„Von Spatzen und Tauben“
Disclaimer 1:
Hallo, ich habe mal wieder versucht, was zu schreiben . Die folgende Geschichte spielt sich Endes dieses Jahrhunderts ab und ist das Ergebnis eines Dilemmas: Aus meiner Feder (bzw. meiner Tastatur) scheint nämlich nur Canna-Fanfic herauszukommen, obwohl es definitiv noch andere attraktive Konstellationen gibt, wie in diesem Forum täglich demonstriert wird. Wie dem auch sei, leider habe ich in einer anderen Geschichte („Ambrosia“) bereits gesagt, was ich dazu sagen wollte. Was also tun? Um einer Schreibhemmung zu entgehen, bin ich ins „Über-Genre“ gewechselt, und hoffe mal vorsichtig, dass die Geschichte trotzdem gefällt. Falls ihr noch nichts von Über-Fiction gehört habt, macht das nichts, denn ihr werdet schnell herausfinden, worum es geht.
Disclaimer 2:
Gestern fuhr ich mit einem Taxi zum Bahnhof und hatte einen sehr sympathischen Fahrer mit stark arabischem Akzent, der mir unter anderem erzählte, dass er letzte Woche einen Millionär gefahren hätte. „Aber ich kann einfach nicht mit reichen Leuten“, erklärte er mir. „Der Mann war sehr nett und hat mich und meine ganze Familie zum Essen eingeladen. Ich habe selbstverständlich abgesagt. Er hat es sicher gut gemeint, aber ich bin nur ein Spatz, und er ist eine Taube. Haben Sie schon einmal einen Spatz und eine Taube gemeinsam fliegen gesehen? Das funktioniert nicht, glauben Sie mir.“ Ich saß längst im Zug, als ich noch über seine Worte nachdenken musste. In der Tat habe ich noch nie einen Spatz und eine Taube zusammen fliegen gesehen, und selbst in den Märchen entpuppen sich die Spatzen immer noch rechtzeitig als Tauben, bevor es in einer Katastrophe enden könnte. Dennoch glaube ich, dass die Natur immer für eine Überraschung gut ist. Und deswegen handelt die folgende Geschichte von Spatzen und Tauben.
Cover: vannyheart (1000 Dank!)
Kapitel 1:
„Ich glaube, eben hättest du rechts abbiegen müssen.“ Anna blinzelt gegen sie Sonne auf das Navigationsgerät in Armaturenbrett. „Die nächste Abbiegemöglichkeit ist erst 100 Meter weiter.“ Sie band ihren braunen Haarschopf zu einem Pferdeschwanz zusammen, während sie versuchte, die Zeichen auf dem Bildschirm nachzuvollziehen.
„Bist du sicher?“ Ihre Freundin Yvonne warf einen nervösen Blick in den Rückspiegel. „Wie soll man wissen, welche von den vielen Straßen gemeint ist?“
„Berlin und Navi-Geräte haben sich noch nie vertragen“, seufzte Anna. „Nimm einfach die nächste rechts, und wir werden sehen, wo wir hingeführt werden.“
„Na, du hast ja die Ruhe weg“, murmelte Yvonne. „In einer halben Stunde müssen wir in dieser Villa sein, und die Chefin schätzt es nicht, wenn man zu spät kommt.“
„Sie schätzt es auch nicht, wenn wir bei der Arbeit mit offenen Haaren herumlaufen.“ Anna nahm ein zweites Haarband aus dem Handschuhfach und versah Yvonne blondes Haar ebenfalls mit einem Pferdeschwanz. „Sie wird heute sicher besonders viel auszusetzen haben, perfektionistisch wie sie ist. Da müssen wir es nicht auch noch drauf anlegen.“
„Ich kann nichts sehen, wenn du mit deinen Ellenbogen vor meinem Gesicht herumfuchtelst.“ Yvonne schob Annas Arme lachend zur Seite. „Willst du, dass ich uns in den nächsten Graben chauffiere?“
„Ohne dem Außenminister einen Prosecco und ein Kaviarschnittchen gereicht zu haben? Kommt nicht in Frage“, protestierte Anna. „Heute ist der unumstrittene Höhepunkt meiner Karriere im Catering-Service.“
„Meiner auch, und ich bin schon drei Jahre dabei.“ Yvonne zupfte ihren schwarzen Rock zurecht, als sie vor eine roten Ampel hielten. „Ich freue mich schon darauf, in meinen Lebenslauf schreiben zu können ‘Catering beim Außenminister Matthias von Bentheim anlässlich der Taufe seiner Tochter‘.“ Sie machte eine dramatische Pause. „Du wirst sehen, Anna, bald steht meiner eigenen Catering-Firma in Österreich nichts mehr im Wege.“ Yvonnes Freund wohnte in Tirol, und die beiden träumten seit Jahren davon, endlich gemeinsam an einem Ort leben zu können.
