziemlich unangemessen.“

„Nun reg dich nicht so auf“, versuchte Carla Stella zu beruhigen, aber sie erreichte das Gegenteil.

„Ich soll mich nicht aufregen?“, Stella erhob sich mit einem Ruck von ihrem Sessel. „Ich rege mich aber auf! Ich rege mich sogar sehr auf! Ich habe die Nase voll von deinen Ausreden. Hör endlich auf, mir etwas vorzumachen!“

„Aber ich mache dir nichts vor…“

„Lüg mich nicht an! Du bist schon seit Wochen so seltsam. Ich hatte gehofft, der Urlaub in Griechenland würde dir gut tun, aber irgendwie ist seitdem alles nur noch schlimmer geworden.“

„Ich hatte dir doch gesagt, dass ich über viele Dinge nachdenken muss…“

„Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll“, unterbrach sie Stella. „Mehr als dich zu bitten, mir die Wahrheit zu sagen, kann ich nicht.“

„Stella… ich…“

„Es ist eine andere Frau, nicht wahr?“ Stella blieb stehen und forschte in ihrem Gesicht. „Es muss eine andere Frau sein. Ich weiß es. Warum sagst du mir nicht, was passiert ist?“

„Stella…“

„Hast du auf Kreta jemanden kennengelernt?“

„Stella, es ist nicht so, wie du denkst.“

„Nein? Wie ist es denn? Hast du jemanden kennengelernt oder nicht?“

Carla spürte, wie ihr Hals sich zuschnürte. „Ja.“

„Habt ihr miteinander geschlafen?“

„Nein.“

„Hast du dich verliebt?“

„Stella, hör mal…“ Carla stand auf und versuchte, Stellas Hand zu fassen, aber diese wich ihr aus.

„Und jetzt überlegst du, ob wir uns trennen sollten?“ Stella lief um Wohnzimmer auf und ab. „Wegen… wegen einer kleinen Urlaubsbekanntschaft in Griechenland?“

„Es ist nicht irgendeine Urlaubsbekanntschaft.“

„Ach nein? Was ist denn?“ Stella blieb am Fenster stehen. „Da bin ich ja mal gespannt.“

Carla versuchte, Stella ins Gesicht zu sehen, aber der Schmerz in ihren Augen zerriss ihr fast das Herz. „Glaub mir, ich wünschte, ich müsste dir das nie erzählen…“

Stella lachte bitter. „Das hab ich gemerkt.“

„Ich… ich konnte ja nicht ahnen, dass so etwas passieren würde…“ Carla versuchte vergeblich, ihre Tränen zurückzuhalten. „Ich hatte Hanna längst hinter mir gelassen…“

„Hanna?“ Stella schaute sie verwirrt an. „Wovon sprichst du?“

„Ich spreche von Hanna. Hanna Novak.“

„Ich verstehe nicht…“

„Hanna ist… sie ist am Leben.“

Stella starrte sie an, als hätte sie einen Geist gesehen. „Was redest du da? Deine Ex-Freundin ist seit Jahren tot. Wir sind doch zusammen am Grab gewesen…“ Stella hielt inne und sah ängstlich zu Carla. „Vielleicht solltest du mal mit einem Psychiater sprechen?“

Carla stützte den Kopf in die Hände. „Ich brauche keinen Psychiater, Stella. Hannas Tod hat sich als Irrtum gewesen, und sie lebt nun unter anderem Namen in Griechenland. Ich weiß es selbst erst seit kurzem.“

Stella wich die Farbe aus dem Gesicht. „Du hast sie getroffen“, sagte sie tonlos. „Deswegen bist du hingeflogen.“

„Glaub mir, ich hatte keine Ahnung, dass es Hanna war. Eine Freundin von ihr hat mich um Hilfe gebeten und…“

„Und das zweite Mal?“

„Ich wollte ihr nur helfen, Stella. Sie hatte ihr Gedächtnis verloren. Sie erinnerte sich an nichts…“ Carla sah flehend zu Stella. „Bitte glaub mir, dass ich dich nie verletzten wollte.“

Stella stand regungslos am Fenster und starrte hinaus. Minutenlang sprach sie kein Wort. „Du hast niemanden so geliebt wie sie“, sagte sie irgendwann, den Rücken zu Carla gewandt. „Aber es war okay. Du hast mir nie das Gefühl gegeben, ich sei dir nicht genug.“ Stellas Stimme zitterte, als sie sprach. „Ich habe dir geglaubt, als du gesagt hast, du willst den Rest deines Lebens mit mir verbringen.“

