Kapitel 100: Last Resort (part two)
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Er konnte sie nicht loslassen. Das Blut hatte seine Kleidung durchtränkt, seine Hände, seine Arme, sein Gesicht, alles war voller Blut, doch er konnte sie nicht loslassen. Noch immer schluchzend hielt er sie auf seinem Schoss, blickte in ihr helles, ebenmäßiges schönes Gesicht, das von den dunklen, ebenfalls blutgetränkten Haaren umrandet war. Sie war so schön, so wunderschön und selbst die Maske des Todes konnte ihrer Schönheit nichts anhaben. Vorsichtig strich er ihr über die Wange, die verklebten Haare aus der Stirn. Aus seinen Augen liefen die Tränen unaufhörlich sein Gesicht herunter und vermischten sich mit dem Blut Irinas. Ansgar hielt ihre leblose Hand in seiner und konnte nicht aufhören sie anzusehen. Er hatte Angst vor dem Moment, in dem die Polizei und der Notarzt eintreffen würden um seine Frau mitzunehmen. Er konnte es nicht ertragen. Sie waren doch so glücklich gewesen. Warum? Warum hatten sie nicht glücklich sein dürfen? Warum hatte Irina das Glück nicht verdient? In ihrem freudlosen Leben hatte sie so viel durchgemacht und dann wurde es ihr genommen, genau dann, als sie zum ersten Mal die Leichtigkeit des Lebens spürte. Warum? WARUM????? Ansgar schrie es heraus. „WARUM??? Warum, verdammt!“ Mit einer Mischung aus unendlicher Verzweiflung und dem Hass gegenüber der Person, die seiner Freundin das angetan hatte schrie er diese drei Worte heraus. Er hob Irina hoch und nahm sie in den Arm, so als würde sie noch am Leben sein. Vorsichtig als könnte er sie zerbrechen, drückte er sie an sich, verbarg seinen Kopf in ihrem dunklen Haar. Es kam ihm nicht seltsam vor oder widerlich sondern für einen Moment war es so als würde sie noch hier sein, bei ihm. „Warum?“, flüsterte er vor sich hin. „Ich habe dich so geliebt, liebe dich so.“ Seine Stimme erstarb. „Du bist für mich gestorben. Warum hast du das getan? Warum? Ich hätte es so viel mehr verdient. Ich hätte es verdient..“ Wieder fing Ansgar an zu schluchzen. Er sah den Moment vor sich als Irina sich vor ihn warf. Es war blitzschnell gegangen. Es war abgedrückt worden, mehrmals. Ihn selbst hatte nur ein Streifschuss getroffen. Irina war sofort tot gewesen. Der Schütze hatte sein Handwerk verstanden. Er hörte sich schreien als er begriff was geschehen war. Für einen Moment hatte er sich auf den Mann stürzen wollen, ihm die Waffe aus der Hand reißen wollen, ihn büßen lassen für das was er getan hatte. Doch er konnte nicht. Es hätte sie nicht zurückgebracht. Er hätte lediglich ihren Tod gesühnt. Doch im tiefsten Herzen seines Inneren wusste er, dass er mit Schuld war daran, dass Irina gestorben war. Durch ihn, Ansgar, durch seine Machenschaften und letztendlich sogar durch den Umstand, dass sie ein Paar wurden, war es soweit gekommen. Er selbst, Ansgar von Lahnstein hatte den Tod seiner Freundin mit zu verantworten. Das würde ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen. Es war, als dürfte er nicht glücklich sein. Es war, als würde er nun bezahlen für seine Intrigen, seine Machtgeilheit und seine Boshaftigkeit. Er hatte es nicht anders verdient. Er war ein schlechter Mensch. Vorsichtig legte Ansgar Irina zurück auf das Kopfkissen, strich ihre Haare erneut aus der Stirn. Er beugte sich vor. Zögerte einen Moment. Dann berührten seine Lippen ihre Stirn, küssten sie sanft. Seine Tränen tropften auf ihr Gesicht als er ihre Wangen streifte. Für einen Moment hielt er erneut inne, doch schließlich berührten seine Lippen auch ihren Mund. Es war der letzte Moment, den er noch mit ihr hatte. „Ich liebe dich, Irina“, flüsterte er ganz leise.