„Das würde ich dir sehr wünschen“, lächelte Anna und sah zufrieden auf den Navi, dessen Bildschirm nun wieder überschaubarere Straßenverhältnisse zeigte. „Ich weiß ja, wie lange du schon darauf hinarbeitest.“
Yvonne warf ihr einen Seitenblick zu. „Nicht so lange, wie du auf eine gute Stelle als Kinderärztin wartest“, sagte sie und tätschelte Annas Schulter. „Vielleicht wird es ja was mit deiner Bewerbung bei der Charité.“
„Es sind ja auch nur 120 Bewerber auf die Stelle.“ Anna verzog das Gesicht. „Da habe ich sicher gute Chancen.“ Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schaute aus dem Fenster. Sie waren bereits in dem Villenviertel angekommen, in dem der Minister wohnte, und in dieser von Bäumen umsäumten Straße war ein Haus war schöner als das andere. Die Gärten waren eine wahre Pracht, allerdings lagen die meisten hinter dicken Mauern und Gartentoren versteckt. Wer hier wohnte, brauchte sich um seine Zukunft keine Sorgen zu machen. „Ich wünschte, ich hätte vor hundert Jahren gelebt, als man sich nach Ärzten noch die Finger geleckt hat“, seufzte Anna. „Dann müsste ich mich jetzt nicht von Frau Hoffmann durch die Gegend scheuchen lassen.“
„So schlimm ist sie nun auch wieder nicht.“ Yvonne unterbrach sich, als ihr Navigationsgerät ‘Noch 800 m‘ anzeigte. „Hier muss es irgendwo sein.“
In Schrittgeschwindigkeit rollte Yvonnes Renault an den großzügigen Häusern vorbei, bis endlich die unscheinbare Auffahrt auftauchte, die Frau Hoffmann ihnen beschrieben hatte. An der Eingangspforte zum Grundstück standen zwei Sicherheitsbeamte und verlangten Firmenausweis und Personalausweis, bevor sie ihren Wagen auf die mit Kieselsteinen umsäumte Zufahrt zum Haus durchließen. „Alle Achtung, Herr von Bentheim hat Geschmack“, sagte Anna staunend und ließ das Beifahrerfenster herunter, um das Grundstück besser betrachten zu können. „Das hätte ich dem Mann gar nicht zugetraut.“
„Die Gartenanlage hat bestimmt seine Frau entworfen.“ Yvonne zuckte mit den Achseln. „Für sowas sind doch immer die Frauen von Ministern zuständig, oder nicht?“
„Keine Ahnung, du bist doch diejenige, die seit drei Jahren bei ‘Hoffmann & Hoffmann‘ angestellt ist, nicht ich.“ Anna sah nervös zum Eingang der Villa empor, als sie die Tür des Wagens öffnete. „Hoffentlich gieße ich keinem Gast seinen Prosecco über die Hose.“
„Ach was.“ Yvonne überprüfte noch einmal ihre Frisur im Rückspiegel, bevor sie ausstieg. Wie bei jedem Einsatz mussten sie alle eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock tragen, auf dem das rote Emblem der Firma eingenäht war. „Die Taufe eines Ministerkindes ist auch nicht anders als die Hochzeit eines Bürgermeisters, und Frau Hoffmann hätte dich nicht eingeteilt, wenn sie es dir nicht zutrauen würde.“
Anna warf ihrer Freundin einen dankbaren Blick zu. „Dann mal auf in den Kampf“, sagte sie und schritt entschlossen die Treppen zum Hauseingang herauf. „Die Hoffmann ist bestimmt schon am Herumkommandieren.“