„Das wollte ich auch.“ Carla stand auf und trat zu ihr ans Fenster. „Das wollte ich wirklich. Ich liebe dich, Stella.“ Sie legte von hinten ihre Arme um sie. „Ich habe mit so etwas einfach nicht gerechnet.“

Stella drehte sich zu ihr und barg ihren Kopf an Carlas Schulter. „Ich liebe dich auch.“



* * *



Hanna stapelte sich den dritten Teller auf ihren Arm, um damit auf die Terrasse zu Tisch 4 zu gehen. Nina hatte zugestimmt, dass sie heute ausschließlich für den Außenbereich zuständig war, denn seitdem Hanna mit Marcel gesprochen hatte, saß dieser jeden Abend im Restaurant. Sie wünschte, er würde akzeptieren, was sie ihm gesagt hatte und sie einfach in Ruhe lassen, aber so lange er ihr hinterher lief, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu meiden. Schließlich konnte sie nicht vor allen Gästen eine Auseinandersetzung mit ihm anfangen.

„Da ist ja die Frau Novak“, hörte sie Ninas vergnügte Stimme hinter sich. Hanna drehte sich zu ihr um und sah, dass Erika mit ihr zusammen die Küche betreten hatte. Die beiden strahlten wie zwei Honigkuchenpferde.

„Ist irgendwas?“, fragte Hanna, als Nina damit begann, ihr die Teller von den Armen zu nehmen. „Hat Tisch 4 abbestellt?“

„Tisch 4 übernehme ich“, sagte Nina und hielt Hanna ihren Autoschlüssel vor die Nase. „Du hast soeben den Nachmittag freibekommen.“

„Okay, was habt ihr vergessen?“ Hanna steckte sich den Schlüssel in die Hosentasche.

„Oh, so dies und das…“, meinte Erika und stibitzte sich einen Fenchelstängel vom Küchenbrett.

„Nein, du brauchst nichts einzukaufen“, widersprach Nina und schlug Erika auf die Finger, als diese versuchte, sich ein zweites Mal am Fenchel zu vergreifen. „Pfui!“

„Wie auch immer“, meinte Erika kauend, der es gelungen war, sich den Stängel an Nina vorbei in den Mund zu stecken. „Natürlich wollen wir dich nicht daran hindern einzukaufen…“

Hanna sah misstrauisch von einer zu anderen. „Warum seid ihr denn so gut drauf? Gibt’s was zu feiern?“

Diesmal nickten beide. „Du solltest dich beeilen“, riet Nina.

„Sonst kommst du zu spät“, bestätigte Erika.

„Wohin denn?“ Hanna wurde immer verwirrter.

„Jemand muss zum Flughafen fahren, um unseren Gast abzuholen. Seine Maschine ist schon gelandet“, sagte Erika und stützte ihren Ellenbogen auf Ninas Schulter ab. „Wir dachten, dass du uns das vielleicht abnehmen könntest.“

„Ja klar, wer ist es denn?“ Hanna stutzte und blinzelte gegen das Licht zu Erika und Nina. „Wartet mal…“

Nina lachte und schloss Hanna in ihre Arme. „Lass Carla nicht zu lange warten.“



* * *



Hanna düste mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Flughafen. Nach Ninas Nachricht war sie nach oben in ihr Zimmer gestürmt und hatte alles aus ihrem Kleiderschrank gerissen, was nicht niet- und nagelfest war. Was sollte sie bloß anziehen? Am liebsten hätte sie noch geduscht, ihre Haut und Kleidung rochen nach Restaurantküche und Sonnencreme, doch sie konnte Carla nicht so lange warten lassen. Warum hatte Carla auch erst angerufen, nachdem sie schon gelandet war? Jetzt konnte sie sich nicht mal mehr zurecht machen. Hanna entschied sich für ein rotes Sommerkleid (Carla hatte sie gesagt, Rot würde ihr gut stehen) und für ihre weißen Turnschuhe. Dann wusch sie sich noch Gesicht und Hände, schnappte sich die Autoschlüssel und rannte den Pfad hinunter zum Auto.

