Kapitel 8
Schon von weitem entdeckte Carla Stellas blonden Haarschopf hinter der Absperrung. „Schau mal, Sophia.“ Sie hob ihre Tochter hoch, damit sie besser sehen konnte. „Da hinten steht Stella. Wollen wir mal winken?“
„Stella!!!“ Sophia wurde ganz aufgeregt und begann, so ungestüm zu winken, dass Carla sie kaum auf dem Arm halten konnte.
„Erst müssen wir noch unser Gepäck holen“, erklärte sie ihrer ungeduldigen Tochter. „Und dann kannst du Stella einen Kuss geben.“
Sophia wollte auf der Stelle von Carlas Armen herunter und düste anschließend im Flughafen herum wie eine wilde Hummel. „Sophia, bleib hier bei mir“, befahl Carla nachdrücklich. „Sonst verlieren wir uns aus den Augen.“
Sophia schob ihre Unterlippe vor und hängte sich an Carlas Bein, während diese vor dem Laufband auf ihre Koffer wartete. Als die ältere Frau neben ihnen mitbekam, dass sie Deutsch sprachen, zwinkerte sie Carla zu. „Die Kleine will zu ihrem Papa, stimmt’s?“, lächelte sie. „Ich weiß, wie das ist.“
Carla wollte gerade etwas erwidern, da merkte sie, wie der Ehemann der Frau diese unauffällig in die Rippen stieß. „Mensch Helga“, raunte er ihr ins Ohr. „Das ist doch die Gräfin von Lahnstein. Die ist doch eine Lesbierin.“ Die Frau erschrak und wandte sich errötend von Carla ab.
„Möchtest du wieder auf den Koffern sitzen?“, fragte Carla ihre Tochter, als ihr Gepäck endlich in Sichtweite kam. „Dann siehst du viel schneller, wo Stella uns abholt“, sagte sie so laut, dass das Paar neben ihr es hören konnte. „Einen schönen Tag noch“, rief sie der Frau zu, während sie den Gepäckwagen samt Koffer und Sophia an ihr vorbei schob. Die Frau starrte ihr nur mit offenem Mund hinterher.
„Stella!“, rief Sophia schon von weitem. „Schau mal, wo ich sitze!“
Stella hob Sophia lachend von ihrem Gepäckthron und drückte sie. „Hallo Sophia, du bist ja heute eine Prinzessin.“ Sie gab ihr einen Kuss und entließ sie aus ihren Armen, um Carla zu begrüßen. „Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht, als du angerufen hast“, erklärte sie, als sie Carla umarmte. „Ich habe selbst noch gar nicht ausgepackt.“
„Bist du zufrieden mit der Tagung in Wien?“ Carla hakte sich bei Stella ein. „Entschuldige bitte, dass ich mich die letzten zwei Tage nicht gemeldet habe.“
„Ja, es war ganz okay, aber du kennst ja den Müller.“ Stella stöhnte demonstrativ. „Der musste am Schluss natürlich dreimal erwähnen, dass er das Ganze organisiert hat. Dabei wusste jeder im Raum dass die Schröder und ich das alles auf die Beine gestellt haben. Dass der selbst nicht merkt, wie peinlich er ist…“ Sie schüttelte angewidert den Kopf. „Und wie war’s bei dir?“
Carla beobachtete ihre Tochter, anstatt Stella anzusehen. „Kreta ist eine wunderschöne Insel“, antwortete sie ausweichend. „Man kann Wandern, Baden, Tauchen, Segeln, und die antiken Bauwerke sind sehr beeindruckend.“
„So braungebrannt wie du bist, kannst du dich aber nicht nur in Ruinen aufgehalten haben“, lächelte Stella und fischte ihren Autoschlüssel aus der Hose. „Ich stehe gleich auf dem ersten Deck.“
Erst als sie alle drei im Auto saßen und Stella den Wagen vom Flughafengelände steuerte, merkte Carla, wie erschöpft sie eigentlich war. Aber es war anders als eine normale Erschöpfung, alles fühlte sich so weit weg an, und die vertrauten Straßen erschienen ihr seltsam fremd, so als sei sie eine Ewigkeit fortgewesen.
Carla schloss die Augen, als sie merkte, dass Stella sie von der Seite beobachtete. „Ich bin ziemlich müde“, erklärte sie.
„Sag mal, hast du geweint?“
„Ein bisschen. Du weißt ja, dass ich über verschiedene Dinge nachdenken musste.“
„Ist die Sache mit Ansgar so schlimm?“
„Ja, ist sie. Es sprengt alles, was er sich bisher geleistet hat.“
„Kann ich irgendwie helfen?“ Stella streichelte Carlas Oberschenkel. „Du sagst mir, wenn ich etwas tun kann, okay?“
Carla nahm Stellas Hand von ihrem Oberschenkel und küsste sie. „Danke, Schatz. Ich bin froh, dass du da bist.“
„Wollen wir uns nachher noch ins Wohnzimmer setzen?“
„Lieber nicht. Entschuldige, aber ich bin wirklich hundemüde.“
„Na gut.“ Stella lächelte. „Wir können ja morgen alles nachholen.“
„Ich wollte morgen eigentlich ins Büro.“
„Aber du müsstest doch noch Urlaub haben?“
„Ja, das stimmt, aber ich habe meinen Urlaub früher beendet, weil im Büro alles drunter und drüber geht.“
„Schade.“ Stella war sichtlich enttäuscht. „Ich hatte mich so gefreut, als ich gehört habe, dass du früher zurückkommst.“
Carla beugte sich zu ihr und küsste ihre Wange. „Wir machen uns morgen einen richtig schönen Abend und gehen Essen mit allem Drum und Dran.“
„Auch gut.“ Stella gab ihr einen versöhnlichen Klaps auf das Knie. „So ist das halt mit euch Businessfrauen. Vielleicht gewöhne ich mich ja irgendwann mal daran.“
* * *
„Frau von Lahnstein? Gräfin? Hören Sie mir zu?“
Die kratzige Stimme von Herrn Sawatzki riss Carla aus ihren Gedanken. „Ja, selbstverständlich“, sagte sie gedehnt. „Wir machen es dann wie besprochen.“
Herr Sawatzki klopfte seine Pfeife im Aschenbecher aus. „Verzeihen Sie, Gräfin, aber Sie haben mir noch nicht gesagt, welchen meiner beiden Vorschläge Sie annehmen wollen.“
Carla verschränkte die Arme und stand vom Tisch auf, um im Konferenzzimmer auf und ab zu gehen. Sie musste sich unbedingt konzentrieren. Wenn sie jetzt einen Fehler machte, könnte das weitreichende Folgen haben. „Beide Vorschläge haben ihre Vor- und Nachteile“, begann sie diplomatisch und versuchte krampfhaft, sich daran zu erinnern, welches die beiden Vorschläge gewesen sein mochten. „Ich schlage vor, wir halten beide Möglichkeiten auf der Flipchart fest und notieren die Pros und Contras in der jeweiligen Spalte.“
„Ich kann das aufschreiben“, meldete sich Seniora Sarazar und trat schon zur Flipchart.
„Wir sollten heute unbedingt zu einer Entscheidung kommen“, sagte Senior Albert, sichtlich gereizt. „Noch einmal fliege ich nicht nach Barcelona.“
„Das ist ganz in meinem Sinne“, nickte Carla und versuchte, ihn mit einem Lächeln zu besänftigen. „Ich bin zuversichtlich, dass wir heute zu einer Einigung kommen werden, Senioras und Seniores.“
Über eine Stunde lang ging es noch hin und her zwischen den verschiedenen Parteien, bis die Miró-Ausstellung endlich unter Dach und Fach war. Man einigte sich darauf, lediglich Zeichnungen des Künstlers auszustellen und die Vernissage in einem gemeinsamen Flyer mit dem Fundació Joan Miró anzukündigen, so dass weitere Gelder für die Versicherung der Bilder frei wurden. In dieser abgespeckten Form war das Projekt durchführbar, auch wenn Carla sich ursprünglich andere Ziele gesetzt hatte. In Anbetracht der beteiligten Parteien schien dies der bestmögliche Kompromiss zu sein.
„Würden Sie mir bitte eine Aspirin bringen, Seniora Sanchez?“, fragte Carla, als sie sich von ihren Geschäftspartnern verabschiedet hatte. „Und ich brauche die Telefonnummer vom Grafikbüro Motruigez.“
Beide Wünsche lagen nur wenige Minuten später auf Carlas Schreibtisch. Ihre Sekretärin wirkte seit ihrer Rückkehr deutlich bemühter und stellte sogar noch eine Flasche Mineralwasser auf den Tisch. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Seniora von Lahnstein?“
Carla stützte die Arme auf ihren Schreibtisch und massierte ihre Schläfen. „Es müssten noch ein paar Kataloge bestellt werden. Ich mache Ihnen noch heute eine Liste.“
Carla setzte sich an den Computer, um einen längst fälligen Brief an den Senator zu verfassen, doch während des Schreibens schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Wie es Hanna wohl jetzt gehen mochte? Sie hatte so traurig ausgesehen, als sie sich am Flughafen verabschiedet hatten. Aber war es nicht ihr eigener Vorschlag gewesen, dass sie wieder zurückgehen sollte? Carla starrte nachdenklich auf den Bildschirm. Warum hatte Hanna diesen Vorschlag überhaupt gemacht? Brauchte sie vielleicht Zeit? War sie sich ihrer Gefühle vielleicht doch nicht mehr so sicher wie früher?
Hannas Vorschlag hatte vernünftig und uneigennützig geklungen, doch je länger Carla darüber nachdachte, desto mehr Zweifel kamen ihr. Immerhin war seit ihrer Beziehung für sie beide viel Zeit vergangen, und wer sagte ihr, dass es genauso schön werden würde wie früher. War es überhaupt möglich, dass sie und Hanna an das Leben anknüpfen konnten, das sie damals gehabt hatten?
