Kapitel 3:
„Ich bin in einer Besprechung, Seniora Sanchez. Richten Sie der Dame aus, dass ich sie zurückrufe.“
„Sie ruft aus Griechenland an, Frau von Lahnstein.“
„Von mir aus kann sie aus Timbuktu anrufen, Sie stellen bitte niemanden durch, wenn ich eine Besprechung habe, es sei denn, es geht um meine Tochter.“ Carla schüttelte ihren Kopf über das störrische Verhalten ihrer Sekretärin. Vielleicht war sie doch nicht so ein Glücksgriff gewesen, wie sie gehofft hatte. „Wo waren wir stehen geblieben, meine Herren?“, fragte sie in die Runde.
„Bei dem Karneval des Harlekins von Miró, Frau von Lahnstein.“
„Ganz recht, beim Karneval", nickte sie und setzte sich an den Konferenztisch zurück. Es war eine frustrierende Sitzung, in der es nicht vor und nicht zurückging. Im nächsten Jahr sollte hier in Barcelona eine riesige Miró-Ausstellung gezeigt werden, einschließlich seiner frühen Werke, doch die Versicherung wollte derart viel Geld für die Überführung der Bilder haben, dass man dem schon aus Prinzip nicht zustimmen konnte. Sie würde sich nicht zur Sklavin dieser Geier machen.
Auch nach drei weiteren Stunden war man nicht zu einer Einigung gelangt, und Carla schloss mit müder Stimme die Sitzung. „Lassen Sie uns nächste Woche noch einmal telefonisch konferieren“, schlug sie vor. „Bis dahin haben wir alle unsere Hausaufgaben gemacht.“
Ihre Idee erntete Zustimmung, und die Herren verließen unter vernehmlichem Gemurmel den Konferenzraum. Carla gähnte herzhaft, als sie sich an ihren Schreibtisch zurücksetzte. „Drei Kreuze, wenn dieser Tag zu Ende ist“, versprach sie dem Foto auf ihrem Schreibtisch. Ihre Stella lächelte zurück, als verstände sie, was Carla sagte, und als warte sie nur auf deren Feierabend. „Nur noch ein paar Telefonate, Sophia…“, flüsterte Carla und küsste das Mädchen in Stellas Armen. Seufzend stellte sie das Foto zurück an seinen Platz und durchforstete die Liste der Rückrufwünsche.
Carla drückte auf einen Knopf an ihrem Telefon. „Hat die Griechin ihr Anliegen genannt, Seniora Sanchez?“
„Leider nicht, Frau Gräfin.“
„Könnte es mit der Antiquitätenmesse in vierzehn Tagen zusammenhängen?“
„Ich kann es Ihnen nicht sagen.“
„Seniora Sanchez, bitte fragen Sie einen Anrufer grundsätzlich nach seinem Anliegen.“
„Jawohl, Frau von Lahnstein.“
Carla rollte mit den Augen, als sie das Gespräch beendete. Ihre neue Sekretärin war eindeutig überbezahlt. Sie klemmte sich den Hörer unter das Kinn und begann, eine Telefonnummer zu wählen, während sie mit der anderen Hand Verträge unterschrieb. „Guten Tag. Von Lahnstein hier. Mit wem spreche ich?“, fragte sie, als sich eine Frauenstimme am Telefon meldete.
„Nina Ryan ist mein Name.“
„Was kann ich für Sie…“ Carla unterbrach sich. „Sagten Sie Ryan?“
„Nina Ryan, ja. Sie kennen meine Mutter Elisabeth.“
„Kennen ist gut. Sie ist meine Schwiegermutter.“
„Ja, wir sind gewissermaßen verwandt.“ Die Frau am Telefon lachte. „Meine Mutter ist etwas geschlagen mit lesbischen Töchtern.“
„Sie verkraftet es ganz gut“, schmunzelte Carla.
„Na, bei Ihnen kann sie sich wenigstens nicht fragen, was sie falsch gemacht hat.“
„Hat sie das bei Ihnen? Mir gegenüber war sie immer sehr aufgeschlossen.“
„Jaja, das ist sie auch. Aber Sie kennen doch Mütter. Wer weiß schon, was die im Zweifelsfalle wirklich denken. Trotzdem habe ich sicher Glück gehabt mit ihr.“
„Wir beide“, lächelte Carla.
Nina Ryans Stimme wurde ernster. „Außerdem müssten Sie meinen Namen auch kennen, weil ich lange das ’No Limits‘ geführt habe.“
Das 'No Limits'.... Carla schloss die Augen, um die schmerzlichen Gedanken zu vertreiben. Wann würde das endlich aufhören? Ihr Blick wanderte zu dem großen Portrait neben der Tür. Sie hatte es sorgfältig restauriert und Stella gefragt, ob diese etwas dagegen hatte, wenn sie es in ihrem Büro aufhängte. Die hatte sie ohne Widerspruch gewähren lassen. Stella wusste, welchen Stellenwert Hanna in Carlas Leben gehabt hatte, und wie wichtig es ihr war, sie immer bei sich zu wähnen.
