So, es folgt der nächste Abschnitt der Quadratur des Kreises :* * *
Es war sieben Uhr morgens, als Alicia in Kalindas Schlafzimmer die Augen aufschlug. Sie musste zweimal blinzeln, bis sie sich sicher war, dass sie nicht mehr träumte, sondern sich tatsächlich in Kalindas Bett befand. Auch der quer über ihrem Rücken ruhende Arm war real und auch das schöne Gesicht, dessen kühle Stirn Alicias Schulter berührte. Kalindas Augen waren geschlossen, und an den regelmäßigen Atemzügen merkte Alicia, dass sie noch schlief. Ein zarter Ellenbogen ragte unter der Bettdecke hervor, und seine warme Bräune stand in seltsamem Gegensatz zu dem kalten Weiß der Bettwäsche.
Wie friedlich und entspannt Kalindas Gesicht jetzt aussah im Vergleich zu den Aufregungen der letzten Nacht. Bis in die frühen Morgenstunden hatten sie sich geliebt, und es war schließlich die pure Erschöpfung gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass letztlich doch der Schlaf sie übermannt hatte. Auch jetzt noch schien alles überreizt und erregt in Alicia, und der Anblick der schlummernden Gestalt neben ihr machte die Situation nicht besser. Nur mit Mühe konnte Alicia sich davon abhalten, die schlafenden Lippen zu küssen, und sie legte vorsichtshalber ihre Hände unter ihren Kopf, damit sie sich nicht selbständig machen würden.
Ob Kalinda wohl von Anfang an vorgehabt hatte, sie hier übernachten zu lassen, oder ob es irgendwann einfach zu spät gewesen war, um sie nach Hause zu schicken? Sicher war Kalinda nicht der Typ für einen gemeinsamen Morgen, und es war nicht unwahrscheinlich, dass sie die letzte Nacht bereuen würde, wenn sie aufwachte. Der Gedanke ließ Alicias Herz schwer werden, und sie kroch tiefer unter die Bettdecke. Sie fühlte sich noch so roh und verletzlich, dass sie nicht wusste, wie sie mit solch einer Zurückweisung umgehen sollte.
Alicia erlaubte ihrer Hand, unter ihrem Kopf hervorzukommen und eine schwarze Strähne aus Kalindas Gesicht zu streichen.
Was hast du nur mit mir gemacht?, fragte sie sie stumm. Vorher war es eine abstrakte Idee gewesen, nach der sie sich gesehnt hatte, aber jetzt, jetzt wusste sie genau, was sie wollte, und sie wollte es nur noch mehr, noch absoluter als zuvor. Hatte Kalinda wirklich ernsthaft geglaubt, es würde die Situation entschärfen, wenn sie miteinander schliefen? Vermutlich hatte sie genauso wenig wie Alicia sehen wollen, welche Konsequenzen ihr Handeln haben würde. Heute ist heute, und morgen ist morgen – das war schon immer Kalindas Motto gewesen. Aber jetzt war morgen, und sie würden sich damit auseinandersetzen müssen, wie sie in Zukunft miteinander umgingen. Die nächste Zeit würde hart werden, sehr hart. Härter als Alicia es sich je vorgestellt hatte.
Eine Träne löste sich still aus ihrem Augenwinkel und lief Alicias Wange herunter. Nein, sie bereute nicht, dass sie es getan hatten. Sie würde es niemals bereuen. Seufzend fuhr sie sich über ihre Augenlider, und als sie sie wieder öffnete, merkte sie, dass Kalinda sie anschaute.
„Bist du okay?“, fragte Kalinda leise.
„Ja.“
„Glaubst du, es war eine schlechte Idee?“
„Nein.“ Alicia legte ihre Hand an Kalindas Wange und strich sanft mit ihrem Daumen darüber. „Es war die beste, die du je hattest.“
„Gut.“ Kalinda küsste ihre Handinnenfläche. „Wie lange haben wir noch?“
Alicia fluchte leise, als sie auf Kalindas Wecker schaute. In ihr sträubte sich alles, über diese Frage nachzudenken. „Ich sollte spätestens um 11 Uhr aufbrechen. Peter holt mich um 13 Uhr für die Wahlkampfveranstaltung ab, irgendeine Podiumsdiskussion, wo Mike Kresteva auch dabei ist.“ Sie schüttelte sich bei der Vorstellung, Peters widerlichem Konkurrenten die Hand geben zu müssen.