Wenige Minuten später hatte Hanna die Sandwege verlassen und befand sich auf direktem Wege zum Flughafen Heraklion. Erst jetzt kam sie dazu, wieder Luft zu holen, und je näher sie dem Flughafen kam, desto zögerlicher wurde Hanna. Carla hatte keinerlei Gründe genannt, warum sie überhaupt nach Kreta geflogen war. Vielleicht kam sie gar nicht, um zu Hanna zurückzukehren. Vielleicht wollte sie ihr auch einfach nur ihre Entscheidung mitteilen und sie noch einmal sehen, bevor sie endgültig in Barcelona blieb.

Kilometer für Kilometer wurde die Freude weniger und die Angst stärker, und schließlich machte Hanna sich große Sorgen, wie sie eine negative Nachricht verkraften könnte. Nina und Erika waren offenbar davon ausgegangen, dass Carlas Besuch nur etwas Positives bedeuten konnte, doch selbst wenn Carla zu ihr zurückwollte, hieß das noch lange nicht, dass sie sich auf eine gemeinsame Lösung einigen konnten. Hannas Leben war hier, und Carlas Leben war in Barcelona. So oder so würde mindestens eine von ihnen ein großes Opfer bringen müssen.

„Wünsch mir Glück, Herr Schmidt“, sagte Hanna zu ihrem Teddy, der aufrecht neben ihr auf dem Beifahrersitz saß. Aber Herr Schmidt sah nur stur geradeaus. Vielleicht wollte er damit sagen, dass man die Dinge einfach so nehmen musste, wie sie kamen. Hanna seufzte, als sie auf den Parkplatz des Flughafengebäudes bog. Ihre Knie wurden dermaßen weich, dass sie für einen kurzen Moment überlegte, ob sie Carla anrufen und sie direkt zum Auto lotsen sollte. Aber dann fasste sie sich doch ein Herz und stieg vorsichtig aus dem Wagen. Ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, als sie die Autotür schloss, um sich zum Flughafengebäude zu begeben. So musste man sich fühlen, wenn man zum jüngsten Gericht schritt.

Erika hatte Hanna informiert, dass Carla in einem Café in der Nähe des Ausganges sitzen würde, aber dort befanden sich diverse Cafés. In welchem konnte sie einen blonden Lockenkopf erkennen? Erst nachdem sie zweimal bei den Café auf- und abgelaufen war, entdeckte sie Carla. Sie saß mit dem Rücken zu ihr und las in einem Magazin, während sie ab und zu an einem Mineralwasser nippte. Hanna nahm alle ihren Mut zusammen und steuerte auf das Café zu. Carla sah erst auf, als Hanna direkt neben ihr stand. „Hallo“, sagte Hanna und hoffte, dass es nicht halb so beklommen klang wie sie sich fühlte.

„Hallo.“ Carlas Lächeln blies einen Teil von Hannas Sorgen in den Wind. Sie schien sehr froh, sie zu sehen.

„Schön, dass du da bist.“ Hanna erwiderte ihr Lächeln, und sie hatte das Gefühl, bei ihren Worten eine Spur von Erleichterung in Carlas Gesicht zu sehen. „Ist Sophia nicht bei dir?“

„Nein, sie ist für ein paar Tage bei Stellas Mutter.“

„Achso.“ Hanna stand unschlüssig vor Carla. Sie hätte sie furchtbar gern umarmt, aber da diese von sich aus keine Anstalten machte, entschied Hanna sich, lieber Carla Koffer zu übernehmen. „Wollen wir dann los?“, fragte sie und zog den Griff des Koffers hoch.

„Gern.“ Carla kam Hanna zuvor, als diese auch ihr Handgepäck an sich nehmen wollte. „Das mache ich schon selbst.“

Als sie gemeinsam zum Ausgang des Flughafens gingen, war Hannas Kopf wie leergefegt. Ihr fiel nichts mehr ein, über was man sich unterhalten könnte. Auch Carla sagte keinen Ton, sondern ging schweigend neben ihr her. Im typischen Flughafenchaos, zwischen umher eilenden Menschen, die nach ihrem Gepäck oder ihren Angehörigen suchten, fiel ihr Schweigen nicht auf, doch als sie das Gebäude verließen und zum Parkplatz gingen, hielt Hanna die Stille nicht mehr aus.

„Darf ich fragen, warum du hergekommen bist?“, fragte sie bang und versuchte, in Carlas verschlossenem Gesicht die Antwort zu lesen.

„Ich hatte gehofft, das wüsstest du“, sagte Carla und schaute an ihr vorbei zu einem gerade abhebenden Flugzeug.