„Sind Sie noch da, Frau von Lahnstein?“
Carla räusperte sich. „“Ja, ich bin noch da. Wenn wir verwandt sind, sollten wir uns vielleicht duzen“, schlug sie vor. „Ich muss dich allerdings warnen. Ich habe überhaupt keine Zeit zu telefonieren.“
„Soll ich ein anderes Mal anrufen?“
Carla zögerte. Sie hatte wirklich keine Zeit. „Worum geht es denn?“, fragte sie widerstrebend.
„Ich brauche mindestens zehn Minuten“, warnte Nina. „Kann ich die haben?“
„Na gut, ich bin ganz Ohr“, gab Carla nach. „Womit kann ich dir helfen?“ Sie hörte wie Nina am anderen Ende der Leitung tief durchatmete. Offensichtlich wusste ihre Gesprächspartnerin nicht recht, wie sie anfangen sollte.
„Wir haben seit ein paar Jahren eine Freundin bei uns wohnen“, begann Nina. „Das heißt, sie wurde erst zu einer Freundin. Wir haben sie bei uns aufgenommen, weil sie eines Tages hier auftauchte und sich an nichts in ihrem Leben erinnerte.“
„Eine generalisierte Amnesie?“
„Ja, so nannte es die Therapeutin, die wir Isabelle empfohlen haben.“
„Isabelle? Ist das ihr Name?“
„Das wissen wir nicht.“ Nina hielt inne. „Entschuldige bitte ganz kurz.“
Carla hörte, wie Nina den Hörer hinlegte und etwas zu jemandem rief. Der Orangensaft geht zu Tisch zwei! Diese Art von Telefonaten kam Carla sehr bekannt vor, und sie musste unwillkürlich lächeln.
„So, da bin ich wieder“, rief Nina ins Telefon. „Also, unsere Freundin hat bis heute ihre Erinnerung nicht zurückerlangt. Ihre Therapeutin sagte uns schon vor Jahren, dass die Revision des Gedächtnisausfalls immer unwahrscheinlich wird, je länger die Amnesie andauert und je mehr neue Erfahrungen jemand in seiner neuen Identität macht.“
„Das ist schrecklich.“ Carla mochte sich gar nicht vorstellen, was ein Mensch aushalten musste, dem so etwas passierte. „Aber warum erzählst du mir das?“
„Manchmal denke ich, man sollte alles so belassen wie es ist, aber nach wie vor hat Isabelle fast jede Nacht Albträume. Wir können das hören, weil sie keine geschlossenen Räume verträgt und deswegen bei offener Tür schläft. Sicher zeigen die Träume, dass ihre Seele noch nicht aufgegeben hat. Sie kämpft immer noch um ihre Erinnerung. Manchmal spricht Isabelle im Schlaf, wenn sie die Träume quälen, aber man kann sie nicht verstehen.“
„Dann können die Erinnerungen ja nicht völlig weg sein“, überlegte Carla. „Sonst würden sie die Arme nicht des Nachts heimsuchen.“
„So sehe ich das auch.“ Aus Ninas Stimme sprach Erleichterung. „Aber am nächsten Tag kann sie sich regelmäßig an nichts erinnern, und das einzige, was wir nachts verstehen können, ist der Name ’Carla‘ .“
Carla lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Deswegen rufst du an?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist nicht dein Ernst.“
„Nein, deswegen nicht.“ Nina schwieg einen Moment. „Ich rufe an, weil sie letzte Nacht den Namen ‘Carla von Lahnstein‘ gemurmelt hat.“
„Meinen Namen? Bist du sicher, dass du dich nicht verhört hast?“ Carla runzelte die Stirn. „Nun ja, ich stehe nun mal in der Öffentlichkeit. Es gibt viele Menschen, die mich kennen, aber die ich nicht kenne.“
„Wäre es nicht wenigstens einen Versuch wert?“, drängte Nina. „Die Psychologin hat immer gesagt, dass nur etwas oder jemand aus ihrer Vergangenheit ihre Erinnerung anstoßen kann.“
„Wann sagtest du, ist sie zu euch gekommen?“
„Vor etwa fünf Jahren, im Jahre 2005. Carla, kannst du dich an irgendeinen Menschen aus deinem Umfeld erinnern, der verschollen ist?“