Statt einer Begrüßung erhielten Anna und Yvonne nur ein Kopfnicken von der Chefin, gefolgt von einer salvenartig vorgetragenen Einweisung in die Räumlichkeiten. „Yvonne, Sie bedienen im Empfangsbereich zusammen mit Mandy, und Anna kümmert sich um die Gäste auf der Terrasse gemeinsam mit Raphaela und Bettina", schloss Frau Hoffmann ihre Anweisungen. „Und ein bisschen Beeilung bitte. Die Gäste werden in einer Stunde von der Kirche zurück sein.“
Anna war froh, als sie ihre Kolleginnen Raphaela und Bettina auf der Terrasse erblickte, denn diese hatte ungefähr das Format der Vierzimmer-Wohnung, in der Yvonne und Anna wohnten. Außerdem handelte es sich bei Raphaela und Bettina um zwei sehr nette, erfahrene Kolleginnen, beide Mitte Vierzig, die niemals in Hektik gerieten, und Anna sicher helfen würden, wenn sie eine Frage hatte. „Habt ihr den Minister schon gesehen?“, erkundigte sich Anna, als sie sich zu Raphaela gesellte.
„Nein.“ Raphaela schüttelte den Kopf und drückte Anna einen Stapel Suppenteller in die Hand. „Aber seine Frau war kurz hier und hat uns ihre Wünsche mitgeteilt.“
„Und?“ Anna stellte die Teller zu dem Besteck, das sich schon auf der rechten Seite des Buffets-Tisches befand.
„Sie möchte, dass wir von Beginn an Getränke reichen, aber das Buffet auf der Terrasse wird erst dann abgedeckt, wenn alle Reden gehalten sind.“
„Und Frau Hoffmann will trotzdem, dass wir die ganze Zeit hier draußen bleiben?“ Anna dachte an Yvonne, die gleich im Empfangsraum stehen musste, um den Gästen ein Glas Prosecco anzubieten. Sicher würde diese dankbar für jede Entlastung sein.
„Ja, sie hat es so angeordnet, und ich werde den Teufel tun, irgendetwas anders zu machen.“
„Und wie war sie so?“ Anna stapelte die restlichen Teller übereinander.
„Die Ministergattin? Ein bisschen nervös, aber wer ist das nicht, wenn man dreihundert Gäste empfängt.“
„Bildschöne Frau“, ergänzte Bettina. „In natura sieht sie noch besser aus als im Fernsehen.“
Anna lachte. „Unser Außenminister sieht auch nicht schlecht aus. Die beiden geben ein schönes Paar ab.“
„Ja, den würde ich nicht von der Bettkante stoßen“, grinste Raphaela.
„Ich würde jeden von der Bettkante stoßen, der mit Politik zu tun hat.“ Anna schüttelte den Kopf. „Mit deren schmutzigen Geschäften will ich nichts zu tun haben.“
Bettina stimmte ihr zu. „Wurde jedenfalls Zeit, dass uns die Politik auch mal was fürs Auge bietet.“ Sie senkte ihre Stimme. „Das Gelabere ist schwer genug zu ertragen.“
Gemeinsam bauten sie den Rest des Buffets auf und begaben sich dann ins Haus, um mit den anderen Kolleginnen auf die Ankunft der Gästeschar zu warten. Es dauerte nicht lange, da fuhren die ersten Autos durch die Pforte, und alle Service-Kräfte begaben sich schleunigst an ihre Plätze. Die Kunst des Caterings bestand darin, sich so unauffällig wie möglich zu bewegen und gleichzeitig überall präsent zu sein. Diese Erfahrung hatte Anna gleich an ihrem ersten Arbeitstag machen müssen. Auch wenn man noch so sehr versucht war, in der Nähe eines prominenten Gesichtes zu verweilen, es galt stets, die Übersicht zu behalten und jeden Gast mit derselben zuvorkommenden Höflichkeit zu behandeln.