Dann nahm er sein Handy aus der Tasche und rief die Polizei.
Wieder und wieder sah er die Dunkelhaarige, wie sie sich vor Ansgar warf. Es lief wie eine Dauerschleife vor seinem geistigen Auge ab. Sie hatte ihn schützen wollen, sie hatte nicht gewollt, dass er starb. Wie groß musste diese Liebe sein, dass Irina bereit war, ihr eigenes Leben zu opfern? Wie sehr hatte sie seinen Cousin geliebt? Tristan von Lahnstein spürte fast so etwas wie Neid auf seinen Vetter. Er wurde geliebt, egal, was für ein Mensch er war. Oder war er am Ende gar nicht so ein schlechter Mensch wie alle dachten? Für was hatte Irina ihn geliebt? Gab es da etwas, dass ihn liebenswert machte und was war es?
Für was hatte Bella ihn, Tristan, geliebt? Hatte sie ihn überhaupt geliebt? Wäre sie bereit gewesen, ihr Leben für ihn zu opfern? Nein, Tristan war allein.
Er hatte niemanden.
Er war allein.
Sein Leben war vorbei. Er hatte jemanden getötet. Einfach abgeknallt. Ohne Skrupel. Er hatte Ansgar das Leben nehmen wollen. Sein Auftrag hatte "Irina" geheißen, nicht Ansgar. Er hatte die Polin töten sollen. Nun hatte Tanja ja doch das bekommen was sie wollte.
Sein Handy klingelte erneut. Dieses Mal ging er ran. Es war Bellas Stimme, die aufgeregt an sein Ohr rauschte. „Wo bist du?“ „Bella!“ Erleichterung klang in seiner Stimme mit. „Ich – ich bin auf der Rheinkniebrücke.“ „WAS? Was – was willst du da?“ Eine Vorahnung beschlich die Rothaarige. „Tristan, hör gut zu, was immer es ist, wir können über alles reden!“ Tristans Stimme war total ruhig als er erwiderte: „Es ist so schön deine Stimme zu hören, Bella.“ „Tristan! Tristan, du machst mir Angst!“, schrie Bella in den Hörer. „Ich liebe dich“, sagte der Dunkelhaarige. „Ich liebe dich auch Tristan! Immer schon! Hörst du? Ich liebe dich!“ Der junge Graf lächelte. Für einen Moment war er glücklich. Seine Bella liebte ihn, immer noch. „Tristan, hör mir jetzt zu. Ich bin in zehn Minuten da. Bleib wo du bist! Ich bleib am Telefon, solange bis ich bei dir bin!“ „Ich habe Irina umgebracht“, sagte Tristan unvermittelt und fast tonlos. Bella erschrak fast zu Tode, versuchte, ihrer Stimme nichts anmerken zu lassen als sie sagte: „Wir reden gleich, Tristan, alles wird gut, ich bin gleich da.“ „Und weißt du, was das Verrückte ist? Es war ganz leicht, ganz leicht. Ich hatte Ansgar töten wollen für all das was er mir angetan hat aber Irina ist dazwischen gegangen, sie hat Ansgar das Leben gerettet. Glaubst du das?“ Bella konnte nichts sagen, es ging einfach nicht. Zu geschockt war sie von dem was Tristan ihr erzählte. „Sie hat ihn so geliebt, Bella, so sehr, dass sie ihr Leben für ihn gelassen hat.“
Der Graf schwang ein Bein über das Geländer und blieb dann rittlings auf den Stangen sitzen, schaute in die Ferne. „Macht Liebe so etwas, Bella? Würdest du es tun? Für mich sterben?“ Bella brachte keinen Ton über die Lippen. „Bella? Würdest du es tun? Wie sehr liebst du mich?“ „Tristan, ich liebe dich über alles, ich bin gleich bei dir. Bitte, mach keine Dummheiten, bitte“, beschwörte sie ihn. Der Dunkelhaarige schwang auch das andere Bein über das Geländer und ließ dann beide Beine baumeln. Unter sich zur Rechten das glitzernde dunkle Wasser des Rheins, zur Linken das Ufer mit den Büschen und Sträuchern am Rande des Wassers. Ob die Brücke hoch genug war? Ob er gleich tot war? Oder ob er sich quälen würde? Oder ob es sicherer war sich über das Wasser fallen zu lassen? Er konnte nicht länger überlegen, denn ein Windstoß ließ ihn taumeln und er konnte sich grade noch am Geländer festhalten, sein Handy immer noch fest in der Hand. Das Telefon war die letzte Verbindung mit der Außenwelt und er war noch nicht bereit, diese aufzugeben.