Hanna blieb wie angewurzelt stehen. „Hast du… hast du dich von Stella getrennt?“, fragte sie mit klopfendem Herzen.

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft sah Carla sie wirklich an. „Ja.“

„Für mich?“

„Ja.“

„Kein Rückzieher?“

„Nein.“ Carla lächelte. „Und hast du auf mich gewartet?“

Hanna atmete auf. „Jede Sekunde.“

Carla ließ ihr Gepäck fallen und zog Hanna in ihre Arme. „Darf ich dich jetzt endlich küssen?“, fragte sie und beugte sich zu ihrem Gesicht.

„Nur wenn du nie wieder aufhörst“, flüsterte Hanna gegen Carlas Lippen und schloss die letzte Distanz zwischen ihnen.

Natürlich mussten sie irgendwann wieder aufhören, denn immerhin standen sie mitten auf einem hoch frequentierten Parkplatz und waren nicht nur den Fußgängern, sondern auch den Autofahrern im Weg. So blieb ihnen schließlich nichts anderes übrig, als den Beschimpfungen und Hupkonzerten um sie herum nachzugeben. „Wir sollten vielleicht ein ruhigeres Plätzchen suchen?“, raunte Carla in Hannas Ohr.

„Och, ich find’s ganz nett hier.“ Hanna war noch nicht bereit, Carla loszulassen. „Weißt du, dass dies das erste Mal ist, dass du mich in der Öffentlichkeit geküsst hast?“, fragte sie und küsste Carlas Ohrläppchen.

„Du vergisst Carlos“, protestierte Carla und raubte sich einen letzten Kuss von Hannas Lippen, bevor sie sie aus ihren Armen ließ.

Hanna nahm wieder Carlas Koffer und schlang ihren freien Arm und Carlas Taille. „Tatsächlich war das meine erste Erinnerung an dich.“ Hanna musste lächeln bei dem Gedanken an die Situation. „Ich habe nachts davon geträumt, aber ich wusste damals nicht, dass es eine Erinnerung war.“

„Ausgerechnet an einen Mann hast du dich erinnert?“, schmunzelte Carla. „Ich weiß ja nicht, was das über unsere Beziehung aussagt…“

„Vielleicht das du mich bezauberst, auf welche Weise auch immer wir uns begegnen?“ Hanna musste noch einmal stehenbleiben und sich einen Kuss abholen.

„Diese Interpretation gefällt mir schon besser.“ Carla ließ sich nur zur gern von Hanna aufhalten.

„Ich kann nicht glauben, dass du wirklich hier bist“, flüsterte Hanna.

Carla ließ erneut ihr Handgepäck fallen…



* * *


Irgendwie schafften sie es dann doch noch, bis zum Auto vorzudringen und zu Hanna nach Hause zu fahren. Die ganze Fahrt über mussten sie die Nähe der anderen suchen, und Hanna hatte ernsthafte Schwierigkeiten, sich auf das Autofahren zu konzentrieren. Sie hatte das Gefühl, auf der Stelle verrückt zu werden, wenn sie Carla nicht irgendwo berühren konnte, und Carla schien es ähnlich zu gehen. Beide Frauen atmeten erleichtert auf, als die Fahrt endlich zu Ende war, und Hanna auf dem Vorplatz zum Restaurant parkte. Als sie einen Blick ins Restaurant warfen, war von Nina und Erika nichts zu sehen, und so beschlossen sie, den kürzesten Weg zu Hannas Zimmer zu nehmen.

Carla schloss stürmisch die Tür hinter ihnen und schmiss ihr Gepäck achtlos in eine Ecke. Hanna kam gar nicht mehr dazu, den Koffer abzustellen, da war Carla schon bei ihr. „Du hast doch hoffentlich heute nichts mehr vor?“, fragte sie, während sie hastig Hannas Kleid aufknöpfte.

„Ich erinnere mich nicht mehr.“ Hanna seufzte leise, als sie Carlas Lippen in ihrem Nacken spürte.

„Schon wieder Gedächtnisprobleme, ja?“ Carla schob Hanna zum Bett, während sie ihren BH löste.