Carla war in den Tagen auf Kreta klar geworden, dass sie mit Hanna zusammen sein wollte, aber vielleicht war nicht möglich, was sie sich wünschte. Wo sollten sie leben? In Spanien? In Griechenland? In Deutschland? Und würde Hanna tatsächlich bereit sein, alles aufzugeben für sie? Über eine mögliche Zukunft hatten sie nie gesprochen, weil Hanna das unterbunden hatte. Und jetzt saß sie hier mit all den Fragen und wusste keine Antwort.
Carla begann daran zu zweifeln, dass es wirklich der Mensch Hanna war, den sie zurück wollte. Vielleicht sehnte sie sich nur zurück, was sie früher einmal zusammen gehabt hatten? Vielleicht war alles nur eine Illusion? Der Gedanke, alles so zu belassen, wie es war und einfach so weiterzuleben wie zuvor, hatte etwas Verführerisches. Carla würde Stella nicht wehtun müssen, sie würde Sophia keine Trennung zumuten müssen, sie könnte ihren Beruf weiterführen, sie könnte in Barcelona bleiben – gar nichts müsste sich ändern. Schon einmal war sie über Hanna hinweggekommen, vielleicht würde sie es auch ein zweites Mal können.
Doch so einfach es sich anhörte, allein bei dem Gedanken, Hanna nie wieder zu sehen, krampfte sich in Carla alles zusammen. Es war undenkbar. Wenn Carla ehrlich zu sich war, musste sie sich eingestehen, dass sie seit ihrer Rückkehr kaum einen klaren Gedanken fassen konnte vor Sehnsucht. Mit jeder Faser ihres Körpers wünschte sie sich Hanna herbei, und es kostete sie ungeheure Überwindung, nicht zum Telefon zu greifen und Ninas Restaurant anzurufen. Nein, es konnte nicht nur eine fixe Idee sein, die sie von Hanna hatte. Es war nicht nur die Nostalgie, der sie noch nachhing, es war viel, viel mehr. Sie liebte Hanna noch immer, stärker vielleicht sogar, nachdem sie so schmerzhaft hatte lernen müssen, was sie verloren hatte.
Doch wer garantierte ihr, dass Hanna genauso empfand? Sie hatte zwar versichert, dass sie auf sie warten würde, aber so etwas war schnell gesagt. Im Grunde genommen wussten sie wenig voneinander, und hatten nur eine Ahnung, was in den letzten Jahren alles gewesen war. Tatsache war, dass sie in verschiedenen Welten lebten, und niemand konnte sagen, ob sie gemeinsam einen Alltag gestalten konnten oder nicht. Und vielleicht war das Leben manchmal so, dass man auf die Dinge, die einem am wertvollsten waren und die man am meisten ersehnte, verzichten musste. Aufgrund ihres Vermögens und ihrer Stellung war Carla immer gewohnt gewesen zu bekommen, was sie wollte. Vielleicht war dies die große Herausforderung, die das Leben für sie bereithielt.
Carla öffnete ihren Schreibtischschrank und tastete ganz hinten nach zwei großen Kugeln im obersten Regal. Als sie beide vor sich auf den Schreibtisch stellte, einen Weihnachtsmann und einen Elch, rieselte weißer Schnee von den Dächern der Kugeln auf ihren Grund. Als Hannas Haushalt aufgelöst wurde, hatte Carla Lars daran gehindert, Hannas Elch zu entsorgen und die Schneekugel zu sich genommen. Seitdem stand sie für alles, was Carla so unwiederbringlich verloren schien; für Hanna, für ihre Liebe, und für die Geborgenheit, die sie bei Hanna gefunden hatte.
Bevor Carla Hanna getroffen hatte, war ihr Leben ruhelos und oberflächlich gewesen. Carla hatte versucht, all die Erwartungen zu erfüllen, die an sich gerichtet waren, und war von einem Termin zum nächsten gehetzt. Ab und zu eine Affäre, in der sie Zuflucht gesucht hatte, sich fallen lassen wollte und es doch nicht konnte. Erst in ihrer Beziehung mit Hanna hatte sie gelernt, was es bedeutete, sich geborgen zu fühlen, einem Menschen voll zu vertrauen und die inneren Mauern Stück für Stück abzubauen. Niemanden hatte sie so nah in sich herangelassen wie Hanna, und auch wenn ihr diese Erfahrung in späteren Beziehungen nützlich war, so hatte sie sich doch gehütet, einem Menschen noch einmal wieder so nahe zu kommen. Hannas Tod hatte sie im freien Fall getroffen, und sie hatte sich geschworen, dass ihr dies nie wieder passieren würde.
War nur so ein Gefühl, hatte Hanna gesagt, als sie damals in ihrem Büro in Düsseldorf vorbeigekommen war, um sich für die Schneekugel zu bedanken. Nur ein Gefühl war es auch gewesen, das Carla dazu verleitet hatte, die beiden Kugeln überhaupt zu kaufen, und nur ein Gefühl hatte ihr gesagt, dass Hanna eigentlich längst den Weg zu ihr suchte und nur Zeit brauchte, um ihn zu finden. Damals hatte sie ihr Gefühl nicht getäuscht, und sie war froh gewesen, so lange gewartet zu haben. Im Grund war ihr auch nichts anderes übrig geblieben, als abzuwarten, denn an Hanna kam sie nicht vorbei, so oft sie es auch versucht hatte.
Aber jetzt war die Situation vollkommen anders. Reichte es da aus, sich auf sein Gefühl zu verlassen? Reichte es dafür, den liebsten Menschen so sehr weh zu tun und ihnen den Füßen unter dem Boden wegzuziehen?
Hanna hatte Carla geraten, sie solle ihrem Leben eine Chance geben und ausprobieren, ob es noch funktionierte. Vielleicht hatte Hanna recht und sie musste sich tatsächlich einfach nur Zeit geben, um wieder in ihren Alltag zurückzufinden. Dafür brauchte sie Abstand von Kreta und von allem, was dort geschehen war. Carla beschloss, sich vier Wochen Zeit zu geben. Danach musste eine Entscheidung her.
„Seniora von Lahnstein?“ Carla schrak zusammen als ihre Sekretärin an die offene Bürotür klopfte.
„Kommen Sie rein, Seniora.“ Carla verstaute rasch die beiden Schneekugeln wieder in ihrem Schreibtisch. „Was gibt es?“
„Ich wollte nur wissen, ob ich mich schon um die Katalogliste kümmern soll.“
Oh je, die Liste. Die hatte Carla ganz vergessen. „Erledigen Sie doch bitte zunächst diese Korrespondenz.“ Sie kramte auf ihrem Schreibtisch nach einer Akte und hielt sie Seniora Sanchez entgegen. „Und ich benötige eine Telefonnummer in Kanada.“
* * *
„Wie findest du denn diesen hier?“ Nina hielt Erika einen Salzstreuer unter die Nase. Sie waren jetzt schon im dritten Geschäft, um nach neuen Salz- und Pfefferstreuern für das Restaurant zu suchen, aber Erika hatte bisher jeden Vorschlag von Nina abgelehnt.
„Einfallslos“, sagte Erika und rümpfte die Nase. „Du versprichst deinen Gästen schließlich, dass sie bei dir speisen wie die Götter. Dafür brauchst du dann auch edlere Salzstreuer.“
„Und diese hier?“ Nina hielt zwei kleine Männchen hoch, die sich in inniger Umarmung befanden. Eine Figur enthielt Salz, die andere Pfeffer.