„Das wird sicher hart für dich.“ Kalinda fuhr mit ihren Fingerspitzen an Alicias Arm entlang und lächelte, als sie die Gänsehaut sah, die sie hervorrief. Sie wusste genau, dass Alicias Körper sofort auf die Berührung reagieren würde, und dass sie mit einer einzigen Bewegung jede Zelle in ihr in freudige Erwartung versetzen konnte.
Doch Alicia hatte, den eindeutigen Reaktionen ihres Körpers zum Trotz, andere Pläne. Der Gedanke an die anstehende Podiumsdiskussion war drauf und dran, ihr die Laune zu verderben, und sie wollte Peter und seine Kampagne so schnell wie möglich wieder vergessen. Sie wünschte, sie könnte alles andere ausblenden und einfach nur neben der Person dösen, die sie allzu bald der Welt zurückgeben musste. „Können wir … hier einfach noch eine Weile zusammen liegen?“, fragte sie Kalinda.
Die emsigen Finger stoppten abrupt in ihrer Bewegung, aber sie blieben auf Alicias Arm liegen, als Kalinda ihren Kopf zurück ins Kissen legte. „Ich bin nicht sicher, ob ich das kann“, sagte sie, und ihr Blick gab so unverhohlen Preis, was sie dachte, dass Alicia darunter erschauerte.
„Nur ein paar Minuten, bitte…“, flüsterte Alicia und zog sie sanft in ihre Arme.
Kalinda wehrte sich nicht, und so lagen sie lange Zeit stumm beieinander, die Körper ineinander verschlungen, und Alicia versuchte, sich das Gefühl von Kalinda in ihren Armen einzuprägen, so dass es für immer in ihr lebendig bleiben würde. Sie merkte sehr wohl, was für eine Herausforderung es für Kalinda war, so nah bei ihr zu liegen und nichts zu tun, aber zu dem, was sie so dringend brauchte, würden sie gleich noch kommen.
Jetzt, in der Stille, waren all die ungesagten Dinge zwischen ihnen erdrückend spürbar. Die Worte, die sie sich nie gesagt hatten, die Diskussionen, die sie noch nicht geführt hatten, die Entscheidungen, die noch nicht getroffen waren. All das hing schwer in der Luft, und gerade deswegen war Schweigen das Beste, was sie tun konnten. Wenn Alicia die Augen schloss, konnte sie Kalindas Herzschlag spüren, und im Moment fühlte es sich an wie das größte Glück der Welt. Alles andere musste warten.
Alicia hätte gern noch länger geruht und einfach die Nähe genossen, aber sie merkte, dass Kalinda neben ihr ungeduldig wurde. „Ich habe nichts zum Frühstück da“, hauchte sie in Alicias Ohr, und es klang wie das erotischte Geständnis, das Alicia je gehört hatte.
Alicia musste lachen. „Das ist schrecklich“, neckte sie Kalinda und zog sie in einen leidenschaftlichen Kuss.
Kalinda lächelte unter ihren Lippen. „Bist du fertig mit Herumliegen?“, flüsterte sie in Alicias Mund.
„Fürs Erste“, bestätigte Alicia, aber verstummte, als Kalinda ihre Hand nahm und sie unter die Bettdecke führte. „So eilig?“, flüsterte sie lächelnd. Sie schmolz dahin, als Kalinda ihr einen flehenden Blick zuwarf.