„Vielleicht können Sie ein… wenig… nachhelfen… Gräfin?“ Hanna rang nach Luft, als Carla ihr auch den Schlüpfer auszog und sich vor sie kniete. „Nein…“. Sie schob ihre Hände in Carlas Locken. „Komm hoch… ich will dich sehen…“

Hanna konnte ihr Glück kaum fassen, als sie in die geliebten blauen Augen vor sich sah. Der Hunger darin ließ sie erschauern. „Ich liebe dich“, flüsterte Carla und drückte Hanna aufs Bett. „So sehr.“

Carlas Hände raubten Hanna fast die Sinne, aber es gelang ihr, die letzten Kleidungsstücke von Carla abzustreifen. „Ich hab mich so nach dir gesehnt, Carla…“ Sie stöhnte leise, als Carlas Zunge ihre Brüste erreicht hatte. „Du bringst mich noch um.“

Carlas Zunge tanzte über Hannas weiche Haut. Das Ziel der Mission war klar. „Das tue ich nicht“, sagte Carla sanft und küsste Hannas Bauchnabel. „Ich hole dich zurück.“ Kuss. „Zu mir.“ Kuss. „Für immer.“



* * *



Eine Stunde später lagen Hanna und Carla engumschlugen in Hannas Bett und schauten schläfrig aus dem Fenster. Vom Bett aus war in der Ferne die Bergkette zu erkennen, doch aufgrund des diesigen Wetters wirkte sie seltsam unwirklich, wie die Kulisse eines Fantasyfilms. „Ich habe immer noch Angst, dass jemand mich aufweckt und mir sagt, das war alles nur ein Traum“, seufzte Hanna.

„Das geht mir genauso.“ Carla küsste ihre Stirn. „Aber es hilft enorm, dass du bei mir bist.“

Hanna nickte, sie wusste genau, was Carla meinte. „Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens“, sagte sie aus vollem Herzen und kuschelte sich tiefer in Carlas Arme. „Vor zwei Monaten dachte ich noch, ich hätte alles verloren. Und jetzt habe ich meine Erinnerungen zurück, eine beste Freundin, eine große Schwester, und die Liebe meines Lebens.“

Carla fuhr Hanna zärtlich über ihr Gesicht. „In Barcelona habe ich viel nachgedacht. Ich fragte mich, ob wir uns vielleicht in so verschiedene Richtungen entwickelt haben, dass es nicht mehr passen würde mit uns. Aber wenn ich mit dir zusammen bin, stellen sich diese Fragen nicht.“

„Wie du siehst, scheine ich mich sowieso immer in dich zu verlieben“, bemerkte Hanna lächelnd. „Ob in Düsseldorf oder Griechenland, ob mit Gedächtnis oder ohne…“

Carla unterbrach ihre Aufzählung mit einem Kuss. „Und ich scheine mich sowieso in dich zu verlieben, ob du hetero lebst oder lesbisch, ob du Hanna Novak bist oder Isabelle Jones…“

„Ich glaube, das nennt man wohl Schicksal“, sinnierte Hanna. „Übrigens danke, dass du Sylvia Bescheid gesagt hast.“

„Das war doch selbstverständlich. Sie hat sich also bei dir gemeldet?“

Hanna musste lachen, als sie an Sylvias seltsamen Auftritt dachte. „Gemeldet ist gut. Sie stand eines Tages vor meiner Nase.“

„Sie ist nach Kreta gereist?“, fragte Carla ungläubig. „Von Kanada aus?“

„Ja, das ist sie. Für einen einzigen Tag.“ Hanna schüttelte den Kopf. „Sylvia ist immer so distanziert und förmlich, aber dass sie sich extra in ein Flugzeug gesetzt hat und sechszehn Stunden über den Ozean geflogen ist, um mich zu sehen, rechne ich ihr hoch an. Und sie hat sich nicht einmal die Zeit genommen, einen Koffer zu packen.“

Carla lächelte. „Deine Schwester hat eine seltsame Art, dir ihre Liebe zu zeigen. Wie war denn das Wiedersehen für dich?“

Hanna dachte einen Moment nach. „Ich habe mich gewundert, wie sehr ich mich gefreut habe, sie zu sehen. Und ich war sehr gerührt, dass sie mir Herrn Schmidt mitgebracht hat. Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut.“

„Wer ist Herr Schmidt?“

„Der Teddy, der neben dir im Autos saß. Sylvia hatte ihn mir geschenkt, als ich fünf war.“ Hanna wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Und als ich wusste, dass ich sterben würde, habe ich ihr Herrn Schmidt zum Geburtstag geschenkt und ihr geschrieben, er solle von nun an auf sie aufpassen. Jetzt hat sie gesagt, ich bräuchte wohl dringender jemanden, der auf mich aufpasst.“

„Das ist lieb von ihr.“

„Ja, meine Schwester steckt voller Überraschungen.“

Carla stützte sich auf ihren Ellenbogen, um in Hannas Gesicht zu sehen. „Habe ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?“, fragte sie und strich Hanna eine Strähne aus der Stirn.