„Niedlich, aber Kitsch“, lautete Erikas unerbittliches Urteil. „Du brauchst etwas Durchsichtiges, wo man Pfeffer und Salz sehen kann. Wie wäre es mit Streuern aus Plexiglas?“
„Ist das nicht zu teuer? Wir haben immerhin sechzig Tische, wenn man die Terrasse hinzurechnet.“
„Schatz, Qualität und guter Geschmack zahlen sich immer aus.“ Erika küsste Ninas Nasenspitze. „Das habe ich nun wirklich in meinem Job gelernt.“
„Also gut.“ Nina seufzte und zog Erika zu den Designartikeln. „Dann überlasse ich dir mal das Feld“, verkündete sie und machte eine ausladende Handbewegung. „Aber meckere nicht, wenn wir irgendwann von deinem Gehalt leben müssen.“
„Im Gegenteil.“ Erika hielt eine sehr schicke, aber unbezahlbare Wanduhr hoch und betrachtete sie von allen Seiten. „Dein Restaurant könnte mal wieder einen neuen Look vertragen, sonst wird es langweilig für die Einheimischen. Und wenn alles fertig ist, entwerfe ich eine neue Werbekampagne für dich, für die du weniger bezahlen musst als für eine Kassenbrille bei Fielmann.“
„Oh danke, meine Augen sind noch zu gut intakt, um dafür nach Deutschland zu reisen.“ Nina nahm Erika die Uhr aus der Hand. „Jedenfalls gut genug, um zu lesen, dass die hier unerschwinglich ist.“
„Na schön.“ Erika gab Nina noch einen Kuss. „Aber was hältst du denn von einer Renovierung?“
„Ich finde die Idee toll“, sagte Nina und leckte sich die Lippen. „Aber können wir vielleicht erst einmal unsere traute Zweisamkeit genießen, bevor wir damit anfangen?“
Erika musste lachen über Ninas charmanten Augenaufschlag. „Es ist ganz schön leer im Haus, seitdem Isabell und ihre Familie auch noch abgereist sind, was?“
„Ja, aber so schön es mit ihnen war, jetzt möchte ich dich endlich wieder eine Weile für mich allein haben.“ Nina hielt einen überdimensionalen Salzstreuer hoch. „Was hältst du von dem?“
„Gar nicht schlecht.“ Erikas Augen durchforsteten das Regal. „Gibt’s die auch etwas kleiner?“
„Die gibt’s sogar in drei Größen.“ Nina zog einen kleineren, etwa zwanzig Zentimeter hohen, rechteckigen Streuer aus dem Regal. „Voilá!“
„Das ist er.“ Erika suchte sofort nach dem passenden Pfefferexemplar. „So einen habe ich mir vorgestellt.“
Gemeinsam gingen sie zur Kasse, um eine Großbestellung aufzugeben. Zu ihrem Bedauern waren nicht genug Exemplare vorrätig, aber die Verkäuferin versprach, dass sie in zehn Tagen geliefert würden. „Vielleicht sollten wir doch nicht mehr so lange mit der Renovierung warten“, überlegte Nina, als sie das Gebäude verließen. „Es würde Hanna bestimmt ablenken, wenn sie was Handwerkliches zu tun hätte.“
„Ja, ich mache mir auch Sorgen um sie“, nickte Erika. „Solange Isabell noch da war, konnte sie Hanna wenigstens ein bisschen aufrichten, aber seitdem sie weg ist, sitzt Hanna nur noch in ihrem Zimmer und schreibt Tagebuch.“
„Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn sie sich so zurückzieht.“ Nina reichte Erika den Autoschlüssel. „Ich wünschte, wir könnten irgendwas für sie tun.“
„Ob wir mal ein paar Tage mit ihr wegfahren, damit sie auf andere Gedanken kommt?“
„Dagegen würde sie sich sicher wehren. Ich habe das Gefühl, sie will nichts hören und nichts sehen.“ Nina seufzte, als sie sich anschnallte. „Hat Carla sich eigentlich nochmal gemeldet?“
Erika schüttelte den Kopf. „Nein, nur direkt nach ihrer Ankunft.“
„Meinst du, sie entscheidet sich gegen Hanna?“
„Wer weiß.“ Erika zuckte mit den Schultern. „Auf jeden Fall denke ich, dass sie Zeit braucht. Insofern überrascht es mich nicht, dass sie nichts von sich hören lässt.“
„Ich würde sie zu gern mal anrufen und fragen, wie es ihr geht.“
„Da bist du nicht die einzige, aber es wäre sicher verkehrt. Sie wird ihre Gründe haben, wenn sie sich nicht meldet, und uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten und ihre Entscheidung zu akzeptieren.“
* * *
Hanna saß am Strand, genau an der Stelle, an der sie damals mit Carla gesessen hatte, als ihre ersten Erinnerungen gekommen waren, und schaute auf das aufgewühlte Meer hinaus. Es war ein stürmischer Tag, und auf dem Wasser waren weiße Schaumkronen zu sehen, die sich in Richtung Küste wälzten. In den letzten zwei Wochen hatte es Hanna immer wieder hierher gezogen, an diesen Ort, an dem sie, so fühlte es sich an, ihr Leben wieder zurückbekommen hatte. Und seitdem war alles anders. Auf einmal hatte sie zwei Identitäten. Sie könnte den Rest ihres Lebens als Isabelle Jones verbringen, und niemand würde etwas merken. Wenn sie jedoch den deutschen Behörden ihre wahre Identität mitteilte, würde eine Flut von Bürokratie über sie hereinbrechen, und eventuell würde sie sogar für den gefälschten Personalausweis ins Gefängnis müssen. War ihr ihre wahre Identität dieses Risiko wert?
Es war nicht so, dass sich hinter Isabelle Jones eine inhaltlose Hülle verbarg. Sie war gefüllt mit fast sechs Jahren Erinnerungen an Griechenland. Isabelle hatte eine Arbeit, Freunde, ein Zuhause und eine potenzielle Beziehung mit einem attraktiven Mann. Sie hatte ihre eigenen Erlebnisse, schöne und traurige, und sie hatte einen Platz im Leben. Hanna Novak hatte diesen Platz nicht. Hanna Novak existierte nur noch als Grabstein. Was war ihr aus diesem alten Leben anderes geblieben als ihre Erinnerungen? Nichts anderes war mehr da. Ihre persönlichen Dinge waren längst vernichtet, als hätte es sie nie gegeben. Nur ihre Erinnerungen waren noch da und die Menschen, die sie aus dieser Zeit noch kannten. Solange Carla und Isabell noch hier gewesen waren, wusste und konnte Hanna spüren, wer sie war. Jetzt, da beide abgereist waren, fühlte sie sich nur verwirrt.
Wer wollte sie sein? Welches Leben sollte sie wählen? Und wo war ihr Zuhause? Der Traum, den sie jede Nacht immer wieder von vorn träumte, sprach eine eindeutige Sprache. In dem Traum war sie abwechselnd mal Hanna, mal Isabelle, und immer war es Hanna, die das letzte Wort hatte. Aber warum sollte sie das Risiko einer Strafverfolgung eingehen, wenn sie eh nicht nach Deutschland zurückkehrte? Sicher waren in Düsseldorf noch Freunde, die sich an sie erinnern würden, doch weder Carla, noch Isabell, noch Lars waren mehr dort. Was zog sich noch an diesen Ort zurück? Machte es da nicht mehr Sinn, als Isabelle Jones auf Kreta zu bleiben und ihr Leben einfach normal weiterzuführen? Nicht zuletzt hatte die Person Isabelle etwas Tröstliches, weil sie keine Vergangenheit mit Carla von Lahnstein verband.
Hanna war tief verunsichert, dass Carla sich überhaupt nicht meldete. Das kurze Telefonat nach ihrer Ankunft in Barcelona hatte sie mit Erika geführt und Hanna nicht einmal grüßen lassen. Und seitdem war Funkstille. Obwohl es unrealistisch gewesen war, hatte Hanna gehofft, dass Carla nach ihrer Ankunft in Barcelona den nächsten Flug zurück nach Heraklion nehmen würde.
Die ersten Tage nach Carlas Abreise hatte sie sich noch sagen können, dass es richtig gewesen war, Carla in ihr Leben zurückzuschicken und dass sie ihr Zeit geben musste. Doch je länger Carla sich nicht meldete, desto unsicherer wurde Hanna. Als Carla hier gewesen war, da hatte sich das Band zwischen ihnen so fest und stark angefühlt. Doch jetzt fragte sich Hanna, ob sie sich die Tiefe ihrer Verbindung nur eingebildet hatte. Ihr war bewusst, dass sie niemals wieder einen Menschen so lieben würde wie Carla, doch im Gegensatz zu ihr hatte Carla sich nach ihrer Beziehung wieder verliebt, und zwar mehr als einmal. Sie hatte um Hanna getrauert und sie losgelassen. Konnte man jemanden wieder lieben, von dem man sich auf diese Weise verabschiedet und gelöst hatte?
Außerdem hatte Carla so viel mehr zu bedenken und zu berücksichtigen als sie. Damals, als sie Carla kennenlernte, hatte diese ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Nun war es Hanna, die Carlas Leben auf den Kopf zu stellen drohte. Und genauso wie Carla damals versucht hatte, Hannas Entscheidung für jemand anderen zu akzeptieren, würde Hanna nun akzeptieren müssen, wenn Carla sich für jemand anderen entschied.
Leise Schritte im Sand ließen Hanna plötzlich aufhorchen. Hatte sie sich verhört? Hier war doch sonst keine Menschenseele. Hanna drehte sich um und blinzelte. Eine Gestalt in einem weißen Kostüm kam auf sie zu. Nein… das konnte doch nicht…
„Sylvia?“
„Hanna. Du bist es wirklich.“ Hannas Schwester beschleunigte ihren Schritt. „Deine Freunde haben tatsächlich die Wahrheit gesagt.“
Hanna stand auf und lief ihr entgegen. „Woher weißt du…“, stotterte sie, als sie Sylvia umarmte.
„Deine Freundinnen, Frau Ryan und Frau Sander, haben mir gesagt, dass ich dich hier finden würde.“
„Haben sie dich angerufen?“
„Nein, Carla hat mich informiert.“
„Carla?“ Hanna spürte wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Es tat so gut zu hören, dass Carla noch an sie dachte. „Woher wusste sie…“
„Ich habe keine Ahnung, wie sie meine Telefonnummer herausbekommen hat. Aber gestern Morgen wurde mir ein Anruf aus Barcelona durchgestellt, und es war Carla, die mir erzählt hat, dass du am Leben seist.“
„Und dann hast du gleich das nächste Flugzeug genommen?“ Hanna war so baff, dass sie sich erst einmal setzen musste.
„Ich habe mich nicht einmal mehr umgezogen.“ Sylvia folgte ihrem Beispiel und setze sich neben Hanna in den Sand. „Ich musste doch wissen, ob die Nachricht stimmte.“
„Das erklärt, warum du in diesem Aufzug herumläufst“, lächelte Hanna. „Ist dir nicht viel zu heiß?“
„In der Tat habe ich in der Aufregung ganz vergessen, dass es hier so viel wärmer ist als bei uns.“ Sylvia entledigte sich ihres Blazers und atmete auf, als der Wind über ihre freien Arme fuhr.
„Ich kann dir ein paar T-Shirts von mir leihen“, bot Hanna an.
„Nein danke, ich werde nicht lange bleiben. Übermorgen ist ein wichtiges Meeting, bei dem ich nicht fehlen darf.“ Erst jetzt fiel Hanna auf, dass Sylvia eine Tasche bei sich trug. „Ich wollte dich nur einmal sehen.“ Sylvia öffnete den langen Reißverschluss der Tasche. „Und dir etwas zurückgeben.“
Hannas Augen füllten sich mit Tränen, als sie sah, was Sylvia aus der Tasche zog. „Herr Schmidt?“, fragte sie fassungslos.