„Nein.“ Carla schüttelte den Kopf. „Ich möchte dir auf keinen Fall falsche Hoffnungen machen, aber da ich in vierzehn Tagen eh zu einer Antiquitätenmesse in Athen bin, könnte ich zumindest bei euch auf einen Sprung vorbeikommen. Und dann sehen wir weiter.“
„Das hört sich sehr gut. Allerdings leben wir auf Kreta, nicht in Athen.“
„Ich weiß, das wird kein Problem sein“, beruhigte sie Carla und ging schon mental ihren Terminplan durch. „Nicht zuletzt würde ich dich und deine Partnerin gern einmal kennenlernen. Elisabeth hat oft von dir und Erika erzählt.“
„Na, dann ist das ein Grund mehr, dass du einen kleinen Umweg über Kreta machst“, freute sich Nina. „Ich kann deiner Sekretärin die Einzelheiten noch durchgeben.“
„Oh, das erzähl am besten gleich mir“, lachte Carla. „Da kann ich sichergehen, dass die Information nicht verloren geht.“
* * *
„Was ist denn los? Du bist ja heute so anschmiegsam.“ Stella fuhr mit der Hand zärtlich durch Carlas Locken. „Haben sie dich heute geärgert?“
„Erinnere mich bloß nicht daran.“ Carla schmiegte sich enger in Stellas Arme. „Der Sawatzki ist so ein Sturkopf. Wenn wir den nicht dabei hätten, wäre die Miró-Ausstellung längst in trockenen Tüchern.“
„Kannst du dich nicht an die Konkurrenz wenden?“
„Wenn ich das mache, habe ich das letzte Mal mit Sawatzki Geschäfte gemacht. Ich kann ihn als Kunden nicht verlieren.“
„Das scheint ihm sehr bewusst zu sein.“
„Alter Macho“, brummte Carla. „Aber es gibt auch Erfreuliches zu berichten. Ich werde einen Tag länger in Griechenland bleiben, weil ich Nina Ryan und ihre Freundin besuche.“
„Elisabeths Tochter?“
„Genau die. Sie hat mich heute angerufen und will mich sehen.“
„Irgendwelche Hintergedanken?“ Stella wickelte eine blonde Locke um ihren Zeigefinger. „Habe ich Grund zur Eifersucht?“
„Wie man’s nimmt“, schmunzelte Carla. „Nina hat Kontakt zu einer Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat und meinen Namen im Schlaf murmelt.“
Stella lachte. „Ach weißt du, wenn ich auf alle Frauen eifersüchtig wäre, die nachts deinen Namen murmeln, dann würde ich ein ziemlich elendes Dasein führen.“
„Ach, ist das so?“ Carla küsste ihre Nasenspitze. „Ich finde, du gehst etwas sehr sorglos mit deiner Frau um.“
„Ich weiß, dass sie mich liebt“, lächelte Stella. „Das ist mir genug.“
„Das ist gut, dass du das weißt.“ Carla gab Stella einen Kuss auf die Stirn und erhob sich aus ihrem Schoß. „Lass uns schlafen gehen.“
„Weckst du Sophia morgen früh?“
„Natürlich, du hast sie ja schon ins Bett gebracht. Ist sie gleich eingeschlafen?“
„Nein, sie wollte immer wieder die Geschichte von der Ritterin Ohnefurcht hören.“
„Ja, das ist zurzeit ihre Lieblingsgeschichte.“ Carla lächelte bei der Vorstellung, wie Sophia ihre Stiefmutter mit allen Tricks zum Weiterlesen verführt hatte. Carlas Tochter war ihr ganzes Glück, und es zerbrach ihr das Herz, dass sie viele Stunden des Tages auf sie verzichten musste. „Du lässt dir ganz schön von ihr auf der Nase herumtanzen“, neckte sie Stella.
„Ich habe die Erziehung deiner Tochter voll unter Kontrolle“, protestierte Stella entrüstet. „Aber dich wickelt sie um den kleinen Finger.“
„Tut sie nicht.“
„Tut sie doch.“
* * *
Nina hörte lautstark Shakira, als sie mit ihrem kleinen Fiat in Richtung Flughafen brauste. Carla würde mit einem Privatjet kommen, und Nina hatte keine Ahnung, wo sie ihren Gast abfangen sollte. Zum Glück gab es Handys, so dass es kein Problem sein sollte, sich zu finden. Nina war bester Laune und voller Hoffnung, dass Carla von Lahnsteins Anwesenheit sie einen Schritt weiterbringen würde. Laut singend parkte sie ihren Wagen und schlängelte sich dann durch die Menschenmengen zum Eingang des Flughafens.