Aufgrund des schönen Wetters strömten die meisten Gäste, kaum waren sie angekommen, sofort auf die Terrasse und in den Garten, so dass Anna und ihre Kolleginnen alle Hände voll zu tun hatten, um jeden mit Sekt oder Orangensaft zu versehen. Der Spuk ging allerdings genauso schnell vorbei wie er gekommen war, denn als im Haus die Reden begannen, leerte die Terrasse sich innerhalb von wenigen Minuten. Anna und ihre Kolleginnen waren nun wieder allein und hatten Zeit, die Ruhe vor dem Sturm zu nutzen, um die nächsten Vorkehrungen zu treffen. Von drinnen drang gelegentlich Applaus oder Gelächter zu ihnen und ab und zu auch das Plärren eines Babies, vermutlich das der gerade getauften Tochter der von Bentheims, der die Sache deutlich zu langweilig wurde.
Die zahlreichen Ansprachen zogen sich endlos hin, vielleicht weil viele Gäste aus der Politik kamen und sich gern reden hörte, aber schließlich ertönte dann doch der Schlussapplaus, und Anna und Bettina beeilten sich, die Abdeckfolien vom Buffet zu entfernen. Innerhalb von fünf Minuten war es wieder so voll auf der Terrasse, dass die Gäste ihre Teller teilweise in die Höhe halten mussten, um nicht mit ihren Nachbarn zusammenzustoßen. Im Garten wäre Raum genug gewesen, aber offenkundig wollte jeder in der Nähe des Buffets bleiben, um nicht zu kurz zu kommen. Anna und ihre beiden Kolleginnen versuchten, sich so geschickt wie möglich durch die Menschenmenge zu schlängeln, um Gläser einzusammeln und Getränke zu reichen, aber die Leute waren teilweise so achtlos, dass sie nicht einmal Platz machten, wenn Anna an ihnen vorbei wollte. Und schließlich geschah das Unvermeidliche: Sie war gerade dabei, einem älteren Herrn ein Glas Orangensaft zu reichen, da bekam sie einen heftigen Stoß von hinten, das Glas fiel ihr aus der Hand, und der Orangensaft ergoss sich über den Ärmel ihrer weißen Bluse. Anna stammelte eine Entschuldigung zu ihrem Gast und reichte ihm ein neues Glas, bevor sie hastig ihr Tablett abstellte. Als sie sich bückte, um die Scherben aufzusammeln, stieß sie fast mit einem blonden Lockenkopf zusammen, der über die Scherben gebeugt war. „Oh, Verzeihung“, stammelte Anna noch einmal, aber der Rest des Satzes blieb ihr im Halse stecken, als die Frau, die vor ihr am Boden kniete, den Kopf hob und Anna in ihr die Gastgeberin erkannte.
„Nein, ich muss mich entschuldigen“, sagte Frau von Bentheim und sah entsetzt auf Annas Bluse. „Ich habe nicht gesehen, dass Sie hinter mir standen.“
„Kein Problem“, wehrte Anna ab und versuchte, sich mit den aufgesammelten Scherben in ihrer Hand zu erheben, ohne jemanden zu verletzen. „Haben Sie irgendwo Kehre und Schaufel?“
„Darum müssen Sie sich nicht kümmern, ich sage unserem Personal Bescheid.“ Frau von Bentheim war schon dabei, einen jungen Mann zu sich zu winken.
„Vielen Dank.“ Anna begutachtete ihren Ärmel und sah hilflos zu Raphaela hinüber. So konnte sie unmöglich die Gäste bedienen. Aber Raphaela zuckte nur mit den Schultern und deutete mit dem Daumen nach drinnen zu Frau Hoffmann. Anna schüttelte unmerklich den Kopf. Sicher würde die Hoffmann ihr die Schuld an dem Zusammenstoß geben, und sie könnte sich gleich am nächsten Tag die Kündigung abholen.