„Ich dachte, du brauchst jetzt wieder jemanden, der auf dich aufpasst“, sagte Sylvia und reichte ihr den Schlafteddy aus ihrer Kindheit. „Er stand die ganzen Jahre auf einem Regal in meinem Schlafzimmer.“
Hanna drückte den Teddy fest an sich. „Du ahnst nicht, was für eine Freude du mir damit machst.“
Sylvia räusperte sich. „Du hast also einen Giftanschlag überlebt und dein Gedächtnis dabei verloren?“, fragte sie kopfschüttelnd. „Ich habe es erst für einen schlechten Scherz gehalten, als Carla angerufen hat. Aber dann sagte ich mir, dass Carla darüber keine Scherze machen würde. Also musste ich mich selbst überzeugen.“
„Ja, es hört sich unglaublich an. Das weiß ich selbst.“ Hanna setzte sich in den Schneidersitz und platzierte Herrn Schmidt in ihrem Schoß. „Aber wie du siehst, bin ich tatsächlich am Leben.“
Sylvia lächelte. „Es ist schön, wieder Familie zu haben“, sagte sie. „Ich dachte, ich wäre die einzige, die übrig geblieben ist.“
Hanna wusste genau, was sie meinte. „Wir haben uns allerdings lange nicht verhalten wie eine Familie.“
„Ja, das stimmt.“ Sylvia hob eine Handvoll Sand auf und ließ ihn langsam durch ihre Finger rieseln. „Nachdem du gestorben warst, habe ich manche Dinge mit mehr Abstand gesehen, und ich habe Vieles bereut.“
„Das geht mir auch so“, nickte Hanna. „Wir haben so viel Zeit mit unnützen Streitereien vertan.“
„Wir werden wohl nie die besten Freundinnen werden“, prophezeite Sylvia lächelnd. „Aber immerhin sind wir Schwestern, und ich bin froh, dass du da bist.“
„Und ich bin froh, dass du gekommen bist“, sagte Hanna aus vollem Herzen. „Wir brauchen uns ja nichts vorzumachen, die meiste Zeit unseres Lebens konnten wir uns nicht ausstehen. Aber als wir uns versöhnt haben, habe ich gemerkt, wie viel du mir doch bedeutest.“
Sylvia nickte, sagte aber nichts. Auf einmal tat sie Hanna leid. Wie alle Menschen, war sie auch nur auf der Suche nach Liebe, aber ihre Härte und Kompromisslosigkeit hatten sie zu einer einsamen Frau gemacht. „Carla hat mir erzählt, dass du mit einem neuen Partner nach Kanada ausgewandert bist?“, fragte Hanna, um die Stimmung ein wenig zu heben.
„Das ist richtig. Hagen und ich sind inzwischen verheiratet.“ Sylvia hob ihre rechte Hand, um ihren Ring zu zeigen. „Ich bin glücklich mit ihm, er versucht immer noch, mir die Welt zu Füßen zu legen.“
„Vielleicht lerne ich ihn ja irgendwann mal kennen?“
„Ich hoffe, du besuchst uns mal in Kanada?“, fragte Sylvia, und Hanna merkte an ihrem Blick, dass sie es sehr ernst meinte. „Es tut mir leid, dass ich diesmal nicht lange bleiben kann.“
„Ich bin froh, dass du überhaupt gekommen bist.“ Hanna schüttelte den Kopf. „So viele Stunden Flug für einen einzigen Tag. Das werde ich dir nicht vergessen.“
„Ach was“, wehrte Sylvia ab. „Das musste einfach sein.“
„Kommst du mit zu Erika und Nina und isst mit uns zu Abend?“
„Sehr gern. Deine Freundinnen haben mir schon ein Zimmer zur Verfügung gestellt“, erklärte Sylvia. „Sind die beiden zusammen?“
„Schon seit einer Ewigkeit. Sie sind gemeinsam nach Griechenland ausgewandert.“ Hanna sah Sylvia aufmerksam an. „Stört dich das?“
„Nein, warum sollte es?“ Sylvia schüttelte den Kopf. „Darf ich dich etwas Persönliches fragen, Hanna?“
„Natürlich“, antwortete Hanna leichthin, doch sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Sie wusste, was Sylvia sie fragen würde.
„Was ist mit dir und Carla?“
„Das ist schwer zu sagen.“ Hanna drückte Herrn Schmidt fest an ihre Brust. „Ich wünschte, das Leben wäre nicht so kompliziert…“
„Sie bedeutet dir noch sehr viel?“
„Ja.“
„Und was ist mir ihr?“
„Sie hat gesagt, dass sie mich noch liebt.“ Hanna schluckte. „Aber sie ist verheiratet, sie hat Frau und Kind, und sie lebt in Spanien.“
Zu Hannas Überraschung tat Sylvia etwas, was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte, sie legte den Arm um Hanna. „Ich weiß, wie sehr Carla dich geliebt hat“, sagte sie. „Ich habe miterlebt, wie sie um dich getrauert hat, wie sie alle um sie herum von sich weg stieß, und wie sie nicht mehr leben wollte. Und sie hat mir einmal gesagt, dass sie nie wieder einen Menschen so lieben könnte, wie sie dich geliebt hat.“
„Das hat sie gesagt?“ Hanna merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, aber sie wollte vor Sylvia nicht weinen.
„Ja, das hat sie gesagt“, bestätigte Sylvia und ließ Hanna wieder los.
Hanna spürte, wie Übelkeit in ihr hochstieg. „Ich habe solche Angst, dass sie nicht zurückkommt.“
„Warum rufst du sie nicht an und fragst sie, wie es weitergehen soll?“
„Weil ich ihr gesagt habe, sie solle sich die Zeit nehmen, sich zu entscheiden.“ Hanna strich sich über die Stirn. „Und die Zeit muss ich ihr dann ja wohl auch geben.“
„In dem Fall bleibt dir wohl tatsächlich nichts übrig als abzuwarten.“ Sylvia erhob sich aus dem Sand. „Ich würde gern auf deinen Vorschlag zurückkommen und mit dir und deinen Freundinnen zu Abend essen.“
„Oh entschuldige.“ Hanna erschrak. „Dass ich darauf nicht geachtet habe! Du bist bestimmt total ausgehungert.“
„Das Essen im Flugzeug war nicht gerade umwerfend“, gab Sylvia zu. „Ein gutes Abendessen wäre jetzt genau das Richtige.“
„Gut ist bei uns alles“, versicherte Hanna. „Aber ich hoffe, uns bleibt neben dem Essen trotzdem noch Zeit, dass du mir mehr über dein Leben in Kanada und über deinen Mann erzählen kannst.“
„Sicher.“ Sylvia zog ihre Schuhe aus, um besser im Sand laufen zu können. „Ich denke, wir haben uns beide viel zu erzählen.“
* * *
Carla saß auf dem Fußboden in ihrem Zimmer und starrte in ihren Terminkalender. Die vier Wochen, die sie sich gegeben hatte, waren um. Es hatte keinen Tag gegeben, an dem sie Hanna nicht vermisst hatte, aber auch keinen Tag, an dem sie sich hätte vorstellen können, Stella zu verlassen. Sie war es, die Carla Halt gab, und bei der sie zur Ruhe kam, wenn mal wieder alles auf sie hereinstürzte und sie sich zerrissen fühlte zwischen Beruf, aristokratischen Verpflichtungen und ihren Aufgaben als Mutter. Stella war ein so positiver Mensch, sie gab einem immer das Gefühl, dass alles gut werden würde, und dass man okay war, wie man war. Neben Stella brauchte sie sich nicht anstrengen, keine überhöhten Erwartungen erfüllen und sich nicht rechtfertigen für das, was sie tat. Sie vertraute Stella wie kaum einem anderen Menschen auf der Welt, und sie wusste, dass Stella immer für sie da sein würde. Und sie konnte sich darauf verlassen, dass Stella ihr die Meinung sagen würde, wenn sie einen Fehler machte.
Mit ihrer Geradlinigkeit und Natürlichkeit, so frei von Missgunst und Berechnung, stand sie für alles, was Carla in ihrem Leben als Gräfin verwehrt geblieben war. Wie selten konnte sie sich darauf verlassen, dass eine Geste ehrlich gemeint war, oder dass sich jemand wirklich für ihre Person interessierte und nicht für ihr Ansehen oder ihr Geld.
Stella hatte sich auf ein Leben mit ihr eingelassen und sie verließ sich darauf, dass Carla dasselbe tat. Es war noch nicht lange her, da hatten sie sich gegenseitig versprochen, füreinander da zu sein in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod sie scheide. Und nun?
Carla stand vom Fußboden auf und öffnete die oberste Schublade ihrer Kommode. Sie brauchte nicht lange zu suchen, sie wusste, wo der Brief sich befand. Er lag in einer blauen Mappe ganz links hinten in der Schublade. „Für Carla“, stand auf seinem Umschlag, mit einem schwarzen Füllfederhalter geschrieben. Hanna hatte vorausgeahnt, dass sie sterben würde, aber sie hatte nicht vorhergesehen, dass sie durch einen Zufall in letzter Sekunde gerettet würde.
Carla kannte die Zeilen in dem Brief längst auswendig, sie hatte sie so oft gelesen, dass das Papier an manchen Stellen dünn geworden war. Und doch musste sie ihn immer wieder hervornehmen.
Liebste Carla,
wenn du diese Zeilen liest, werde ich nicht mehr leben. Es gibt Sterne, die sind so weit entfernt, dass man ihr Licht noch sieht, selbst wenn sie schon verloschen sind. Dieser Brief soll so etwas sein wie ein Lichtstrahl. Viele Menschen träumen von der großen Liebe, ich habe sie erlebt. Mit dir. Du hast mich sehr glücklich gemacht, und dafür bin ich dir unendlich dankbar. Es tut mir wahnsinnig weh, dass ich dich in deiner Trauer zurücklassen muss. Aber ich wünsche mir von Herzen, dass du ein neues Glück findest.