Kaum hatte sie das Innere des Gebäudes betreten, klingelte ihr Handy. „Carla?“
„Ja, ich bin’s. Ich stehe beim Rent-A-Car Stand. Wo bist du?“
„Schon auf dem Weg zu dir. Bin in fünf Minuten bei dir.“
Kurze Zeit später erspähte Nina ihren Gast. Carla war in die Unterhaltung mit einem Fluggast vertieft, der offensichtlich die Orientierung verloren hatte. „Wow!“, murmelte Nina. Diese Frau war eine Erscheinung. Noch viel schöner als auf den Fotos in der Presse. Mit ihren blonden Locken hatte sie etwas engelsgleiches, und wenn sie lächelte, erstrahlte das ganze Gesicht. Wäre Nina nicht schon bis über beide Ohren in ihre Erika verliebt gewesen…
Jetzt sah Carla auf und schien sie zu entdecken. „Nina!“, rief sie ihr entgegen und winkte.
„Willkommen auf Kreta“, sagte Nina herzlich und schüttelte Carla die Hand. „Woher wusstest du, wie ich aussehe?“
„Von den Fotoalben deiner Mutter“, lächelte Carla. „Und du?“
„Das ist jetzt keine erstgemeinte Frage, oder?“ Nina klemmte sich einen von Carlas Koffern unter den Arm. „Mein Wagen steht direkt am Ausgang.“
* * *
„Wie schön es hier schon im April ist“, staunte Carla, als sie in Ninas kleinem Fiat saßen. „Kein Wunder, dass die deutschen Touristen die Insel stürmen.“
„Man gewöhnt sich daran“, lachte Nina. „Außerdem will ich mich nicht beklagen, denn ich lebe schließlich davon.“
„Hast du in erster Linie Touristen als Gäste?“
„Ja, aber auch die Einheimischen kommen gern. Sie haben nur nicht genug Geld, um häufig Essen zu gehen. Manche kommen auch nur, um auf der Terrasse zu sitzen und etwas zu trinken.“
„Die Lage muss atemberaubend sein, ich habe mir deine Website angesehen. Und das Essen sah phantastisch aus.“
„Das freut mich. Erika hat die Internetseite gerade erst fertiggestellt. Es war übrigens ihre Idee, das Restaurant ‘Ninas Ambrosia‘ zu nennen. Sie behauptet, es gibt auf der ganzen Welt kein besseres Essen, aber sie ist natürlich nicht objektiv“, fügte Nina schmunzelnd hinzu. „Ich hoffe trotzdem, dass es dir gefallen wird. Wie war denn die Antiquitätenmesse?“
„Ganz hervorragend. Antiquitäten sind eine Leidenschaft von mir. Ich könnte mein Leben auch nur auf Antiquitätenmessen verbringen“, lächelte Carla.
„Das glaube ich dir gern.“ Nina ließ die Wagenfenster hochfahren und stellte die Klimaanlage an. „Entschuldige Carla, ich vergesse manchmal, dass mein Wagen eine Klimaanlage hat. Wenn Isabelle mitfährt, muss immer mindestens ein Fenster offen sein.“
„Wegen ihrer Klaustrophobie?“
„Ja, es wird eher schlimmer statt besser trotz der ganzen Therapie.“
„Ich dachte immer, Klaustrophobie sei sehr gut behandelbar?“
„Das ist auch so, aber Isabelle hat es vermieden, das Problem in der Therapie anzugehen. Die Psychologin geht stark davon aus, dass die Angst vor engen Räumen mit einem psychischen Trauma zusammenhängt, das vermutlich auch der Grund für die noch bestehende Amnesie ist. Normalerweise hält unsere Psyche eine solche Abspaltung nicht derart lange aufrecht.“
„Ist Isabelle noch in Behandlung?“
Nina schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat vor zwei Jahren damit aufgehört. Die Therapeutin hat gesagt, sie könne Isabelle erst dann helfen, wenn diese innerlich bereit sei.“
„Und das ist sie noch nicht?“
„Es sieht nicht so aus.“ Nina parkte ihren Wagen auf einem Wendehammer. „So, die letzten Meter müssen wir zu Fuß gehen. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus, Gräfin.“
„Hätten Sie das doch früher gesagt, Frau Ryan, dann hätte ich die Sänfte kommen lassen“, scherzte Carla und griff nach ihrem Gepäck. „Wie lasst ihr denn die Getränke liefern?“, fragte sie, während sie mit Nina den schmalen Pfad zu deren Zuhause hochstieg.