„Bella?“, fragte er in den Hörer. „Ja?“, antwortete sie atemlos, den Wagen wie eine Irre durch die Straßen Düsseldorfs lenkend. „Ich bin froh für unsere gemeinsame Zeit.“ „Ja, das bin ich auch und es kann wieder so werden, hörst du?“ Tristan schwieg. „Tristan?“, fragte Bella panisch in den Hörer. „Ich bin noch da“, bestätigte er. „Ich bin gleich da“, wiederholte sie aufgelöst. „Wir beide, wir beide hatten etwas ganz Besonderes“, flüsterte er und erneut riss der Wind fast seine Worte von seinem Mund, so dass die Rothaarige ihn kaum verstehen konnte. „Wir haben etwas ganz Besonders, Tristan. Das haben wir noch immer. Egal, was passiert, ich werde immer zu dir halten.“ Wieder lächelte Tristan in die Dunkelheit hinein. Ein warmes Gefühl überkam ihn. Ein Gefühl nicht allein zu sein. Er sah Helena vor sich, wie sie sich von ihm verabschiedet hatte. „Du bist nicht allein. Wir sind zwei. Für immer.“ Für einen Moment verspürte er den Drang, seine Zwillingsschwester anzurufen, ihre Stimme zu hören, doch er wusste, dass nichts sie trennen konnte, nicht einmal der Tod. Sie waren eins. Für immer.
„Ich liebe dich mehr als mein Leben. Ich würde sterben für dich“, flüsterte er in den Hörer und Bella lief es eiskalt über den Rücken. „HÖR AUF, Tristan!!“, schrie sie in den Hörer. Mit quietschenden Reifen fuhr sie in die Kurve, sie befand sich jetzt kurz vor der Brücke. „Bonnie und Clyde. Ich habe die Vorstellung geliebt. Wir beide gegen den Rest der Welt.“ „Das sind wir auch immer noch, Bonnie und Clyde. Ich bin deine Bonnie und du mein Clyde!“ „Ja. Das sind wir. Immer noch“, wiederholte er. „Ich liebe dich Bonnie.“ Es kam ganz leise, nur gehaucht.
Ein Windstoß riss ihm das Handy aus der Hand. Es fiel in die Tiefe und zerschellte am Boden. Tristan schwankte und eine erneute Böe riss ihn vom Geländer. Geistesgegenwärtig schnellte seine Hand vor und er schaffte es, sich am Gitter festzuhalten.
„Tristan?? TRISTAN!!!!“, schrie Bella in panischer Angst. Sie schüttelte ihr Handy doch sie wusste, es war zwecklos.
„Nein!!“ Der Schrei gellte durch die Nacht, zerriss die Stille der dunklen Einsamkeit und wurde vom Wind in alle Richtungen verteilt. „NEEEEIN!!!“ Aufgerissene Augen, keuchender Atem, Tränen, die vom plötzlich aufkommenden Sturm fortgerissen wurden und noch einmal: „NEIIIIIIN!“ Es war vorbei.
Jetzt wusste sie, was dieser Alptraum zu bedeuten hatte.
Die Tränen rannen ihr übers Gesicht als sie auf die Brücke bog, das Gaspedal durchdrückte.
Er konnte sich nicht mehr halten und wollte sich nicht mehr halten. Er wollte fallen, einfach fallen, weich und warm. „Ich liebe dich, Tristan. Immer schon“, hörte er seine geliebte Bella in den Hörer rufen und ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Es war so schön. So schön“, flüsterte er.
Bella bremste den Wagen mit quietschenden Reifen und sprang aus dem Auto.
Tristan hörte sie seinen Namen rufen, immer und immer wieder.
„Ich liebe dich, Bella“, flüsterte er.
Dann ließ er los.
Ende
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