In ewiger Liebe
Hanna
Carla wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Hanna hatte gewollt, dass sie ein neues Glück finden würde, und es waren nicht zuletzt diese Worte gewesen, die es ihr ermöglicht hatten, sich auf einen anderen Menschen einzulassen. Und jetzt musste sie sich plötzlich entscheiden. Und wie auch immer ihre Entscheidung ausfiel, sie würde einem geliebten Menschen wehtun. Dann haben Sie doch längst Ihre Antwort, hatte die Psychologin gesagt. Ja, ihr Herz hatte längst die Antwort, aber was war mit ihrem Verstand? Was war mit ihrer Verantwortung als Partnerin und als Mutter?
Vier Wochen lang hatte Carla versucht, an ihre Beziehung mit Stella anzuknüpfen. Sie liebte Stella, daran bestand kein Zweifel. Und dennoch, so sehr sie es versucht hatte, für Stella etwas Ähnliches zu empfinden wie für Hanna, es gelang ihr einfach nicht. Sie verstand sich mit Stella großartig, und sie passten gut zusammen, aber Carla vermisste oft die Tiefe in ihrer Beziehung. Trotzdem hatte sie Stella geheiratet, denn sie liebte sie, und Stella war ein toller Mensch. Doch nun waren alle Gefühle wieder zurück, die sie für Hanna empfand, und die Gedanken an sie und die Sehnsucht nach ihr waren allgegenwärtig in allem, was Carla tat. Und sie schafften eine Distanz zwischen ihr und Stella, die Carla nicht überwinden konnte, so sehr sie sich auch bemühte. Das gab ihr das Gefühl, Stella Unrecht zu tun und nicht ehrlich zu ihr zu sein. Und so etwas hatte Stella nicht verdient.
Sollte sie ihr vielleicht doch endlich die Wahrheit sagen? Wie würde Stella reagieren? Und was bedeutete das für ihre Ehe? Wenn Stella sich von ihr trennte, und Hanna nicht bereit war, Kreta zu verlassen, dann blieb ihr am Ende gar nichts. Carla wusste, dass sie eine Entscheidung ohne doppelten Boden fällen musste, mit dem Risiko, alles zu verlieren. Und trotzdem wog diese Tatsache weniger schwer, als der Gedanke, Stella tief verletzen zu müssen.
* * *
„Carla?“
„Ja?“
„Hast du mir überhaupt zugehört?“ Stella hielt einen DIN-A4 Zettel hoch, damit Carla ihn sehen konnte. „Wir müssen der Kindergärtnerin Bescheid sagen, ob Sophia den Ausflug mitmachen darf oder nicht.“
Carla blickte sie verständnislos an. „Ausflug?“
„Ja, davon reden wir doch seit drei Tagen.“ Stella wirkte ungehalten. „Deine Tochter übrigens auch.“
„Oh ja, du meinst den Ausflug zu dem Freizeitpark.“ Carla fuhr sich mit dem Handrücken über die Augenlider. „Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken woanders. Natürlich darf Sophia mitkommen. Ich finde nur, dass sich noch mindestens zwei Eltern bereiterklären sollten, die Erzieherinnen zu begleiten, damit genug Erwachsene dabei sind.“
„Ja, den Punkt hatten wir schon.“ Stella faltete frustriert den Informationszettel wieder zusammen. „Und vielleicht erinnerst du dich, dass der Kinderladen deinem Vorschlag nicht zugestimmt hat.“
„Jaja, du hast Recht. Das war mir entfallen.“ Carla legte die Mappe in ihrem Schoß zurück zu dem Stapel auf dem Couchtisch. „Hast du Lust auf einen entspannten Fernsehabend? Es gibt eine Reportage über Schlösser und Burgen in Cornwall.“
„Nein, ich habe keine Lust auf einen entspannten Fernsehabend, ich will jetzt wissen, was ich dem Kindergarten rückmelden soll.“ Stella setzte sich in den Sessel neben ihr. „Was ist denn bloß los mit dir, Carla?“
„Na, dann mach es halt, wie du meinst.“ Carla machte eine abwehrende Handbewegung. „Von mir aus kannst du zusagen, sonst würde Sophia sicher sehr enttäuscht sein.“
„Carla, du hast meine Frage nicht beantwortet“, beharrte Stella.
„Ach, du weißt ja, die Arbeit, der Stress…“
„… und Ansgar. Ja, ich weiß.“ Stella schüttelte den Kopf. „Würdest du bitte ehrlich zu mir sein, Carla?“
„Wieso? Was meinst du?“ Carla griff nach der Fernsehzeitung.
„Carla…“ Stella nahm ihr die Zeitung aus der Hand. „Mir reicht es langsam. Merkst du gar nicht, wie seltsam du dich in letzter Zeit aufführst?“
„Wie führe ich mich denn auf?“
„Du bist zickig, du bist unterkühlter als die Queen, und du bist ungerecht zu Sophia, die nun wirklich nichts dafür kann. Wenn du die toughe Geschäftsfrau mimen willst, dann mach das gefälligst in deinem Büro. Zu Hause ist das ziemlich unangemessen.“
„Nun reg dich nicht so auf“, versuchte Carla Stella zu beruhigen, aber sie erreichte das Gegenteil.
„Ich soll mich nicht aufregen?“, Stella erhob sich mit einem Ruck von ihrem Sessel. „Ich rege mich aber auf! Ich rege mich sogar sehr auf! Ich habe die Nase voll von deinen Ausreden. Hör endlich auf, mir etwas vorzumachen!“
„Aber ich mache dir nichts vor…“
„Lüg mich nicht an! Du bist schon seit Wochen so seltsam. Ich hatte gehofft, der Urlaub in Griechenland würde dir gut tun, aber irgendwie ist seitdem alles nur noch schlimmer geworden.“
„Ich hatte dir doch gesagt, dass ich über viele Dinge nachdenken muss…“
„Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll“, unterbrach sie Stella. „Mehr als dich zu bitten, mir die Wahrheit zu sagen, kann ich nicht.“
„Stella… ich…“
„Es ist eine andere Frau, nicht wahr?“ Stella blieb stehen und forschte in ihrem Gesicht. „Es muss eine andere Frau sein. Ich weiß es. Warum sagst du mir nicht, was passiert ist?“
„Stella…“
„Hast du auf Kreta jemanden kennengelernt?“
„Stella, es ist nicht so, wie du denkst.“
„Nein? Wie ist es denn? Hast du jemanden kennengelernt oder nicht?“
Carla spürte, wie ihr Hals sich zuschnürte. „Ja.“
„Habt ihr miteinander geschlafen?“
„Nein.“
„Hast du dich verliebt?“
„Stella, hör mal…“ Carla stand auf und versuchte, Stellas Hand zu fassen, aber diese wich ihr aus.
„Und jetzt überlegst du, ob wir uns trennen sollten?“ Stella lief um Wohnzimmer auf und ab. „Wegen… wegen einer kleinen Urlaubsbekanntschaft in Griechenland?“
„Es ist nicht irgendeine Urlaubsbekanntschaft.“
„Ach nein? Was ist denn?“ Stella blieb am Fenster stehen. „Da bin ich ja mal gespannt.“
Carla versuchte, Stella ins Gesicht zu sehen, aber der Schmerz in ihren Augen zerriss ihr fast das Herz. „Glaub mir, ich wünschte, ich müsste dir das nie erzählen…“
Stella lachte bitter. „Das hab ich gemerkt.“
„Ich… ich konnte ja nicht ahnen, dass so etwas passieren würde…“ Carla versuchte vergeblich, ihre Tränen zurückzuhalten. „Ich hatte Hanna längst hinter mir gelassen…“
„Hanna?“ Stella schaute sie verwirrt an. „Wovon sprichst du?“
„Ich spreche von Hanna. Hanna Novak.“
„Ich verstehe nicht…“
„Hanna ist… sie ist am Leben.“
Stella starrte sie an, als hätte sie einen Geist gesehen. „Was redest du da? Deine Ex-Freundin ist seit Jahren tot. Wir sind doch zusammen am Grab gewesen…“ Stella hielt inne und sah ängstlich zu Carla. „Vielleicht solltest du mal mit einem Psychiater sprechen?“
Carla stützte den Kopf in die Hände. „Ich brauche keinen Psychiater, Stella. Hannas Tod hat sich als Irrtum gewesen, und sie lebt nun unter anderem Namen in Griechenland. Ich weiß es selbst erst seit kurzem.“
Stella wich die Farbe aus dem Gesicht. „Du hast sie getroffen“, sagte sie tonlos. „Deswegen bist du hingeflogen.“
„Glaub mir, ich hatte keine Ahnung, dass es Hanna war. Eine Freundin von ihr hat mich um Hilfe gebeten und…“
„Und das zweite Mal?“
„Ich wollte ihr nur helfen, Stella. Sie hatte ihr Gedächtnis verloren. Sie erinnerte sich an nichts…“ Carla sah flehend zu Stella. „Bitte glaub mir, dass ich dich nie verletzten wollte.“
Stella stand regungslos am Fenster und starrte hinaus. Minutenlang sprach sie kein Wort. „Du hast niemanden so geliebt wie sie“, sagte sie irgendwann, den Rücken zu Carla gewandt. „Aber es war okay. Du hast mir nie das Gefühl gegeben, ich sei dir nicht genug.“ Stellas Stimme zitterte, als sie sprach. „Ich habe dir geglaubt, als du gesagt hast, du willst den Rest deines Lebens mit mir verbringen.“
„Das wollte ich auch.“ Carla stand auf und trat zu ihr ans Fenster. „Das wollte ich wirklich. Ich liebe dich, Stella.“ Sie legte von hinten ihre Arme um sie. „Ich habe mit so etwas einfach nicht gerechnet.“
Stella drehte sich zu ihr und barg ihren Kopf an Carlas Schulter. „Ich liebe dich auch.“
* * *
Hanna stapelte sich den dritten Teller auf ihren Arm, um damit auf die Terrasse zu Tisch 4 zu gehen. Nina hatte zugestimmt, dass sie heute ausschließlich für den Außenbereich zuständig war, denn seitdem Hanna mit Marcel gesprochen hatte, saß dieser jeden Abend im Restaurant. Sie wünschte, er würde akzeptieren, was sie ihm gesagt hatte und sie einfach in Ruhe lassen, aber so lange er ihr hinterher lief, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu meiden. Schließlich konnte sie nicht vor allen Gästen eine Auseinandersetzung mit ihm anfangen.