„So unpraktisch wie es aussieht, ist es nicht“, lachte Nina. „Man kommt von oben mit den Wagen an das Grundstück heran, aber dafür hätten wir einen großen Umweg fahren müssen.“
„Das erklärt, warum ihr nicht alle ein Bandscheibenleiden habt“, kommentierte Carla trocken. „Und du glaubst wirklich, es ist eine gute Idee, dass ich hier bin?“, kam sie auf ihr ursprüngliches Thema zurück. „Wenn eure Freundin noch gar nicht bereit ist, sich zu erinnern…“
„Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung“, gestand Nina. „Aber immer nur auf ein Wunder warten, ist auch keine Lösung.“
„Was soll’s, ich werde sie eh nicht kennen.“ Carla stellte ihre Koffer ab, während Nina die Haustür aufschloss.
„So, da wären wir.“ Nina öffnete die Tür sperrangelweit, damit Carla eintreten konnte. „Hallo Schatz, wir sind’s!“ rief sie laut ins Treppenhaus. „Erika hat sich für heute freigenommen“, erklärte sie Carla. „Damit sie dich kennenlernen kann.“
Carla hörte jemanden die Treppe herunterkommen, und dann stand Erika auch schon vor ihr. Auch sie kannte Carla schon von Fotos, auch wenn ihre Haare etwas dunkler und länger waren als auf den Bildern, die Carla gesehen hatte. „Es freut mich außerordentlich“, lächelte Carla und gab Erika die Hand.
„Und mich erst.“ Erika erwiderte ihren Händedruck und schloss sie dann in eine warme Umarmung. „Willkommen in unserem Zuhause“, sagte sie, sichtlich gerührt. „Möchten Sie vielleicht etwas trinken?“
„Du“, korrigierte Carla. „Und ja, vielen Dank. In der Tat wäre eine Tasse Kaffee jetzt genau das Richtige.“
„In Ordnung, Carla“, lächelte Erika. „Sollen wir dein Gepäck schon mal nach oben bringen?“
„Das erledige ich nachher selbst“, wehrte Carla ab. „Ich würde ehrlich gesagt lieber erst einmal eure Terrasse ausprobieren.“
„Sehr gern.“ Nina machte sich schon an der Kaffeemaschine zu schaffen. „Fühl dich hier wie zu Hause.“
Carla sah sich neugierig in dem Restaurant um. Man merkte es ihm an, dass Erika Grafikerin war. Die Ausstattung war ausgesprochen geschmackvoll und hatte nichts von einem spießigen Touristenlokal.
„Montag ist Ruhetag“, erklärte Erika, als sie Carla auf die menschenleere Terrasse führte. „Ansonsten wäre hier schon die Hölle los. Isabelle ist übrigens unten im Dorf und kauft Lebensmittel ein“, fügte sie hinzu.
Carla hatte nichts dagegen, dass sich die Begegnung mit der Unbekannten noch etwas hinauszögern würde. „Dann haben wir ja den Ausblick ganz für uns“, stellte sie zufrieden fest und atmete tief durch, als ihr die frische Meeresluft entgegenblies. „Schön habt ihr es hier“, sagte sie aus vollem Herzen.
„Ja, es ist unser Paradies“, bestätigte Erika nicht ohne Stolz.
„Und wir genießen es immer noch jeden Tag“, ergänzte Nina, die nun mit dem Kaffee auf die Terrasse kam. Sie rückten ein paar Stühle zurecht, so dass sie im Sitzen direkt auf das Meer und die dahinter liegend Bergkulisse schauen konnten.
Carla staunte, wie leicht es ihr fiel, sich mit dem beiden Frauen zu unterhalten. Fast fühlte es sich an, als säße sie mit alten Freundinnen zusammen, so unkompliziert und vertraut war es mit den beiden. Sie waren sehr interessiert an Carlas beruflicher Tätigkeit und an ihrem Leben in Barcelona, und natürlich wollte Nina alle möglichen Dinge über ihre Mutter wissen. „Und du bist inzwischen selbst Mutter, nicht wahr? Es fällt dir bestimmt nicht leicht, deine Tochter ein paar Tage nicht zu sehen.“
„Das ist wahr“, seufzte Carla. „Sie fehlt mir schon, wenn ich sie tagsüber nicht sehe. Ich verbringe so viel Zeit mir ihr wie möglich.“
„Passt jetzt deine Freundin auf sie auf?“
„Meine Frau“, korrigierte Carla lächelnd. „Stella und ich haben geheiratet.“
„Ihr glücklichen.“ Erika verdrehte die Augen. „Wir würden auch sehr gern heiraten, aber die gleichgeschlechtliche Ehe ist in Griechenland nicht erlaubt. Die Ehen von zwei Paaren, die es versucht haben, wurde erst kürzlich wieder annulliert.“
„Warum heiratet ihr nicht in Deutschland? Habt ihr keine doppelte Staatsbürgerschaft?“
„Darüber denken wir in der Tat nach.“ Nina streichelte Erikas Hand. „Auch wenn die Ehe hier nicht anerkannt würde.“
„Aber wenn einer von uns etwas passiert, könnten wir immer noch nach Deutschland zurückkehren und hätten mehr Rechte“, gab Erika zu bedenken.