„Alicia…“
„Ja?“ Alicias Lächeln verschwand, als sie merkte, dass Kalinda wirklich in Not war. „Hey“, sagte sie leise. „Sag mir, was du brauchst…“
Und dann ließ sie sich willig führen. Schon in der Nacht hatte Alicia gemerkt, wie sehr sie den Moment liebte, wenn Kalindas Atem schneller und geräuschvoller wurde, und sie schloss genussvoll die Augen, um sich den kleinen Geräuschen ganz hinzugeben. Trotzdem verlor sie ihre Mission nicht aus den Augen, denn es war deutlich, dass Kalinda nicht lange durchhalten würde. Außerdem spürte Alicia ihre eigene Erregung aufflammen, und sie vergrub ihre andere Hand in Kalindas Haaren und ihren Mund in ihre Halsbeuge, in die Stelle, von der sie wusste, dass es Kalinda verrückt machte, wenn ihre Lippen dort waren.
„Wir machen… nachher… langsam…, okay?“, flüsterte Kalinda.
„Es ist alles okay“, beruhigte sie Alicia, selbst außer Atem. Es kam ihr zugute, dass sie schon Zeit gehabt hatte, um Kalindas Körper kennenzulernen. Sie wusste, wo ihre sensitivsten Stellen waren und was sie zu tun hatte, um ihr größtes Glück zu bereiten. Aber an sinnlichen Genüssen würden sie sich später aufhalten, jetzt war es Zeit, auf direktem Wege zum Ziel zu kommen.
Alicia fühlte ihren eigenen Körper erbeben, als Kalindas Kopf auf ihre Schulter fiel, und sie schlang ihren freien Arm fest um Kalinda, als sie die Wellen kommen fühlte. Es war wie ein Erdbeben in ihrem Arm, als Kalinda kam, und Alicia hielt sie so fest bei sich, dass sich die Erschütterungen auf ihren eigenen Körper übertrugen. „Ich hab dich, meine Schöne“, flüsterte sie und wusste selbst nicht, woher die Koseworte plötzlich kamen. „Lass alles zu.“
Und als hätten ihre Worte magische Wirkung, überrollte Kalinda ein zweites Beben, und sie klammerte sich zitternd an Alicia.
Es dauerte lange Zeit, bis die Wellen verebbten und Kalindas Atem sich wieder beruhigte. „Verdammt, was war das?“, wisperte sie in Alicias Schulter.
„Ich dachte, du wüsstest das.“ Alicia küsste das schweißnasse Gesicht. „Bist du okay?“
„Ja, ich glaube schon.“
Alicia flüsterte beruhigende Worte und verteilte kleine liebkosende Küsse auf Kalindas Gesicht und Nacken, als Kalinda sich plötzlich zurücklehnte und sich aus ihren Armen löste. „Ich bin gleich wieder da“, sagte sie, und ohne ein weiteres Wort stieg sie aus dem Bett und verließ das Schlafzimmer.
Alicia sah ihr verwirrt hinterher. Was war das denn? Sie ließ sich seufzend in Kalindas Kopfkissen fallen. War das das Ende? Wenn ja, hatte sie es selbst vermasselt. Was war über sie gekommen, solche Worte zu benutzen? War sie noch bei Trost? Jetzt lief Kalinda weg, wie sie immer weglief. Im Grunde war es erstaunlich, dass sie es nicht schon viel früher getan hatte. Gestern Abend, oder heute Morgen nach dem Aufwachen.
Alicia rollte sich auf die Seite und vergrub ihre Nase in Kalindas Kissen. Ihr gereizter Körper schmerzte und schrie nach Beachtung, aber Alicia ignorierte ihn. Sollte sie Kalinda vielleicht nachgehen oder würde das alles nur schlimmer machen? Schließlich hatte sie deutlich gemacht, dass sie ihre Ruhe wollte. Aber wenn sie jetzt abwartete, bis Kalinda komplett dicht machte, war vielleicht alles zu spät. Alicias kämpferische Seite gewann die Überhand, und sie entschied sich aufzustehen, um nach Kalinda zu sehen.
Außerhalb des Bettes war es empfindlich kalt, und Alicia zog sich ihre Bluse über, die noch neben dem Bett lag. Sie fand Kalinda schließlich im Wohnzimmer. Im Bademantel stand sie am Fenster, mit dem Rücken zu Alicia, und schaute unverwandt in die Morgendämmerung.