„Nein, das höre ich zum ersten Mal“, antwortete Hanna, ohne eine Miene zu verziehen. „Was sagtest du?“

„Ich liebe dich“, wiederholte Carla lachend und beugte sich zu Hanna hinunter für einen ausgedehnten Kuss.

„Ich liebe dich auch“, erwiderte Hanna, als sie wieder Luft bekam. „Dir ist doch hoffentlich klar, dass ich dich jetzt nicht mehr gehen lasse.“

„Ich hatte so etwas gehofft“, lächelte Carla.

„Carla?“ Hanna wickelte eine von Carlas Locken um ihren Zeigefinger. „Sagst du mir ehrlich, wie es jetzt für dich ist ohne Stella?“

Carla legte sich wieder hin und bettete ihren Kopf auf Hannas Schulter. Sie überlegte eine Weile, bevor sie sprach. „Es war furchtbar, ihr wehzutun. Ich habe es immer wieder hinausgeschoben, weil ich es einfach nicht über mich bringen konnte. Aber dadurch habe ich sie noch mehr verletzt, weil sie natürlich gemerkt hat, dass etwas nicht stimmte.“ Carla seufzte und schlang ihren Arm um Hannas Oberkörper. „Irgendwann hat sie mich dann direkt angesprochen, und mir blieb nichts anderes übrig als ihr die Wahrheit zu sagen.“

„Und wie hat sie es aufgenommen?“

„Ich war erschrocken, wie verständnisvoll sie reagiert hat. Ich hatte erwartet, dass sie einen riesen Aufstand machen und um mich kämpfen würde, und um Sophia. Aber es war seltsam… Erst war sie sehr wütend und verletzt, aber als sie erfuhr, dass es um dich geht, hat sie irgendwie die Waffen gestreckt. Sie hat sie nichts gesagt oder getan, um mich aufzuhalten. Sie hat nur gesagt, dass sie mich liebt.“

„Und du?“ Hanna küsste Carlas Scheitel.

„Ich habe ihr gesagt, dass ich sie auch liebe. Aber dass ich nicht bei ihr bleiben kann, weil…“ Carla musste schlucken. „Weil du die Frau für mich bist, Hanna, und ich nicht mit jemand anderem zusammen sein kann, solange du auf dieser Erde wandelst.“

„Das geht mir genauso.“ Hanna stiegen Tränen in die Augen. „“Ich würde sie gern einmal kennenlernen, deine Stella.“

„Das ist im Moment sicher keine so gute Idee.“ Carla schüttelte den Kopf. „Vielleicht irgendwann mal, wenn es ihr wieder besser geht. Sie ist klug, sie ist bezaubernd schön, sie ist ein wunderbarer Mensch… Sie wird ein neues Glück finden.“

„Danke, dass du dich für mich entschieden hast.“ Hanna küsste Carlas Hand und legte sie an ihre Wange. „Ich hätte nicht gewusst, was ich machen soll, wenn du nicht zurückgekommen wärst.“

„Ich hätte mich nicht anders entscheiden können.“ Carla seufzte. „Aber für Sophia wird es sicher schwer. Auch wenn sie dich sehr mag, ist Stella doch immerhin ihre zweite Mutter.“

„Ich werde nicht in Konkurrenz zu Stella gehen“, versprach Hanna. „Was immer für Sophia das Beste ist, werde ich beherzigen.“

„Nichts anderes habe ich von dir erwartet.“ Carla lächelte traurig. „Danke.“

Hanna küsste Carlas Augenlider. „Über die Zukunft sprechen wir ein anderes Mal“, beschloss sie. „Jetzt ist erst einmal wichtig, dass wir zusammen sind.“

„Du hast Recht.“ Carla seufzte tief. „Dass wir uns wiederhaben, ist das Wichtigste. Alles andere wird sich finden.“

„Ja…“ Hanna horchte auf, als sie unten Teller scheppern hörte. „Vielleicht sollten wir allmählich mal runter gehen, damit du Nina und Erika begrüßen kannst?“

Carla schüttelte den Kopf. „Erst, wenn ich mit dir fertig bin“, sagte sie und bedeckte Hannas Gesicht mit kleinen Küssen. „Und das kann dauern…“

„So wichtig ist die Begrüßung nun auch wieder nicht“, lächelte Hanna, und dann knüpften sie dort an, wo sie vor einer halben Stunde aufgehört hatten. Und Hanna spürte, dass sie sich zum ersten Mal seit vielen Jahren ganz und gar geborgen fühlte. Auch wenn die Zukunft noch viele Fragezeichen beinhaltete, war in ihrem Leben endlich wieder alles an den richtigen Platz gerückt. Was immer auch passieren würde, gemeinsam mit Carla würde sie es schaffen.