Ein schepperndes Geräusch ließ sie alle drei aufschrecken. Als Carla sich umdrehte, sah sie ein Tablett auf dem Boden liegen, übersät mit Scherben und rotem Fruchtsaft, der sich auf den Steinen ergoss. In der Terrassentür stand eine junge Frau und starrte ihr entgegen. Dieses Gesicht… nein… es war unmöglich… es war ganz und gar unmöglich…
„Entschuldigt bitte, es tut mir leid.“
Carla wich alle Farbe aus dem Gesicht… Diese Stimme… es konnte nicht sein… sie sah Gespenster…
„Ist alles in Ordnung, Carla?“, hörte sie Erikas besorgte Stimme neben sich. „Geht es dir nicht gut?“
Carla rührte sich nicht. Sie starrte unverwandt an die Stelle, wo die Frau gestanden hatte, die jetzt wieder im Haus verschwunden war.
Nina sah zu Carla und dann zu Erika. „Ich helfe Isabelle beim Auffegen“, verkündete sie und begab sich ins Restaurant.
„Kennst du sie vielleicht?“, fragte Erika vorsichtig. Carla zuckte zurück, als Erika ihre Schulter berührte. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
„Das kann gar nicht sein“, flüsterte Carla. Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Beine sackten ihr weg.
„Was kann nicht sein?“
„Das… ist Hanna.“
„Welche Hanna?“
„Meine Hanna“, flüsterte Carla. Ihr war plötzlich speiübel. Sie taumelte, als sie erneut versuchte, sich zu erheben. „Entschuldige mich…“ Nur weg hier, nur weg…
* * *
„Was… Carla!“, rief Erika ihr nach, doch Carla schien sie nicht zu hören. Sie rannte den Gebirgspfad hinunter, als sei der Teufel hinter ihr her.
„Was war das denn eben?“ Nina lehnte ihren Besen an den Tisch. „Isabelle ist total verstört, Carla läuft weg. Was ist denn hier los?“
„Sie hat sie erkannt.“
„Meinst du wirklich? Was hat sie denn gesagt?“
„Dass Isabelle Hanna ist.“
„Welche…H…“ Nina unterbrach sich. „Hanna Novak?“
Erika nickte.
„Ach du scheiße.“ Nina ließ sich in einen Stuhl fallen.
Erika stand auf und legte ihre Arme um sie. „Ich glaube, vor uns allen liegt eine schwere Zeit.“
* * *
Carla spürte ihre Füße nicht mehr. Der Sonne nach zu urteilen musste sie schon Stunden am Strand langgelaufen sein, aber sie konnte weder stehenbleiben noch auf die Uhr schauen. Einfach weitergehen, weitergehen… Alles vergessen… Den Kopf ausschalten… Das Bild aus ihrem Hirn verbannen...
Die Sonne war längst hinter den Bergen verschwunden, als Carla sich endlich erschöpft auf einem Stein niederließ. Es war merklich kälter geworden, und der Wind zog durch ihre leichte Bluse. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Hanna, hämmerte es unablässig in ihrem Kopf. Hanna.
„Bitte tu mir das nicht an, Hanna“, flüsterte sie. Fünf Jahre lang hatte sie gegen die Dämonen in ihrem Innern gekämpft. Fünf Jahre lang hatte sie versucht zu vergessen, ins Leben zurückzufinden, sich auf einen neuen Menschen einzulassen. Und jetzt, da alles gut war, da sie den Schmerz in sich bezähmt hatte, jetzt, wo eine neue Liebe in ihrem Leben war, eine Familie, eine neuer Anfang, jetzt kam sie zurück.
Und wenn sie sich getäuscht hatte? Wenn es nur eine Ähnlichkeit gewesen war? Sie hatte die Frau nicht länger als ein paar Sekunden gesehen.
Doch tief in ihrem Innern wusste Carla, dass es wahr war. Hanna war am Leben. Aber war es wirklich ihre Hanna? Wer war ein Mensch, wenn er keine Vergangenheit mehr hatte? Sich nur die anderen erinnerten? Würde sie es aushalten können, wenn Hanna in ihrer Nähe war und sie nicht erkannte? Und würde sie es aushalten können, wenn ihre Erinnerung doch zurückkehren sollte? Was würde dann werden?
Carla wusste nicht, ob sie mehr vor Kälte zitterte oder vor Erschöpfung. Sie würde sich eine dicke Erkältung holen, wenn sie nicht bald im Warmen saß. Mit klammen Fingern holte sie ihr Handy aus der Tasche. Zweiunddreißig Nachrichten. Vier waren von Nina. Beschämt wählte sie Ninas Nummer.