Ob sie zu ihr herübergehen sollte? Alicia lehnte sich in den Türrahmen des Wohnzimmers und sah schweigend zum Fenster hinüber. „Bist du wirklich in Ordnung?“, fragte sie.
Kalinda nickte, ohne sie anzusehen. „Ja.“
„Möchtest du, dass ich gehe?“
„Nein.“
„Möchtest du noch eine Weile allein sein?“
„Nein, es ist okay.“ Kalinda drehte ihr kurz das Gesicht zu, ohne ihren Körper vom Fenster zu wenden. „Lass uns zurück ins Bett gehen.“
Irgendetwas an Kalindas Tonfall ließ Alicia zögern, aber ehe sie identifizieren konnte, was es war, stand Kalinda plötzlich vor ihr. „Vielleicht möchte ich dich aber auch unter der Dusche“, flüsterte sie mit einer Stimme, die Alicia eine Gänsehaut über den Körper jagte. „Oder in der Küche…“ Sie legte ihre Hand in Alicias Nacken und zog sie zu sich in einen harten, aggressiven Kuss. „Lass es uns gleich hier tun“, hauchte sie und presste ihr Knie zwischen Alicias Schenkel. „Ich weiß, ich hab dich hängenlassen.“
„Kalinda…“
Aber Kalinda hörte nicht, und Alicias Hinterkopf fiel hart gegen das Holz, als Kalinda sie gegen den Türrahmen drückte. Noch ehe sie etwas sagen konnte, war Kalindas Mund wieder auf ihrem und ihre flinken Hände unter ihrer Bluse. Im Nu waren die Knöpfe geöffnet und Kalindas Lippen landeten zwischen ihren Brüsten.
„Kalinda… hör auf“, flüsterte Alicia, als sie Kalindas Zähne fühlte. „Ich will… das nicht.“
„Doch, du willst.“ Kalindas Hände fuhren hungrig über Alicia, während sie langsam an ihr herunterglitt, um zu wiederholen, was Alicia schon in der Nacht in Ekstase versetzt hatte. „Ich kann es fühlen…“
„Kalinda!“ Alicia wurde panisch und stieß Kalinda von sich weg. „Hör jetzt auf! Was ist denn los mit dir?“, rief sie entsetzt. „Bist du noch ganz bei Sinnen?“
Kalinda sah sie mit aufgerissenen Augen an. „Was ist denn das Problem?“
„Das Problem ist, dass ich nicht eine von deinen Sexpüppchen bin“, sagte Alicia kalt und knöpfte ihre Bluse wieder zu.
„Es geht doch um Sex, oder nicht?“ Kalindas Ton war überheblich und aggressiv.
Alicia schüttelte den Kopf. „Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe.“
Kalinda stand wortlos vom Boden auf und schlüpfte wieder in ihren Bademantel. „Hattest du nicht gesagt, dass du gehen wolltest?“, fragte sie, als Alicia keine Anstalten machte, sich zu bewegen.
„Keine Sorge, ich bin schon auf dem Weg.“ Alicia riss wütend die Schlafzimmertür auf, um ihre Sachen zu holen. Sie war den Tränen nah, als sie sich im Bad zurechtmachte, aber sie wollte sich vor Kalinda keine Blöße geben. Wie hatte es nur geschehen können, dass sich die Atmosphäre zwischen ihnen von einer Sekunde auf die andere so verändert hatte?
Als Alicia aus dem Badezimmer trat, war Kalinda dabei, sich einen Kaffee zu machen. Ihre Ignoranz war so verletzend, dass Alicia am liebsten wortlos die Wohnung verlassen hätte. Aber dafür ging es um zu viel. Um viel zu viel.
Also legte Alicia ihre Handtasche zur Seite und stellte sich so dicht vor Kalinda, dass diese ihr nicht ausweichen konnte. „Ich weiß, was du gerade machst“, sagte sie und zwang Kalinda, sie anzusehen. „Du machst alles kaputt. Und du weißt es auch. Du kehrst das hier in etwas, an das wir uns beide nicht gern erinnern werden. Damit du wieder frei bist. Aber ich werde nicht zulassen, dass du das tust. Es ist falsch und demütigend.“
Kalinda verzog keine Miene. „Ich denke, es ist wirklich besser, wenn du jetzt gehst“, sagte sie und reichte Alicia ihre Handtasche.