Frau von Bentheim schien der stumme Dialog der beiden Service-Kräfte nicht entgangen zu sein, denn sie machte Anna einen überraschenden Vorschlag. „Das Einfachste wird sein, wenn Sie kurz mit mir mitkommen“, sagte sie an Anna gewandt. „Eine weiße Bluse sollte ich noch haben.“
Anna wollte protestieren, aber entschied sich dann dagegen. Sie brauchte diesen Job, und es wäre töricht, das Angebot der Hausherrin aus Bescheidenheit abzulehnen. Also trottete sie hinter der Ministergattin her ins Innere des Hauses. Interessanterweise machten die Gäste nun gleich im Vorhinein Platz und bildeten eine geräumige Gasse, als wäre Frau von Bentheim Israel, der das rote Meer teilte. Anna brauchte nur dicht hinter Frau von Bentheim zu bleiben, um mit niemandem zusammenzustoßen.
Als sie die Gästeschar hinter sich gelassen hatten und Frau von Bentheim vor ihr die Treppe zu den Privaträumen hochging, fragte sich Anna, wie ihr eine Bluse von dieser Person passen sollte. Fraue von Bentheim war ein ganzes Stück größer als Anna und die Ärmel der Bluse würden sicher zu lang sein. Anna war einen verstohlenen Blick auf den Rücken der Hausherrin. Wie Frau von Bentheim es wohl fertig brachte, sich eine solche Traumfigur zu bewahren bei all den Businessessen, zu denen sie bestimmt andauernd eingeladen war.
Anna war so in Gedanken, dass sie gar nicht mitbekam, dass die Ministergattin sie ansprach. Erst als diese stehenblieb, so dass Anna fast ein zweites Mal mit ihr zusammenstieß, hob Anna ihren Blick. „Entschuldigen Sie bitte, haben Sie etwas gesagt?“, fragte sie errötend.
„Wir müssen einmal am Kinderzimmer vorbei“, wiederholte Frau Bentheim. „Bitte seien Sie leise, damit meine Tochter nicht aufwacht.“
„Selbstverständlich.“ Anna zog sofort ihre Schuhe aus und folgte Frau Bentheim leise, mit den Schuhen in der Hand, durch den Flur. Sie verfluchte innerlich jedes Knacken, das die Holzdielen unter ihr verursachten. Das fehlte noch zu ihrem Glück, dass sie jetzt das Kind aufweckte.
„Hier ist es“, sagte Frau von Bentheim leise und blieb stehen. „Wenn Sie hier kurz warten würden.“
Anna nickte und verharrte gehorsam auf dem Flur. Befand sich hinter dieser Tür etwa das Schlafzimmer des Außenministers? Yvonne würde ausflippen, wenn sie ihr davon erzählte.
Eine ganze Weile geschah gar nichts und Anna bekam langsam Angst, dass Frau von Bentheim sie vergessen haben könnte. Aber schließlich tauchte ihr blonder Lockenkopf wieder in der Tür auf. „Wenn Sie mir doch kurz folgen würden“, sagte sie und räusperte sich. „Ich weiß nicht recht, was Ihnen passen könnte.“
Wie Anna vermutet hatte, trat sie in das Schlafzimmer des Ehepaares ein, doch Frau von Bentheim führte sie rasch in einen Nebenraum, der sich als riesiger begehbarer Kleiderschrank entpuppte. Über einer Stuhllehne hingen sechs weiße Blusen übereinander. „Am besten, Sie probieren selbst aus, welche sich am besten eignet“, sagte Frau von Bentheim und ließ Anna in dem Zimmer allein, damit diese sich umziehen konnte.
Anna wusste gar nicht, wo sie hinsehen sollte. Sie war umgeben von den schönsten Kleidern, aber dieser Ort war viel zu privat, um sich hier umzuschauen. Offenbar vertraute ihr Frau von Bentheim, dass sie sich wirklich nur schnellstmöglich umziehen würde, um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Also begutachtete Anna hastig die verschiedenen weißen Blusen und entschied sich für diejenige, die ihrem Arbeitskostüm am ähnlichsten sah.