„Carla? Wo um Himmel Willen bist du?“
„Irgendwo am Strand.“
„Bist du okay?“
„Ich glaube schon.“
Carla versuchte, Nina die Gegend zu beschreiben, und Nina lotste sie zu einer asphaltierten Straße, an deren Ecke sie auf einen Freund von Nina warten sollte. Zwanzig Minuten später kam ein sportlicher junger Mann, augenscheinlich ein Surflehrer, in einem alten Mercedes um die Ecke gefahren und fuhr sie zurück zu Ninas Ambrosia.
Carla hatte gehofft, dass die anderen schon im Bett sein würden, aber die drei saßen zusammen im Wohnzimmer und hatten offenkundig auf sie gewartet.
„Entschuldige, dass wir schon gegessen haben“, empfing sie Nina. „Wir wussten nicht, wann du kommst.“
„Ist schon okay“, murmelte Carla und versuchte, an Hanna vorbeizukommen, ohne sie anzusehen.
„Möchtest du einen Teller Lasagne?“, fragte Erika in einem Tonfall, als sei nichts vorgefallen. „Isabelle hat gekocht.“
„Nein danke, ich bin sehr müde. Entschuldigt bitte, wenn ich gleich zu Bett gehe.“
Carla sah aus den Augenwinkeln, wie Nina sich erhob. „Ich zeige dir noch dein Zimmer, Carla“, sagte sie bedeutsam und stieg hinter ihr die Treppe hoch.
„Nicht nötig“, sagte Carla kurz angebunden.
„Oh doch, das ist nötig“, beharrte Nina und führte sie durch einen langen Flur zum letzten Zimmer. „Hanna schläft am anderen Ende des Flurs“, erklärte sie unumwunden. „Ich gehe doch richtig in der Annahme, dass du so viel Abstand wie möglich möchtest?“
Carla nickte. „Wo ist das Bad?“
„Du hast ein eigenes. Es geht direkt von deinem Zimmer ab.“
Carla hatte gehofft, dass Nina sich diskret zurückziehen würde, sobald sie die Koffer hereingetragen hatten, aber das tat sie nicht. Im Gegenteil, sie ließ sich auf der Bettkante nieder und sah Carla erwartungsvoll an.
„Ich möchte nicht darüber reden“, stellte Carla klar. „Wenn du mich jetzt bitte allein lassen würdest.“
„Du willst dich einfach davonstehlen, was?“ Nina nickte verständnisvoll. „Aber es geht hier nicht nur um dein Leben.“
„Das ist mir klar“, nickte Carla. „Aber ich werde morgen früh abreisen.“
„Ich verstehe.“ Nina nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe. „Und wie vereinbarst du es mit deinem Gewissen, Hanna hier in ihrem Elend zurückzulassen? Eine Frau, die du einmal geliebt hast?“
„Das da unten ist nicht die Frau, die ich einmal geliebt habe“, sagte Carla heftig. „Das ist Isabelle, eine Person, die sich an nichts erinnert!“
„Ach ja? Und warum nennt sie sich Isabelle, wenn sie sich an nichts erinnert?“
„Was weiß ich“, murmelte Carla, aber sie wusste, dass Nina recht hatte.
„Und apropos Isabell“, fuhr Nina unbeirrt fort. „Meinst du nicht, dass ihre besten Freundin ein Recht darauf hat zu wissen, dass Hanna am Leben ist? Eigentlich müsste ich Isabell sofort anrufen.“
„Ich verstehe es einfach nicht.“ Carla ließ sich in einen Sessel fallen. „Ihr Körper ist doch obduziert worden. Es ist unmöglich, dass es Hanna ist.“
„Vielleicht ist einiges anders als du denkst. Es passt jedenfalls zusammen. Und jetzt wird mir auch klar, warum sie mir so eine gute Hilfe ist. Sie hat das ‘No Limits‘ besser geschmissen als ich.“ Nina strich eine Falte aus der Überdecke und zog sie glatt. „Warum meinst du, dass Isabelle nicht die Frau ist, die du geliebt hast? Du gibst dir doch gar keine Chance, es herauszufinden.“
„Weil ich es nicht herausfinden will!“, entfuhr es Carla. „Weißt du, was du da von mir verlangst? Ich habe endlich mein Leben zurück! Du hast keine Ahnung, was mich das gekostet hat!“
„Ich sage lediglich, dass du in dieser Sache nicht nur an dich denken solltest.“
„Glaub mir, ich denke nicht nur an mich. Ich denke an meine Frau, mein Kind und an… Isabelle.“
„Hanna.“
„Isabelle.“
„Wie auch immer.“ Nina erhob sich von Carlas Bett. „Diese Entscheidung kannst nur du fällen. Erika und ich sind jedenfalls immer da, wenn du uns brauchst.“
Ihr freundliches Angebot ließ Carla die Tränen in die Augen schießen, und sie war froh, als Nina die Tür hinter sich geschlossen hatte. Zum ersten Mal konnte sie weinen. Sie warf sich auf das Gästebett und weinte und weinte, bis zum Morgengrauen.