Alicia nahm die Tasche entgegen und ließ sie auf den Fußboden fallen. „Ich weiß, dass du stur bist, Kalinda Sharma“, sagte sie unbeeindruckt. „Aber ich bin es auch.“
„Du denkst, du kennst mich, aber du kennst mich nicht.“ Kalinda trat jetzt einen Schritt vor und ihr Blick bohrte sich in Alicias. „Ich bin nicht so, wie du denkst.“
„Vielleicht bist du auch nicht so, wie du denkst“, erwiderte Alicia sarkastisch.
„Ich habe dir nie etwas versprochen, was ich nicht gehalten habe.“
„Das weiß ich. Darum geht es doch gar nicht.“ Alicia stemmte frustriert die Hände in die Hüften. „Es geht darum, dass wir uns ineinander verliebt haben, und dass du alles tust, um das nicht fühlen zu müssen. Nur hast du leider vergessen, dass mich das auch betrifft, und ich lasse mich von dir nicht so behandeln. Ich verlange nichts von dir, ich weiß, dass du das alles nicht willst. Aber tu nicht so, als ob ich eine von deinen One-Night-Stands wäre. Das tut mir weh.“
Kalinda bückte sich schweigend, um Alicias Tasche vom Boden aufzuheben. „Es tut mir leid“, sagte sie, während sie sie ihr zurückgab.
„Mir auch.“ Alicias Blick wurde weicher. „Ich jedenfalls werde diese Nacht nie bereuen. Und ich hoffe, dass du es auch nicht tust.“ Ein letztes Mal streckte sie die Hand aus und strich Kalinda über die Wange. Dann begab sie sich zur Tür. „Bis morgen“, sagte sie leise, und die Wohnungstür fiel hart ins Schloss, ohne dass Kalinda etwas erwidert hatte.
* * *
Nachdem das Taxi sie zu Hause abgesetzt hatte, stellte Alicia sich als Erstes unter die Dusche. Über eine halbe Stunde ließ sie das Wasser auf sich herabregnen, bis schließlich das Klingeln ihres Telefons sie daran erinnerte, dass Peter sie um 13 Uhr abholen wollte. Bis dahin musste sie sich in Schale geworfen und eine Kleinigkeit gegessen haben, sonst versagte ihr noch vor laufender Kamera der Kreislauf. Zwar war ein öffentlicher Auftritt gerade das Letzte, was sie sich vorstellen konnte, aber sie wusste nur zu gut, wie wichtig dieser Termin für Peters Wahlkampf war. Immerhin würde sein Konkurrent Mike Kresteva mit von der Partie sein, und dieser würde es sich nicht nehmen lassen, diverse Seitenhiebe auf Peters Privatleben zu verteilen. Da war es gut, wenn die Fernsehkameras Alicias Gesicht einfangen konnten, das sich selbstverständlich keine Blöße geben würde. Wenn Alicia etwas in den letzten Jahren gelernt hatte, dann war es, niemanden in ihre Seele schauen zu lassen, egal wie nah die Kameras heranzoomten.
Als Peter sie pünktlich um 13 Uhr abholte, war Alicia bereits perfekt in ihre Rolle geschlüpft. Der Wahlkampf war ein Schauspiel, mehr nicht, und sie würde ihren Part spielen, wie sie es Peter versprochen hatte. Er machte zwar bei der Begrüßung eine Bemerkung, dass sie müde aussehe, aber auch das würde die Maskenbildnerin gekonnt kaschieren können. Im Grunde war Alicia froh, dass sie gezwungen war, komplett in eine andere Welt einzutauchen und dafür ihre eigenen Gefühle in den letzten Winkel ihrer Seele zu verbannen. Es gab wichtigere Dinge als ihr kleines, unbedeutendes Leben, zum Beispiel, wie dieser Staat in Zukunft regiert würde.