„Ich glaube, so sollte es gehen“, informierte sie die Ministergattin, als sie in neuem Outfit ins Schlafzimmer zurücktrat. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken kann.“
„Die Bluse steht Ihnen gut.“ Zum ersten Mal lächelte Frau von Bentheim. Es war ein bezauberndes Lächeln, und Anna hatte den Eindruck, als erhellte es den ganzen Raum. Himmel, war diese Frau schön. „Das ist doch das Mindeste“, sagte Frau von Bentheim schlicht. „Es war schließlich meine Unachtsamkeit, die Sie in diese Situation gebracht hat, und ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen Schwierigkeiten bekommen.“
„So ein Unglück kann bei dem Gedränge rasch passieren.“ Anna beeilte sich, ihre befleckte Bluse zusammenzulegen, um die Zeit der Gastgeberin nicht noch mehr in Anspruch zu nehmen. „Selbstverständlich bekommen Sie Ihre Bluse gewaschen und gebügelt zurück“, versicherte sie. „Oder möchten Sie sie lieber zurückhaben, bevor ich Ihr Haus verlasse?“
„Machen Sie es, wie Sie wollen.“ Frau von Bentheim schaute auf ihre Armbanduhr. „Ich muss wieder zu meinen Gästen zurück.“
„Ja natürlich, es tut mir leid, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.“ Anna folgte Frau von Bentheim aus dem Schlafzimmer. Die Schuhe in der linken und die fleckige Bluse in der rechten Hand schlich Anna hinter Frau von Bentheim durch den langen Flur. Diese beschleunigte ihren Schritt, als sie am Kinderzimmer vorbeikamen und von dort ein Weinen zu vernehmen war. Rasch öffnete sie die Tür zum Kinderzimmer und lief zum Bettt ihrer Tochter.
Anna blieb unentschlossen in der Türschwelle stehen. Sollte sie allein nach unten ins Erdgeschoss gehen? Was würden die Gäste denken, wenn sie die Treppe von den Privaträumen herunterkam? Aber wenn sie hier stehenblieb, kam sie sich vor wie eine Voyeuristin.
Frau von Bentheim nahm ihre Tochter aus ihrem Bettchen und redete behutsam auf sie ein, während sie sie in ihrem Armen zu wiegen begann. Anna konnte nicht sagen, was es war, aber irgendetwas an diesem Anblick rührte sie tief. Vielleicht war es die Tatsache, dass diese intime Geste in einem so krassen Gegensatz zu der pompösen Veranstaltung unten im Erdgeschoss stand. „Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte Anna, als sie die Sorgenfalten auf der Stirn der Mutter bemerkte.
Frau von Bentheim sah überrascht auf. Offenbar hatte sie nicht bemerkt, dass Anna noch da war. „Sonja weint heute so viel“, sagte sie zögernd. „Ich weiß nicht, ob es die ganze Unruhe ist, oder ob sie etwas anderes hat.“
„Darf ich mir Ihre Tochter einmal ansehen?“, fragte Anna. „Ich bin Kinderärztin.“
„Und was machen Sie dann bei einer Catering-Firma?“ Frau von Bentheim hob erstaunt die Augenbrauen.
„Es gibt zu viele Ärzte in Berlin“, erklärte Anna lächelnd. „Ich bin zurzeit ohne Arbeit.“
„Also, wenn Sie sich meine Sonja mal ansehen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“ Frau von Bentheim reichte Anna ihre Tochter.
Anna legte das weinende Kind vorsichtig in sein Bettchen zurück, um es zu untersuchen. „Hatte Ihrer Tochter in der letzten Zeit eine Erkältung?“, fragte sie, während sie die winzigen Lymphknoten abtastete.
„Ja, die ist glücklicherweise gerade abgeklungen. Warum?“ Frau von Bentheim sah sie ängstlich an.
„Ihre Tochter hat erhöhte Temperatur. Mir fehlen die notwendigen Geräte für eine sichere Diagnose, aber ich befürchte, dass sich eine Mittelohrentzündung anbahnt. Ich rate Ihnen, einen Arzt aufzusuchen. Es könnte sein, dass Ihre Tochter noch heute Nacht Fieber bekommt.“
„Was kann ich dann tun?“ Frau von Bentheim hob ihre weinende Tochter wieder aus dem Bettchen und nahm sie auf ihren Arm.