* * *
„Du siehst müde aus, Isabelle.“ Erika goss Hanna eine Tasse Kaffee ein. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen.
Hanna antwortete nicht. „Wo ist euer Gast“, fragte sie, als sie sich zu Erika und Nina an den Tisch setzte.
„Offenbar noch im Bad. Sie wird sicher gleich herunterkommen.“ Nina reichte Hanna den Brötchenkorb. „Entschuldige, wir hatten dir gar nicht gesagt, dass wir Besuch von einer alten Freundin erwarteten. Es hatte sich spontan ergeben.“
„Woher kennt ihr sie?“ Hanna nahm sich ein Brötchen, machte jedoch keine Anstalten, es aufzuschneiden.
„Aus Deutschland. Sie arbeitet in der Kunstszene.“
„Ich…“ Hanna zögerte. „Ich habe mich gefragt… ob ich sie vielleicht kenne.“
„Ach ja? Warum?“
„Weiß nicht. Ist nur so ein Gefühl.“
„Es könnte sein, dass du sie aus den Klatschspalten kennst. Die Presse berichtet manchmal über sie.“
„So etwas lese ich doch nicht.“ Hanna sah nachdenklich auf ihren Teller. „Ich hätte schwören können…“
„Guten Morgen“, rief Carla von der Treppe aus. Sie trug einen Koffer in jeder Hand und verschwand damit im Hausflur.
„Kaffee?“, rief Nina ihr hinterher.
„Nein danke, ich kaufe mir etwas am Flughafen.“ Carla erschien wieder an der Treppe. Nina fand, dass sie noch schlechter aussah als Hanna. Sie war stark geschminkt und ihre Augen waren so gerötet, als hätte die die ganze Nacht durchgeweint.
„Du willst dich gar nicht zu uns setzen?“, fragte Erika enttäuscht. „Lass uns dir wenigstens unsere Freundin Isabelle vorstellen.“
Carla zögerte. „Selbstverständlich“, lenkte sie ein. „Entschuldigt meine Unhöflichkeit, aber ich bin furchtbar in Eile wegen des Fliegers.“
„Schon gut.“ Nina wusste nur zu gut, dass Carlas Privatjet kaum ohne sie abfliegen würde, doch sie hegte nicht die Absicht, Carla noch länger zu quälen.
Carla trat zu ihnen und streckte Hanna ihre Hand entgegen. „Ich bin Carla“, sagte sie und lächelte.
„Hallo Carla.“ Hanna erwiderte ihr Lächeln. „Wie schade, dass ich Sie nicht kennenlernen darf.“
„Vielleicht ein anderes Mal.“ Carla trat einen Schritt zurück. „Ja, ich muss dann mal los.“
„Hätten Sie vielleicht eine Visitenkarte übrig für mich?“, fragte Hanna schnell. „Vielleicht brauche ich ja mal den Rat von jemandem aus der Kunstszene.“
„Ich weiß nicht genau…“ Carla kramte ziellos in ihrer Handtasche.
„Wenn es Ihnen zu viel Mühe bereitet…“
„Nein, nein. Hier sind sie schon.“
Nur Nina konnte sehen, wie Carlas Hand zitterte, als sie Hanna die Visitenkarte reichte. „Leben Sie wohl, Isabelle.“
Hanna sagte nichts, sie starrte nur auf die Karte.
Ein Hupen draußen vor der Tür unterbrach ihre Unterhaltung. „Das wird mein Taxi sein“, erklärte Carla.
„Wir werden dir noch winken.“ Erika und Nina standen auf, um Carla aus der Wohnung geleiten.
„Entschuldigt meinen übereilten Aufbruch, aber ich kann hier nicht bleiben.“ Carla weinte, als sie Nina und Erika umarmte. „Aber ich bin froh, dass ich euch kennengelernt habe. Ihr seid tolle Menschen.“
Ein Klappen der Autotür, ein Aufbrausen des Motors, und dann war sie in einer staubigen Wolke verschwunden.
Erika legte den Arm um Nina und gemeinsam winkten sie, bis das Taxi nicht mehr zu sehen war. „Keine Sorge, Schatz.“ Sie küsste Ninas Schläfe. „Die kommt wieder.“
To be continued...
_________________
Zuletzt geändert von kimlegaspi am 24.06.2011, 18:58, insgesamt 2-mal geändert.
|