Geduldig beantwortete Alicia die Fragen der Journalisten und machte während der Podiumsdiskussion gute Miene zum bösen Spiel, wenn Mike Kresteva zu Treffern unter der Gürtellinie ausholte. Sie bewunderte Peter für seine Ruhe, denn wenn sie oben hinter dem Mikrophon gesessen hätte, wäre sie wahrscheinlich längst ausfallend geworden. Mike war einer der geschicktesten Lügner, die ihr je im Leben begegnet waren, und es ärgerte sie maßlos, mitansehen zu müssen, wie er die ahnungslose Öffentlichkeit um den kleinen Finger wickelte.
„Bleib ruhig, Alicia“, zischte Eli neben ihr. „Was ist denn heute los mit dir?“
„Ich kann seine Masche nicht mehr ertragen“, raunte sie zurück.
„Je weniger du darauf reagierst, desto weniger reagieren die Leute darauf“, raunte er. „Die Presse wartet nur darauf, dass du emotional wirst.“
Alicia lächelte tapfer und winkte bescheiden ins Publikum, als Peter sie zu sich aufs Podium rief. „Es wird nicht einfach, den Nachwirkungen der Wirtschaftskrise etwas entgegenzusetzen“, sagte er ins Mikrophon, während er den Arm um Alicia legte. „Aber ich habe eine kluge Frau an meiner Seite und zwei wohlgeratene Kinder, und sie alle geben mir die Kraft, mein Bestes für Illinois zu geben. Wir sind Amerikaner, wir geben nicht auf, und wir werden das Ruder wieder herumreißen.“
Prompt holte auch Mike seine Ehefrau aufs Podium. „Ein Staat wird nicht durch Worthülsen regiert“, rief er ins Publikum. „Wir Amerikaner messen unsere Mitmenschen an den Taten. Und wenn ich mich richtig erinnere, hat Peter Florrick für seine Taten schon einmal im Gefängnis büßen müssen.“
Peter warf einen unauffälligen Blick zu Eli, der ihn stumm anwies, auf Mikes Provokation nicht zu reagieren. „Vielleicht sollten wir jetzt die Runde für das Publikum öffnen“, schlug Peter dem Moderator vor. „Denn letztlich ist es das Wichtigste, was die Menschen in unserem Staat für Anliegen haben, und was sich Illinois‘ Bevölkerung von uns wünscht.“
Der schon leicht überfordert wirkende Moderator ging sofort auf seinen Vorschlag ein, und in der nächsten Stunde mussten sich die Kandidaten den Fragen des Publikums stellen. Alicia war froh, wieder auf ihren Stuhl zurückkehren zu können, auch wenn die Presse sie weiterhin im Auge behielt. Sie fühlte sich innerlich so leer und erschöpft, dass sie das Ende der Veranstaltung genauso sehr ersehnte wie fürchtete. Hoffentlich würde Peter nicht im Anschluss noch zu ihr nach Hause kommen wollen. Sie hatte heute für niemanden mehr Kraft, nicht einmal mehr für ihn oder für ihre Kinder. Zum Glück war Zach bei seiner Freundin Nisa, und Grace hatte Nachhilfe bei ihrer Tutorin. Keiner von ihnen würde vor 17 Uhr zu Hause auftauchen.
Mehr als einmal war Alicia versucht, während der Diskussion ihr Handy anzustellen, um zu sehen, ob Kalinda eine Nachricht hinterlassen hatte, aber sie durfte auf keinen Fall einen abgelenkten Eindruck machen. Sie musste hier sitzen und so tun, als ob ihr Mann, das Wichtigste, Klügste und Spannendste der Welt erzählte, unabhängig davon, ob sie Peters Meinung teilte oder nicht. Und deswegen blieb das Handy aus.
Eli war zumindest halbwegs zufrieden, als der Moderator die Veranstaltung schloss. „Ein Nagel mehr in Mikes Sarg“, raunte er zu Alicia, während er Peter zu sich winkte. „Es sieht allerdings so aus, als hätten wir einen leichten Stimmenverlust bei den jungen Leuten. Wir sollten nochmal darüber sprechen, ob du dich nicht doch für eine gemeinsame Veranstaltung mit Zach und Grace entscheiden kannst.“
„Kommt nicht in Frage!“ Alicia lächelte, da sich noch immer Fotografen im Saal befanden.