* * *



„Na, du bist ja vielleicht eine.“ Nina schenkte Carla eine zweite Tasse Kaffee ein. „Wieso hast du denn erst angerufen, als du schon gelandet warst?“

Carla schaute entschuldigend zu Hanna, bevor sie antwortete. „Um ehrlich zu sein, hatte ich bis zum Schluss Angst, Hanna hätte sich umentschieden und würde mich nicht sehen wollen.“

„Na, die Angst hätten wir dir leicht nehmen können.“ Erika verdrehte die Augen. „Die Frau war ja zu nichts mehr zu gebrauchen, nachdem du abgereist warst.“

„Isabell hat noch ein paar Aufmunterungs- und Ablenkungsversuche gestartet“, bestätigte Nina. „Aber als die dann abgereist war…“

„Naja. Nun ist Carla ja da“, unterbrach Hanna sie, der es unangenehm war, dass die Freundinnen so über sie sprachen. „Und Carla kann vier Tage bleiben, bevor wie wegen einer Vernissage zurück nach Barcelona muss.“

„Wenn sie nicht wieder wegläuft“, gab Nina zu bedenken, und handelte sich dafür einen Knuff von Carla ein.

„Ihr müsst zugeben, dass die Situation sehr besonders war“, verteidigte sie sich. „Normalerweise neige ich nicht zum Weglaufen.“

„Ach nein?“ Hanna hob erstaunt die Augenbrauen. „Ich kann mich da an Zeiten erinnern…“

„Schon gut…“ Carla gab sich lachend geschlagen. „Aber besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen…“

„Hm.“ Erika schaute von einer zur anderen. „Das ist mir jetzt etwas zu kryptisch…“

„Als ob du nicht wüsstest, was Weglaufen ist…“ Jetzt war es an Nina, mit den Augen zu rollen. „Ich sage euch, als Erika und ich uns kennenlernten, und ich ihr gestanden habe, dass ich mich in sie verliebt habe…“

„Da war ich noch mit Arno zusammen“, rechtfertigte sich Erika. „Ich war einfach verwirrt…“

„Das kenne ich.“ Hanna tätschelte Erikas Hand. „Die beiden da wissen einfach nicht wie das ist, wenn man sich plötzlich in eine Frau verliebt, nachdem man jahrelang mit Männern zusammen war…“

„Ganz genau“, nickte Erika erfreut. „Bis man das so eingeordnet und für sich sortiert hat…“

„Das dauert einfach seine Zeit“, ergänzte Hanna mit Seitenblick auf Carla und Nina. „Lasst euch das von zwei Expertinnen sagen.“

„Weißt du, Carla…“ Nina legte ihre Hand auf Carlas Schulter. „Manche Menschen haben einfach eine längere Leitung, und da muss man dann geduldig sein, bis sie das Glück erkannt haben, das ihnen direkt vor die Füße gefallen ist.“

Carla nippte an ihrem Kaffee. „Du meinst, wir sollten mehr Nachsicht walten lassen für diejenigen, die nicht denselben Durchblick haben wie wir?“

„Ich denke schon“, sagte Nina großzügig. „Obwohl wir wohl ein bisschen mehr Verständnis und Anerkennung erwarten dürften, denn schließlich kostet es eine Menge Nerven, geduldig darauf zu warten, bis bei jemandem endlich das Licht angeht.“

„Wie wahr, wie wahr…“ Carla schaute betont philosophisch in ihre Kaffeetasse. „Aber Undank ist der Lesben Lohn. So ist das nun mal.“

„Spottet ihr nur.“ Erika warf den beiden einen giftigen Blick zu. „Aber apropos Entscheidungen“, sagte sie zu Hanna. „Weißt du schon, ob du deinen Personalausweis wieder ändern lassen wirst?“

Hanna zuckte mit den Schultern. „Ich habe lange darüber nachgedacht und kann mir nicht mehr vorstellen, länger mit einem anderen Namen herumzulaufen. Aber…“

„… aber du weißt nicht, ob du strafrechtlich verfolgt werden würdest?“, fragte Nina.