„Da ist ja die Frau Novak“, hörte sie Ninas vergnügte Stimme hinter sich. Hanna drehte sich zu ihr um und sah, dass Erika mit ihr zusammen die Küche betreten hatte. Die beiden strahlten wie zwei Honigkuchenpferde.
„Ist irgendwas?“, fragte Hanna, als Nina damit begann, ihr die Teller von den Armen zu nehmen. „Hat Tisch 4 abbestellt?“
„Tisch 4 übernehme ich“, sagte Nina und hielt Hanna ihren Autoschlüssel vor die Nase. „Du hast soeben den Nachmittag freibekommen.“
„Okay, was habt ihr vergessen?“ Hanna steckte sich den Schlüssel in die Hosentasche.
„Oh, so dies und das…“, meinte Erika und stibitzte sich einen Fenchelstängel vom Küchenbrett.
„Nein, du brauchst nichts einzukaufen“, widersprach Nina und schlug Erika auf die Finger, als diese versuchte, sich ein zweites Mal am Fenchel zu vergreifen. „Pfui!“
„Wie auch immer“, meinte Erika kauend, der es gelungen war, sich den Stängel an Nina vorbei in den Mund zu stecken. „Natürlich wollen wir dich nicht daran hindern einzukaufen…“
Hanna sah misstrauisch von einer zu anderen. „Warum seid ihr denn so gut drauf? Gibt’s was zu feiern?“
Diesmal nickten beide. „Du solltest dich beeilen“, riet Nina.
„Sonst kommst du zu spät“, bestätigte Erika.
„Wohin denn?“ Hanna wurde immer verwirrter.
„Jemand muss zum Flughafen fahren, um unseren Gast abzuholen. Seine Maschine ist schon gelandet“, sagte Erika und stützte ihren Ellenbogen auf Ninas Schulter ab. „Wir dachten, dass du uns das vielleicht abnehmen könntest.“
„Ja klar, wer ist es denn?“ Hanna stutzte und blinzelte gegen das Licht zu Erika und Nina. „Wartet mal…“
Nina lachte und schloss Hanna in ihre Arme. „Lass Carla nicht zu lange warten.“
* * *
Hanna düste mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Flughafen. Nach Ninas Nachricht war sie nach oben in ihr Zimmer gestürmt und hatte alles aus ihrem Kleiderschrank gerissen, was nicht niet- und nagelfest war. Was sollte sie bloß anziehen? Am liebsten hätte sie noch geduscht, ihre Haut und Kleidung rochen nach Restaurantküche und Sonnencreme, doch sie konnte Carla nicht so lange warten lassen. Warum hatte Carla auch erst angerufen, nachdem sie schon gelandet war? Jetzt konnte sie sich nicht mal mehr zurecht machen. Hanna entschied sich für ein rotes Sommerkleid (Carla hatte sie gesagt, Rot würde ihr gut stehen) und für ihre weißen Turnschuhe. Dann wusch sie sich noch Gesicht und Hände, schnappte sich die Autoschlüssel und rannte den Pfad hinunter zum Auto.
Wenige Minuten später hatte Hanna die Sandwege verlassen und befand sich auf direktem Wege zum Flughafen Heraklion. Erst jetzt kam sie dazu, wieder Luft zu holen, und je näher sie dem Flughafen kam, desto zögerlicher wurde Hanna. Carla hatte keinerlei Gründe genannt, warum sie überhaupt nach Kreta geflogen war. Vielleicht kam sie gar nicht, um zu Hanna zurückzukehren. Vielleicht wollte sie ihr auch einfach nur ihre Entscheidung mitteilen und sie noch einmal sehen, bevor sie endgültig in Barcelona blieb.
Kilometer für Kilometer wurde die Freude weniger und die Angst stärker, und schließlich machte Hanna sich große Sorgen, wie sie eine negative Nachricht verkraften könnte. Nina und Erika waren offenbar davon ausgegangen, dass Carlas Besuch nur etwas Positives bedeuten konnte, doch selbst wenn Carla zu ihr zurückwollte, hieß das noch lange nicht, dass sie sich auf eine gemeinsame Lösung einigen konnten. Hannas Leben war hier, und Carlas Leben war in Barcelona. So oder so würde mindestens eine von ihnen ein großes Opfer bringen müssen.
„Wünsch mir Glück, Herr Schmidt“, sagte Hanna zu ihrem Teddy, der aufrecht neben ihr auf dem Beifahrersitz saß. Aber Herr Schmidt sah nur stur geradeaus. Vielleicht wollte er damit sagen, dass man die Dinge einfach so nehmen musste, wie sie kamen. Hanna seufzte, als sie auf den Parkplatz des Flughafengebäudes bog. Ihre Knie wurden dermaßen weich, dass sie für einen kurzen Moment überlegte, ob sie Carla anrufen und sie direkt zum Auto lotsen sollte. Aber dann fasste sie sich doch ein Herz und stieg vorsichtig aus dem Wagen. Ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, als sie die Autotür schloss, um sich zum Flughafengebäude zu begeben. So musste man sich fühlen, wenn man zum jüngsten Gericht schritt.
Erika hatte Hanna informiert, dass Carla in einem Café in der Nähe des Ausganges sitzen würde, aber dort befanden sich diverse Cafés. In welchem konnte sie einen blonden Lockenkopf erkennen? Erst nachdem sie zweimal bei den Café auf- und abgelaufen war, entdeckte sie Carla. Sie saß mit dem Rücken zu ihr und las in einem Magazin, während sie ab und zu an einem Mineralwasser nippte. Hanna nahm alle ihren Mut zusammen und steuerte auf das Café zu. Carla sah erst auf, als Hanna direkt neben ihr stand. „Hallo“, sagte Hanna und hoffte, dass es nicht halb so beklommen klang wie sie sich fühlte.
„Hallo.“ Carlas Lächeln blies einen Teil von Hannas Sorgen in den Wind. Sie schien sehr froh, sie zu sehen.
„Schön, dass du da bist.“ Hanna erwiderte ihr Lächeln, und sie hatte das Gefühl, bei ihren Worten eine Spur von Erleichterung in Carlas Gesicht zu sehen. „Ist Sophia nicht bei dir?“
„Nein, sie ist für ein paar Tage bei Stellas Mutter.“
„Achso.“ Hanna stand unschlüssig vor Carla. Sie hätte sie furchtbar gern umarmt, aber da diese von sich aus keine Anstalten machte, entschied Hanna sich, lieber Carla Koffer zu übernehmen. „Wollen wir dann los?“, fragte sie und zog den Griff des Koffers hoch.
„Gern.“ Carla kam Hanna zuvor, als diese auch ihr Handgepäck an sich nehmen wollte. „Das mache ich schon selbst.“
Als sie gemeinsam zum Ausgang des Flughafens gingen, war Hannas Kopf wie leergefegt. Ihr fiel nichts mehr ein, über was man sich unterhalten könnte. Auch Carla sagte keinen Ton, sondern ging schweigend neben ihr her. Im typischen Flughafenchaos, zwischen umher eilenden Menschen, die nach ihrem Gepäck oder ihren Angehörigen suchten, fiel ihr Schweigen nicht auf, doch als sie das Gebäude verließen und zum Parkplatz gingen, hielt Hanna die Stille nicht mehr aus.
„Darf ich fragen, warum du hergekommen bist?“, fragte sie bang und versuchte, in Carlas verschlossenem Gesicht die Antwort zu lesen.
„Ich hatte gehofft, das wüsstest du“, sagte Carla und schaute an ihr vorbei zu einem gerade abhebenden Flugzeug.
Hanna blieb wie angewurzelt stehen. „Hast du… hast du dich von Stella getrennt?“, fragte sie mit klopfendem Herzen.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft sah Carla sie wirklich an. „Ja.“
„Für mich?“
„Ja.“
„Kein Rückzieher?“
„Nein.“ Carla lächelte. „Und hast du auf mich gewartet?“
Hanna atmete auf. „Jede Sekunde.“
Carla ließ ihr Gepäck fallen und zog Hanna in ihre Arme. „Darf ich dich jetzt endlich küssen?“, fragte sie und beugte sich zu ihrem Gesicht.
„Nur wenn du nie wieder aufhörst“, flüsterte Hanna gegen Carlas Lippen und schloss die letzte Distanz zwischen ihnen.
Natürlich mussten sie irgendwann wieder aufhören, denn immerhin standen sie mitten auf einem hoch frequentierten Parkplatz und waren nicht nur den Fußgängern, sondern auch den Autofahrern im Weg. So blieb ihnen schließlich nichts anderes übrig, als den Beschimpfungen und Hupkonzerten um sie herum nachzugeben. „Wir sollten vielleicht ein ruhigeres Plätzchen suchen?“, raunte Carla in Hannas Ohr.
„Och, ich find’s ganz nett hier.“ Hanna war noch nicht bereit, Carla loszulassen. „Weißt du, dass dies das erste Mal ist, dass du mich in der Öffentlichkeit geküsst hast?“, fragte sie und küsste Carlas Ohrläppchen.