„Wenn sich die Diagnose bestätigt, wird Ihr Arzt Ihrer Tochter ein leichtes Schmerzmittel verschreiben, das gleichzeitig das Fieber senken wird. Falls nach ein paar Tagen keine Besserung eintritt, muss eventuell ein Antibiotikum eingesetzt werden.“
„Oh je.“ Frau von Bentheim seufzte. „Meinen Sie, ich sollte jetzt sofort einen Arzt aufsuchen?“
„Wenn Sie das morgen tun, reicht es allemal.“ Anna schüttelte den Kopf. „Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen, wie man Zwiebelwickel für die Ohren macht. Das bringt oft schon eine große Erleichterung für die Kinder. Und Sie haben ja heute noch ein Fest zu feiern.“
„In der Tat.“ Frau von Bentheim nickte stirnrunzelnd, und Anna konnte sehen, wie sie sich innerlich einen Ruck gab. „Ich muss mich wieder um die Gäste kümmern.“
Sie warteten zusammen, bis die kleine Sonja an der Schulter ihrer Mutter eingeschlafen war, und dann legte Frau von Bentheim sie zurück in ihr Bettchen. „Ich danke Ihnen…“, sagte sie, als sie leise das Kinderzimmer verließen. „Ich weiß gar nicht, wie Sie heißen.“
„Anna Nolte.“
„Carola von Bentheim.“ Frau von Bentheim reichte ihr die Hand. „Danke, Frau Nolte. Ich würde sehr gern wissen, wie man Zwiebelwickel macht.“
* * *
„Erzähl mir nichts, du hast nicht wirklich vor ihrem Kleiderschrank gestanden.“ Yvonne hatte Mühe, nicht von der Fahrbahn abzukommen.
„Nicht vor ihrem Kleiderschrank, sondern in ihrem Kleiderschrank“, lachte Anna und schnupperte am Ärmel ihrer Bluse. Das Kleidungsstück duftete genauso wie der Raum, aus dem es kam, aber Anna konnte nicht sagen, ob es ein Parfum oder etwas anderes war.
„Zeig mal her.“ Yvonne nutze eine Ampelpause, um das Etikett aus Annas Nacken zu ziehen. „Max Mara, wow! Kein Wunder, dass die Bluse so edel aussieht.“
„Nimm deine kalten Finger aus meinem Nacken, es ist grün.“ Anna wich lachend Yvonnes Händen aus.
„Schon gut.“ Yvonne machte ein Zeichen der Entschuldigung, als der Wagen hinter ihnen hupte. „Erzähl mal, wie ist sie denn so, unsere Ministergattin?“
„Ich weiß gar nicht…“ Anna runzelte nachdenklich die Stirn. „Erst war sie sehr distanziert, ist ja auch klar…“
„Und dann?“ Yvonne sah neugierig zu ihr herüber.
„Dann…“ Anna musste an den Moment denken, als Frau von Bentheim ihre weinende Tochter aus ihrem Bettchen gehoben hatte. Es war ein so inniger Augenblick zwischen den beiden gewesen, dass Anna sich fast dafür schämte, Zeugin dieser Szene gewesen zu sein. Als sie zusammen an dem Bettchen gestanden und über ihre Tochter gesprochen hatten, konnte Anna spüren, wie besorgt sie war und dass sie für jeden Radschlag dankbar war. Kurzentschlossen hatte Frau von Bentheim Anna in die Küche des Hauses geführt, um mit ihr die ersten Zwiebelwickel vorzubereiten. Frau von Bentheim schien sich nicht besonders gut auszukennen in ihrer eigenen Küche, aber immerhin war sie sich nicht zu schade gewesen, Anna beim Zerkleinern der Zwiebeln zu helfen, und so hatten sie beiden mit tränenden Augen in der Küche gestanden, während in den übrigen Räumen des Erdgeschosses lautstark gefeiert wurde. Möglicherweise waren die unfreiwilligen Tränen auf dem perfekten Make-Up der Grund dafür gewesen, dass diese schöne Frau, die vor der Kamera häufig so kühl und unnahbar wirkte, plötzlich sehr menschlich erschien, und Anna hätte sie am liebsten in den Arm genommen und ihr versichert, dass sie die Zwiebeln auch ohne sie schneiden könne. Doch selbstverständlich hatte Anna nichts gesagt, und so arbeiteten sie stumm Seite an Seite nebeneinander her.