„Genau.“ Hanna runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich habe nichts davon, der Welt zu sagen, wer ich wirklich bin, wenn ich dabei im Gefängnis sitze.“

Carla kam eine Idee. „Wie wäre es, wenn du Lars mit dieser Frage beauftragst? Du wolltest dich eh bei ihm melden, und er wäre sicher froh, wenn er dir irgendwie behilflich sein könnte. Und dann wüsstest du, was auf dich zukäme oder nicht.“

„Das wäre eine Möglichkeit. Wozu hat man einen Anwalt als Ex-Freund.“ Hannas Miene hellte sich auf. „Und du hast seine Telefonnummer?“

Carla lächelte. „Er ist immerhin der Vater meiner Tochter.“

„Dann rufe ich ihn gleich morgen an“, beschloss Hanna. „Ich wäre wirklich froh, wenn ich endlich weiß, wer ich in Zukunft bin.“

„Wisst ihr denn schon, ob ihr zusammenziehen wollt, oder ob ihr in verschiedenen Ländern wohnen bleibt?“, fragte Erika und schaute Hanna dabei an.

Hanna sah zu Carla und atmete tief durch. „Für mich kommt es nicht in Frage, dass wir an verschiedenen Orten leben“, sagte sie in Richtung Carla. „Wir haben lange genug getrennt gelebt.“

„Das geht mir genauso.“ Carla war sichtlich erleichtert. „Hast du denn einen Wunsch, wo das sein soll, Hanna? Griechenland? Spanien? Deutschland?“

Hanna dachte lange nach. „So leid es mir tut“, sagte sie zu Erika und Nina, „und so sehr ich an euch hänge und hier ein Zuhause gefunden habe, ich denke, dass es keine gute Idee ist, wenn wir bleiben. Außerdem kann Carla auf Kreta ihren Beruf nicht ausüben, jedenfalls nicht in dieser Art.“

„Mach dir über uns keine Gedanken“, sagte Erika und strich Hanna über den Rücken. „Wir wollen nur das Beste für dich. Hauptsache, wir verlieren uns nicht aus den Augen.“

„So ist es.“ Nina nickte bekräftigend. „Heißt das denn, dass ihr nach Düsseldorf zurück wollt?“

„Ich könnte mir Düsseldorf gut vorstellen“, antwortete Hanna und sah erneut zu Carla, die sich noch nicht geäußert hatte. „Aber ich glaube, es wäre nicht gut, wenn Sophia neben ihrer zweiten Mutter auch noch ihr vertrautes Zuhause verliert. Und außerdem hat Carla in Barcelona eine Arbeit, die ihr Spaß macht.“

„Was sagst du denn dazu?“, wendete sich Erika an Carla, die jedoch auf ihre Frage nicht reagierte, sondern Hanna nur mit großen Augen anstarrte. „Das… das würdest du wirklich tun?“, fragte sie, ohne den Blick von Hanna zu nehmen. „Du würdest alles aufgeben, was dir vertraut ist? Nur für mich?“

Hanna lächelte, aber ihre Augen waren ernst. „Du hast auch viel aufgegeben für mich, Carla.“

Carla beugte sich über den Tisch und ergriff Hannas Hände. „Du ahnst nicht, wie glücklich du mich damit machst…“

Nina warf Erika einen vielsagenden Blick zu. „Wollten wir

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BeitragVerfasst: 05.05.2011, 17:54 
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... Nina warf Erika einen vielsagenden Blick zu. „Wollten wir beide nicht noch dringend die Terrassenmöbel säubern?“

„Ach ja, die Terrassenmöbel…“ Erika schlug sich an die Stirn. „Die habe ich ganz vergessen.“ Schon war sie dabei, das Geschirr zusammen zu räumen. „Wir sehen uns dann ja später“, sagte sie zu Carla und Hanna, die so mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie sie gar nicht hörten.

Nina zuckte die Achseln. „Komm“, flüsterte sie und knuffte Erika mit ihrem Ellenbogen in den Oberarm. „Wir machen uns hier mal vom Acker und lassen die beiden Schönen allein.“


TO BE CONTINUED....

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