„Du vergisst Carlos“, protestierte Carla und raubte sich einen letzten Kuss von Hannas Lippen, bevor sie sie aus ihren Armen ließ.
Hanna nahm wieder Carlas Koffer und schlang ihren freien Arm und Carlas Taille. „Tatsächlich war das meine erste Erinnerung an dich.“ Hanna musste lächeln bei dem Gedanken an die Situation. „Ich habe nachts davon geträumt, aber ich wusste damals nicht, dass es eine Erinnerung war.“
„Ausgerechnet an einen Mann hast du dich erinnert?“, schmunzelte Carla. „Ich weiß ja nicht, was das über unsere Beziehung aussagt…“
„Vielleicht das du mich bezauberst, auf welche Weise auch immer wir uns begegnen?“ Hanna musste noch einmal stehenbleiben und sich einen Kuss abholen.
„Diese Interpretation gefällt mir schon besser.“ Carla ließ sich nur zur gern von Hanna aufhalten.
„Ich kann nicht glauben, dass du wirklich hier bist“, flüsterte Hanna.
Carla ließ erneut ihr Handgepäck fallen…
* * *
Irgendwie schafften sie es dann doch noch, bis zum Auto vorzudringen und zu Hanna nach Hause zu fahren. Die ganze Fahrt über mussten sie die Nähe der anderen suchen, und Hanna hatte ernsthafte Schwierigkeiten, sich auf das Autofahren zu konzentrieren. Sie hatte das Gefühl, auf der Stelle verrückt zu werden, wenn sie Carla nicht irgendwo berühren konnte, und Carla schien es ähnlich zu gehen. Beide Frauen atmeten erleichtert auf, als die Fahrt endlich zu Ende war, und Hanna auf dem Vorplatz zum Restaurant parkte. Als sie einen Blick ins Restaurant warfen, war von Nina und Erika nichts zu sehen, und so beschlossen sie, den kürzesten Weg zu Hannas Zimmer zu nehmen.
Carla schloss stürmisch die Tür hinter ihnen und schmiss ihr Gepäck achtlos in eine Ecke. Hanna kam gar nicht mehr dazu, den Koffer abzustellen, da war Carla schon bei ihr. „Du hast doch hoffentlich heute nichts mehr vor?“, fragte sie, während sie hastig Hannas Kleid aufknöpfte.
„Ich erinnere mich nicht mehr.“ Hanna seufzte leise, als sie Carlas Lippen in ihrem Nacken spürte.
„Schon wieder Gedächtnisprobleme, ja?“ Carla schob Hanna zum Bett, während sie ihren BH löste.
„Vielleicht können Sie ein… wenig… nachhelfen… Gräfin?“ Hanna rang nach Luft, als Carla ihr auch den Schlüpfer auszog und sich vor sie kniete. „Nein…“. Sie schob ihre Hände in Carlas Locken. „Komm hoch… ich will dich sehen…“
Hanna konnte ihr Glück kaum fassen, als sie in die geliebten blauen Augen vor sich sah. Der Hunger darin ließ sie erschauern. „Ich liebe dich“, flüsterte Carla und drückte Hanna aufs Bett. „So sehr.“
Carlas Hände raubten Hanna fast die Sinne, aber es gelang ihr, die letzten Kleidungsstücke von Carla abzustreifen. „Ich hab mich so nach dir gesehnt, Carla…“ Sie stöhnte leise, als Carlas Zunge ihre Brüste erreicht hatte. „Du bringst mich noch um.“
Carlas Zunge tanzte über Hannas weiche Haut. Das Ziel der Mission war klar. „Das tue ich nicht“, sagte Carla sanft und küsste Hannas Bauchnabel. „Ich hole dich zurück.“ Kuss. „Zu mir.“ Kuss. „Für immer.“
* * *
Eine Stunde später lagen Hanna und Carla engumschlugen in Hannas Bett und schauten schläfrig aus dem Fenster. Vom Bett aus war in der Ferne die Bergkette zu erkennen, doch aufgrund des diesigen Wetters wirkte sie seltsam unwirklich, wie die Kulisse eines Fantasyfilms. „Ich habe immer noch Angst, dass jemand mich aufweckt und mir sagt, das war alles nur ein Traum“, seufzte Hanna.
„Das geht mir genauso.“ Carla küsste ihre Stirn. „Aber es hilft enorm, dass du bei mir bist.“
Hanna nickte, sie wusste genau, was Carla meinte. „Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens“, sagte sie aus vollem Herzen und kuschelte sich tiefer in Carlas Arme. „Vor zwei Monaten dachte ich noch, ich hätte alles verloren. Und jetzt habe ich meine Erinnerungen zurück, eine beste Freundin, eine große Schwester, und die Liebe meines Lebens.“
Carla fuhr Hanna zärtlich über ihr Gesicht. „In Barcelona habe ich viel nachgedacht. Ich fragte mich, ob wir uns vielleicht in so verschiedene Richtungen entwickelt haben, dass es nicht mehr passen würde mit uns. Aber wenn ich mit dir zusammen bin, stellen sich diese Fragen nicht.“
„Wie du siehst, scheine ich mich sowieso immer in dich zu verlieben“, bemerkte Hanna lächelnd. „Ob in Düsseldorf oder Griechenland, ob mit Gedächtnis oder ohne…“
Carla unterbrach ihre Aufzählung mit einem Kuss. „Und ich scheine mich sowieso in dich zu verlieben, ob du hetero lebst oder lesbisch, ob du Hanna Novak bist oder Isabelle Jones…“
„Ich glaube, das nennt man wohl Schicksal“, sinnierte Hanna. „Übrigens danke, dass du Sylvia Bescheid gesagt hast.“
„Das war doch selbstverständlich. Sie hat sich also bei dir gemeldet?“
Hanna musste lachen, als sie an Sylvias seltsamen Auftritt dachte. „Gemeldet ist gut. Sie stand eines Tages vor meiner Nase.“
„Sie ist nach Kreta gereist?“, fragte Carla ungläubig. „Von Kanada aus?“
„Ja, das ist sie. Für einen einzigen Tag.“ Hanna schüttelte den Kopf. „Sylvia ist immer so distanziert und förmlich, aber dass sie sich extra in ein Flugzeug gesetzt hat und sechszehn Stunden über den Ozean geflogen ist, um mich zu sehen, rechne ich ihr hoch an. Und sie hat sich nicht einmal die Zeit genommen, einen Koffer zu packen.“
Carla lächelte. „Deine Schwester hat eine seltsame Art, dir ihre Liebe zu zeigen. Wie war denn das Wiedersehen für dich?“
Hanna dachte einen Moment nach. „Ich habe mich gewundert, wie sehr ich mich gefreut habe, sie zu sehen. Und ich war sehr gerührt, dass sie mir Herrn Schmidt mitgebracht hat. Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut.“
„Wer ist Herr Schmidt?“
„Der Teddy, der neben dir im Autos saß. Sylvia hatte ihn mir geschenkt, als ich fünf war.“ Hanna wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Und als ich wusste, dass ich sterben würde, habe ich ihr Herrn Schmidt zum Geburtstag geschenkt und ihr geschrieben, er solle von nun an auf sie aufpassen. Jetzt hat sie gesagt, ich bräuchte wohl dringender jemanden, der auf mich aufpasst.“
„Das ist lieb von ihr.“
„Ja, meine Schwester steckt voller Überraschungen.“
Carla stützte sich auf ihren Ellenbogen, um in Hannas Gesicht zu sehen. „Habe ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?“, fragte sie und strich Hanna eine Strähne aus der Stirn.
„Nein, das höre ich zum ersten Mal“, antwortete Hanna, ohne eine Miene zu verziehen. „Was sagtest du?“
„Ich liebe dich“, wiederholte Carla lachend und beugte sich zu Hanna hinunter für einen ausgedehnten Kuss.
„Ich liebe dich auch“, erwiderte Hanna, als sie wieder Luft bekam. „Dir ist doch hoffentlich klar, dass ich dich jetzt nicht mehr gehen lasse.“
„Ich hatte so etwas gehofft“, lächelte Carla.
„Carla?“ Hanna wickelte eine von Carlas Locken um ihren Zeigefinger. „Sagst du mir ehrlich, wie es jetzt für dich ist ohne Stella?“
Carla legte sich wieder hin und bettete ihren Kopf auf Hannas Schulter. Sie überlegte eine Weile, bevor sie sprach. „Es war furchtbar, ihr wehzutun. Ich habe es immer wieder hinausgeschoben, weil ich es einfach nicht über mich bringen konnte. Aber dadurch habe ich sie noch mehr verletzt, weil sie natürlich gemerkt hat, dass etwas nicht stimmte.“ Carla seufzte und schlang ihren Arm um Hannas Oberkörper. „Irgendwann hat sie mich dann direkt angesprochen, und mir blieb nichts anderes übrig als ihr die Wahrheit zu sagen.“
„Und wie hat sie es aufgenommen?“
„Ich war erschrocken, wie verständnisvoll sie reagiert hat. Ich hatte erwartet, dass sie einen riesen Aufstand machen und um mich kämpfen würde, und um Sophia. Aber es war seltsam… Erst war sie sehr wütend und verletzt, aber als sie erfuhr, dass es um dich geht, hat sie irgendwie die Waffen gestreckt. Sie hat sie nichts gesagt oder getan, um mich aufzuhalten. Sie hat nur gesagt, dass sie mich liebt.“
„Und du?“ Hanna küsste Carlas Scheitel.