Schließlich hatten sie mehrere Wickel gefertigt, die im Laufe der nächsten Stunden und Tage zum Einsatz kommen konnten, und waren dann noch einmal zu Frau von Bentheims Tochter hinaufgegangen, damit Anna demonstrieren konnte, wie man mit den Wickeln verfahren sollte. „Vielen Dank für alles“, hatte Frau von Bentheim gesagt. „Ich hoffe, Ihre Chefin wird nicht allzu verstimmt sein, dass ich Sie so lange in Anspruch genommen habe.“
Anna konnte gar nichts sagen. Sie fand, dass Frau von Bentheim mit ihrem verschmierten Make-Up noch viel schöner aussah. Die Farben ihrer Augen hatten ein tiefes Blau, das Anna im Fernsehen nie aufgefallen war, und wenn sie so dicht vor einem stand, fühlte man sich darin gefangen.
„Was dann?“ Yvonne klopfte ungeduldig auf Annes Schulter. „Hallo? Jemand zu Hause?“
„Sorry…“ Anna setzte sich in ihrem Beifahrersitz auf. „Also dann habe ich ihr gesagt, dass ihre Tochter wahrscheinlich eine Mittelohrentzündung hat und ihr gezeigt, wie man Zwiebelwickel macht.“
„Ich glaub’s nicht.“ Yvonne tippte sich an die Stirn. „Und das alles, während wir uns die Arme lahm serviert haben…“
„Raphaela und Bettina waren ziemlich verärgert.“ Anna musste lachen, als sie sich an deren säuerlichen Blick erinnerte. „Aber ich kann ja nicht einfach der Hausherrin widersprechen, wenn sie mir einen Auftrag erteilt, oder?“
„Hat die Hoffmann von der ganzen Sache überhaupt was mitbekommen?“
„Ich glaube nicht, sonst hätte sie etwas gesagt.“
„Raphaela und Bettina halten garantiert dicht, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“
„Ich weiß, ich habe schon mit ihnen gesprochen. Sie haben eingesehen, dass ich nichts dafür konnte.“ Anna seufzte. „Außerdem war ich insgesamt bestimmt nicht länger als eine Dreiviertelstunde weg.“ In der Tat waren sie noch stundenlag im Einsatz gewesen, denn die Feier hatte sich bis zum Abend hingezogen. Anna hatte sich mehrfach dabei erwischt, wie sie insgeheim darauf wartete, dass Frau von Bentheim wegen irgendeiner Angelegenheit noch einmal auf sie zukam, aber natürlich geschah dies nicht. Nur zweimal noch hatte Anna die Gastgeberin zu Gesicht bekommen, beide Male an der Seite ihres Mannes, wieder perfekt geschminkt und mit dem freundlich-distanzierten Lächeln, das Anna aus dem Fernsehen kannte.
„Na, über das Zubereiten der Zwiebelwickel scheinst du dich ja ausschweigen zu wollen.“ Yvonnes Bemerkung riss Anna aus ihren Gedanken. „Bestimmt kocht die Frau schlechter als dein Ex-Mann und hat dich zur Geheimhaltung verpflichtet.“
„Die Zwiebeln werden nicht gekocht, sondern roh verwendet.“
„Wie auch immer, ich habe das dumpfe Gefühl, dass du mir nicht alles erzählst.“
„Was soll es da zu erzählen geben?“, fragte Anna unwirsch.
„Aha.“ Yvonne machte eine Pause und sah sie prüfend an. „Lass uns das Thema wechseln. Wie fandst du denn unsere neuen Lachspasteten?“
To be continued (wenn ihr wollt...)