„Alicia, bitte. Wir sind schon so weit gekommen“, beharrte Eli, ebenfalls lächelnd.
Aber Alicia ignorierte ihn. „Du wirst immer besser“, sagte sie zu Peter, als dieser zu ihnen kam, und küsste ihn auf die Wange. „Ich würde dich wählen.“
„Das wäre ja auch noch schöner“, strahlte er und legte seinen Arm um sie. „Ich würde dich auch wählen.“
Alicia war klar, dass er nicht von der Wahlveranstaltung sprach, und sie hielt es für besser, das Thema zu wechseln. „Wann sollen wir uns Mittwochabend treffen?“, wandte sie sich an Eli.
„Um 19 Uhr.“ Eli zückte sein Handy. „Ich mache noch das CBS-Interview für dich klar“, informierte er Peter. „Und Alicia, hast du Will und Diane Bescheid gesagt, dass eure Tour in zwei Wochen startet?“
„Ja, ich werde für diese Zeit freigestellt“, nickte sie, und zum ersten Mal freute sie sich tatsächlich auf die strapaziöse Wahltournee. Ein paar Wochen weg aus Chicago würden ihr sicher guttun.
Arm in Arm verließen Alicia und Peter den Saal, und als sie in seinen Wagen stieg, fragte er, wie sie befürchtet hatte, ob er noch mit zur ihr kommen könnte. "Ein gutes Glas Wein bei entspannter Musik, wäre jetzt genau das Richtige", sagte er lächelnd.
Aber zu seinem Bedauern lehnte sie ab. „Die Feier gestern ging doch recht lang“, erklärte sie. „Ich bin ziemlich müde.“
„Kein Problem.“ Er sah sie besorgt von der Seite an, als er den Motor startete. „Ist alles in Ordnung bei dir?“
„Ja.“ Sie nickte. „Ich bin nur müde.“
Alicia zuckte zusammen, als ihr Handy zweimal piepte, und griff nervös in ihre Handtasche. Vielleicht war es auch eines der Kinder? Oder Will? Er meldete sich oft am Wochenende, wenn ihm noch etwas zu einem Fall einfiel.
Alicia drehte das Display ihres Blackberry leicht zum Fenster, so dass Peter die Nachricht nicht mitlesen konnte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie den Absender las. Die SMS enthielt nur ein paar wenige Worte, aber sie besserten Alicias Laune augenblicklich:
Es tut mir leid. Können wir reden? K.„Wer ist es?“, fragte Peter interessiert.
„Kalinda.“ Alicia steckte ihr Handy zurück in die Tasche. „Sie hat noch was zu besprechen.“
„Wie geht’s ihr denn eigentlich?“ Peter warf Alicia einen flüchtigen Blick zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte.
„Gut, soweit ich weiß.“
„Lässt ihr Ehemann sie nach wie vor in Ruhe?“
„Ja, dein Plan muss hervorragend gewesen sein.“ Alicia tätschelte seinen Arm. „Da hast du ein gutes Werk getan.“
„Ich hab’s für dich getan“, sagte er sachlich. „Das weißt du.“
„Ja, und ich bin dir auch wirklich dankbar dafür.“ Sie zog ihre Hand weg, um ihm kein falsches Signal zu geben. „Ich hoffe, dass du mit den Informationen, die sie dir im Gegenzug gegeben hat, etwas anfangen konntest?“
„Oh ja!“ Er lachte. „Damit konnte ich einigen Leuten ganz ordentlich auf die Füße treten.“
„Dann hatten wir ja alles was davon“, lächelte sie und knöpfte ihren Mantel zu, als Peter vor ihrer Haustür hielt. „Wir telefonieren morgen?“
„Ja, grüß Jackie von mir, wenn du zu ihr gehst. Sie hat heute übrigens besser gegessen.“ Er küsste Alicia auf die Wange. „Und ruh dich noch ein bisschen aus heute.“
„Das werde ich“, versprach sie und winkte ihm zum Abschied.