„Ich habe ihr gesagt, dass ich sie auch liebe. Aber dass ich nicht bei ihr bleiben kann, weil…“ Carla musste schlucken. „Weil du die Frau für mich bist, Hanna, und ich nicht mit jemand anderem zusammen sein kann, solange du auf dieser Erde wandelst.“
„Das geht mir genauso.“ Hanna stiegen Tränen in die Augen. „“Ich würde sie gern einmal kennenlernen, deine Stella.“
„Das ist im Moment sicher keine so gute Idee.“ Carla schüttelte den Kopf. „Vielleicht irgendwann mal, wenn es ihr wieder besser geht. Sie ist klug, sie ist bezaubernd schön, sie ist ein wunderbarer Mensch… Sie wird ein neues Glück finden.“
„Danke, dass du dich für mich entschieden hast.“ Hanna küsste Carlas Hand und legte sie an ihre Wange. „Ich hätte nicht gewusst, was ich machen soll, wenn du nicht zurückgekommen wärst.“
„Ich hätte mich nicht anders entscheiden können.“ Carla seufzte. „Aber für Sophia wird es sicher schwer. Auch wenn sie dich sehr mag, ist Stella doch immerhin ihre zweite Mutter.“
„Ich werde nicht in Konkurrenz zu Stella gehen“, versprach Hanna. „Was immer für Sophia das Beste ist, werde ich beherzigen.“
„Nichts anderes habe ich von dir erwartet.“ Carla lächelte traurig. „Danke.“
Hanna küsste Carlas Augenlider. „Über die Zukunft sprechen wir ein anderes Mal“, beschloss sie. „Jetzt ist erst einmal wichtig, dass wir zusammen sind.“
„Du hast Recht.“ Carla seufzte tief. „Dass wir uns wiederhaben, ist das Wichtigste. Alles andere wird sich finden.“
„Ja…“ Hanna horchte auf, als sie unten Teller scheppern hörte. „Vielleicht sollten wir allmählich mal runter gehen, damit du Nina und Erika begrüßen kannst?“
Carla schüttelte den Kopf. „Erst, wenn ich mit dir fertig bin“, sagte sie und bedeckte Hannas Gesicht mit kleinen Küssen. „Und das kann dauern…“
„So wichtig ist die Begrüßung nun auch wieder nicht“, lächelte Hanna, und dann knüpften sie dort an, wo sie vor einer halben Stunde aufgehört hatten. Und Hanna spürte, dass sie sich zum ersten Mal seit vielen Jahren ganz und gar geborgen fühlte. Auch wenn die Zukunft noch viele Fragezeichen beinhaltete, war in ihrem Leben endlich wieder alles an den richtigen Platz gerückt. Was immer auch passieren würde, gemeinsam mit Carla würde sie es schaffen.
* * *
„Na, du bist ja vielleicht eine.“ Nina schenkte Carla eine zweite Tasse Kaffee ein. „Wieso hast du denn erst angerufen, als du schon gelandet warst?“
Carla schaute entschuldigend zu Hanna, bevor sie antwortete. „Um ehrlich zu sein, hatte ich bis zum Schluss Angst, Hanna hätte sich umentschieden und würde mich nicht sehen wollen.“
„Na, die Angst hätten wir dir leicht nehmen können.“ Erika verdrehte die Augen. „Die Frau war ja zu nichts mehr zu gebrauchen, nachdem du abgereist warst.“
„Isabell hat noch ein paar Aufmunterungs- und Ablenkungsversuche gestartet“, bestätigte Nina. „Aber als die dann abgereist war…“
„Naja. Nun ist Carla ja da“, unterbrach Hanna sie, der es unangenehm war, dass die Freundinnen so über sie sprachen. „Und Carla kann vier Tage bleiben, bevor wie wegen einer Vernissage zurück nach Barcelona muss.“
„Wenn sie nicht wieder wegläuft“, gab Nina zu bedenken, und handelte sich dafür einen Knuff von Carla ein.
„Ihr müsst zugeben, dass die Situation sehr besonders war“, verteidigte sie sich. „Normalerweise neige ich nicht zum Weglaufen.“
„Ach nein?“ Hanna hob erstaunt die Augenbrauen. „Ich kann mich da an Zeiten erinnern…“
„Schon gut…“ Carla gab sich lachend geschlagen. „Aber besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen…“
„Hm.“ Erika schaute von einer zur anderen. „Das ist mir jetzt etwas zu kryptisch…“
„Als ob du nicht wüsstest, was Weglaufen ist…“ Jetzt war es an Nina, mit den Augen zu rollen. „Ich sage euch, als Erika und ich uns kennenlernten, und ich ihr gestanden habe, dass ich mich in sie verliebt habe…“
„Da war ich noch mit Arno zusammen“, rechtfertigte sich Erika. „Ich war einfach verwirrt…“
„Das kenne ich.“ Hanna tätschelte Erikas Hand. „Die beiden da wissen einfach nicht wie das ist, wenn man sich plötzlich in eine Frau verliebt, nachdem man jahrelang mit Männern zusammen war…“
„Ganz genau“, nickte Erika erfreut. „Bis man das so eingeordnet und für sich sortiert hat…“
„Das dauert einfach seine Zeit“, ergänzte Hanna mit Seitenblick auf Carla und Nina. „Lasst euch das von zwei Expertinnen sagen.“
„Weißt du, Carla…“ Nina legte ihre Hand auf Carlas Schulter. „Manche Menschen haben einfach eine längere Leitung, und da muss man dann geduldig sein, bis sie das Glück erkannt haben, das ihnen direkt vor die Füße gefallen ist.“
Carla nippte an ihrem Kaffee. „Du meinst, wir sollten mehr Nachsicht walten lassen für diejenigen, die nicht denselben Durchblick haben wie wir?“
„Ich denke schon“, sagte Nina großzügig. „Obwohl wir wohl ein bisschen mehr Verständnis und Anerkennung erwarten dürften, denn schließlich kostet es eine Menge Nerven, geduldig darauf zu warten, bis bei jemandem endlich das Licht angeht.“
„Wie wahr, wie wahr…“ Carla schaute betont philosophisch in ihre Kaffeetasse. „Aber Undank ist der Lesben Lohn. So ist das nun mal.“
„Spottet ihr nur.“ Erika warf den beiden einen giftigen Blick zu. „Aber apropos Entscheidungen“, sagte sie zu Hanna. „Weißt du schon, ob du deinen Personalausweis wieder ändern lassen wirst?“
Hanna zuckte mit den Schultern. „Ich habe lange darüber nachgedacht und kann mir nicht mehr vorstellen, länger mit einem anderen Namen herumzulaufen. Aber…“
„… aber du weißt nicht, ob du strafrechtlich verfolgt werden würdest?“, fragte Nina.
„Genau.“ Hanna runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich habe nichts davon, der Welt zu sagen, wer ich wirklich bin, wenn ich dabei im Gefängnis sitze.“
Carla kam eine Idee. „Wie wäre es, wenn du Lars mit dieser Frage beauftragst? Du wolltest dich eh bei ihm melden, und er wäre sicher froh, wenn er dir irgendwie behilflich sein könnte. Und dann wüsstest du, was auf dich zukäme oder nicht.“
„Das wäre eine Möglichkeit. Wozu hat man einen Anwalt als Ex-Freund.“ Hannas Miene hellte sich auf. „Und du hast seine Telefonnummer?“
Carla lächelte. „Er ist immerhin der Vater meiner Tochter.“
„Dann rufe ich ihn gleich morgen an“, beschloss Hanna. „Ich wäre wirklich froh, wenn ich endlich weiß, wer ich in Zukunft bin.“
„Wisst ihr denn schon, ob ihr zusammenziehen wollt, oder ob ihr in verschiedenen Ländern wohnen bleibt?“, fragte Erika und schaute Hanna dabei an.
Hanna sah zu Carla und atmete tief durch. „Für mich kommt es nicht in Frage, dass wir an verschiedenen Orten leben“, sagte sie in Richtung Carla. „Wir haben lange genug getrennt gelebt.“
„Das geht mir genauso.“ Carla war sichtlich erleichtert. „Hast du denn einen Wunsch, wo das sein soll, Hanna? Griechenland? Spanien? Deutschland?“
Hanna dachte lange nach. „So leid es mir tut“, sagte sie zu Erika und Nina, „und so sehr ich an euch hänge und hier ein Zuhause gefunden habe, ich denke, dass es keine gute Idee ist, wenn wir bleiben. Außerdem kann Carla auf Kreta ihren Beruf nicht ausüben, jedenfalls nicht in dieser Art.“
„Mach dir über uns keine Gedanken“, sagte Erika und strich Hanna über den Rücken. „Wir wollen nur das Beste für dich. Hauptsache, wir verlieren uns nicht aus den Augen.“
„So ist es.“ Nina nickte bekräftigend. „Heißt das denn, dass ihr nach Düsseldorf zurück wollt?“
„Ich könnte mir Düsseldorf gut vorstellen“, antwortete Hanna und sah erneut zu Carla, die sich noch nicht geäußert hatte. „Aber ich glaube, es wäre nicht gut, wenn Sophia neben ihrer zweiten Mutter auch noch ihr vertrautes Zuhause verliert. Und außerdem hat Carla in Barcelona eine Arbeit, die ihr Spaß macht.“
„Was sagst du denn dazu?“, wendete sich Erika an Carla, die jedoch auf ihre Frage nicht reagierte, sondern Hanna nur mit großen Augen anstarrte. „Das… das würdest du wirklich tun?“, fragte sie, ohne den Blick von Hanna zu nehmen. „Du würdest alles aufgeben, was dir vertraut ist? Nur für mich?“
Hanna lächelte, aber ihre Augen waren ernst. „Du hast auch viel aufgegeben für mich, Carla.“
Carla beugte sich über den Tisch und ergriff Hannas Hände. „Du ahnst nicht, wie glücklich du mich damit machst…“
Nina warf Erika einen vielsagenden Blick zu. „Wollten wir
_________________
Zuletzt geändert von kimlegaspi am 26.06.2011, 12:57, insgesamt 10-mal geändert.
|