Seit einer Stunde hatte es wieder angefangen zu schneien, und Alicias hochhackige Schuhe waren denkbar ungeeignet für die vereisten Bürgersteige, deren Zustand durch den darüber liegenden Neuschnee nicht gut zu erkennen war. Entsprechend vorsichtig schlitterte Alicia zum Hauseingang und war froh, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. In ihrer Wohnung angekommen, warf sie sofort ihren Mantel auf den Garderobenhaken, zog ihre Schuhe aus und begab sich auf Strümpfen zum Telefon.
„Hi Alicia.“ Kalinda war nach dem ersten Klingeln am Apparat. „Wie war die Veranstaltung?“
„Öde.“ Allein der Klang der vertrauten Stimme, ließ Alicias Herz höher schlagen, und sie ließ sich seufzend auf einem der Esszimmerstühle nieder. „Und Mike hat sich mal wieder unmögliche Sprüche erlaubt.“
„Ich weiß, ich hab’s gesehen.“
Alicia musste lächeln. Die Vorstellung, dass Kalinda ihre Veranstaltung im Fernsehen verfolgt hatte, war irgendwie absurd. Schließlich hatte sie sie noch ein paar Stunden zuvor durch ihr Verhalten aus dem Haus gejagt. „Du wolltest nochmal reden?“, sagte sie möglichst sachlich.
„Ja.“ Kalinda räusperte sich. „Ich wollte mich entschuldigen. Es tut mir leid, was heute Morgen gewesen ist.“
Ihre Stimme klang gedrückt, und etwas in Alicia schmolz dahin und war sofort bereit, ihr auf der Stelle zu vergeben. Aber sie wusste, dass sie so nicht weiterkommen würden. „So geht das nicht, Kalinda“, sagte sie stattdessen. „Das Mindeste, was wir brauchen, ist ein respektvoller Umgang miteinander.“
„Ich weiß, ich wollte dich nicht verletzen, Alicia. Das war wirklich nicht meine Absicht.“ Kalinda machte eine Pause, und Alicia war sich nicht sicher, ob sie erwartete, dass sie jetzt etwas sagte. Aber was sollte sie dazu sagen? Ihr war ja klar, dass Kalinda nicht böswillig gehandelt hatte. Das machte die Sache aber nicht besser. „Es war… anders mit dir als ich erwartet hatte“, fuhr Kalinda fort. „Ich denke, ich brauche etwas Abstand.“
Obwohl sie verstand, wie Kalinda es meinte, trafen Alicia die Worte mitten ins Herz. Abstand wollte sie? Wieso rief sie dann an? Aber wahrscheinlich hatte sie recht. Wahrscheinlich brauchten sie wirklich Abstand voneinander. Doch nichtsdestotrotz hatte sie wider besseren Wissens gehofft, dass Kalinda das Gegenteil vorschlagen würde. „In zwei Wochen bin ich mit Peter auf Wahlkampftour“, sagte sie und versuchte gar nicht erst, ihre Verletzung vor Kalinda zu verbergen. „Da wirst du jede Menge Abstand haben.“
„Alicia…“ Kalinda zögerte. „Ich möchte nicht, dass du denkst…“ Sie stockte wieder und begann noch einmal von vorn. „Es war sehr schön mit dir. Wirklich“, sagte sie ernst. „Ich möchte, dass du das weißt.“
„Das ging mir genauso.“ Alicia biss sich auf die Lippen, um nicht noch mehr zu sagen. Mehr Worte würden zu nichts führen.
Eine Weile schwiegen sie beide. „Also gut…“, unterbrach Kalinda schließlich die Stille. „Dann sehen wir uns morgen.“
„Ja.“ Alicia fürchtete plötzlich den Moment, wenn Kalinda auflegen würde, aber es gab nichts mehr, womit sie das Telefonat hinauszögern konnte. „Ich werde dich vermissen“, sagte sie leise.
„Ich weiß. Dann bis morgen, Alicia.“
Ein Klicken im Hörer, und dann war Stille.
To be continued...