Teil 5
Carla trat vorsichtig hinter Stella in die Wohnung. Sie ging über den kurzen Flur in die große Wohnküche. Links waren das Badezimmer und ein weiterer Raum und rechts gab es ebenfalls noch eine Tür. Überall standen Kisten auf dem Parkett herum. Die Küche sah noch unbenutzt aus. Im Wohnzimmer stand eine große Couch mit einer tiefen Liegefläche. Der Flachbildfernseher lag noch in Folie eingepackt auf dem Boden. Um den großen Esstisch, der quasi die Küche vom Wohnzimmer abtrennte, standen vier Stühle und auf dem Tisch stand eine weitere Kiste.
Stella: „Ich sagte bereits, dass hier das reinste Chaos herrscht…“
Carla: „Die Wohnung ist wirklich toll, allein für dieses Zimmer hätte ich sie auch genommen. Zeigen Sie mir den Rest auch noch?“
Stella wurde etwas rot. Der Gedanke daran ihre Chefin in ihr Schlafzimmer zu lassen ließ sie rot anlaufen.
Sie begann den Rundgang demnach auf der linken Seite, wo sich das Badezimmer und ein noch leerer Raum befanden, für den Stella noch keine rechte Bestimmung gefunden hatte. Sie dachte an ein Büro, aber derzeit brauchte sie Zuhause keines, da sie ohnehin alles auf dem Schloss erledigte. So war es im Moment eher ein Abstellraum, in dem noch mehr Kisten standen als in dem anderen. Stella war nach ihrem Umzug selbst erstaunt gewesen, wie viel Zeug sich so angesammelt hatte.
Das Badezimmer war klein, aber dennoch geräumig und der einzige Raum, in dem keine Kisten standen. Auch eine Badewanne war vorhanden. Die schrägen Wände sorgten für einen großen Gemütlichkeitsfaktor. Carla ließ ihren Blick über Stellas Sachen wandern. Alles war sehr klar und aufgeräumt. Ihre Schminksachen waren überschaubar: Make up, Mascara und Kajalstifte sowie Puder – mehr benutzte sie ohnehin nicht. Auf dem Rand der Badewanne standen zwei Kerzenleuchter, in denen allerdings die Kerzen fehlten.
Carla sah sich alles aufmerksam an und man merkte, dass ihr die Wohnung wirklich gefiel. Dann gingen sie durch den Wohnbereich zu dem Raum auf der rechten Seite.
Im Schlafzimmer stand ein großer Kleiderschrank, ein Sessel, eine Kommode und Stellas Bett. Zu Carlas Verwunderung war es kein Doppelbett, sondern lediglich ein größeres Einzelbett, 1,40 x 2 Meter. Sie suchte unbewusst nach Fotos auf dem Nachttisch oder an der Wand und dabei blieb ihr Blick auf dem Highlight des Raumes hängen: einem überdimensionalen Dachfenster, dass sich direkt über dem Bett befand und fast größer als selbiges war.
Carla: „Wow, ich könnte wetten, unter diesem Fenster lässt es sich hervorragend schlafen – und träumen.“ Carla grinste. Stella lief rot an und sagte schließlich: „Ja, ehrlich gesagt war das mein schlagendes Argument die Wohnung zu mieten.“
Am liebsten wäre Carla noch eine Weile in diesem Raum geblieben, sie fühlte sich wohl so umgeben von Stellas Sachen, aber ihr Magen meldete sich und sie sah besorgt auf Stellas Fuß – für sie war es sicher nicht so gut die ganze Zeit Slalom zwischen den ganzen Kisten zu hoppsen. Carla war der unsichere Umgang Stellas mit den Krücken nicht entgangen. Sie gingen zurück ins Wohnzimmer und Carla übernahm erneut die Initiative.
Carla: „Gut, dann schlage ich vor, dass Sie sich auf die Couch setzen und ich mal einen Blick in den Kühlschrank werfe. Wobei, wenn ich mich hier so umsehe, sollte ich vielleicht gleich auf die Suche nach dem nächsten Supermarkt hier in der Nähe gehen?“
Stella: „Das ist mir wirklich total peinlich, aber außer Wasser, Milch, Cornflakes und einer Flasche Wein, die ich von den Nachbarn hier zum Einzug bekommen habe, ist wirklich nichts da, ich bin noch nicht zum Einkaufen gekommen.“
„Sie müssen ja wirklich eine grauenhafte Chefin haben, wenn Sie es nicht mal schaffen etwas zu Essen zu kaufen.“ frotzelte Carla.
„Nein, ach was, nein, aber ich war die letzte Woche oft aus und auf dem Schloss essen wir ja auch oft zu Abend und wenn es dann so spät wird -“ versuchte Stella hektische zu erklären.
Carla lachte und meinte nur: „Ja ist schon gut. Ich gehe dann trotzdem mal einkaufen. Gibt es etwas, was Du besonders gerne isst?“ Jetzt war es Carla schon wieder passiert. Diesmal konnte sie nicht einfach darüber weg gehen. Sie überlegte kurz, ob es irgendwelche Konsequenzen haben könnte, wenn sich Stella und sie von nun an duzen würden, außer dass sie gegenüber Stella nun eindeutig an Professionalität eingebüßt hatte, weil es ihr zweimal an einem Nachmittag einfach herausgerutscht war. So etwas war ihr wirklich noch nie passiert. Jetzt musste sie irgendwie die Kurve kriegen. „Ok, da mir das jetzt schon das zweite Mal passiert ist, frage ich Dich jetzt offiziell, ob Du etwas dagegen hättest, wenn wir uns Duzen?“
Stella sah Carla an. Sie hatte es im Krankenhaus also doch bemerkt. Stella verstand nicht ganz, ob es Absicht von Carla war, aber irgendwie passten solche Patzer nicht zu der professionellen Geschäftsfrau Carla von Lahnstein. Sie war unsicher, inwiefern es alles verändern würde, aber was hatte sie schon für eine Chance? Ihrer Chefin das Du abzuschlagen lag wohl nicht im Bereich des möglichen. Und insgeheim fühlte Stella, wie sie dem Mysterium Carla wieder ein Stückchen näher kam.
Stella: „Nein, ich meine, ich habe nichts dagegen. Nur, auf dem Schloss ist es vielleicht für die anderen etwas merkwürdig.“
Carla bemerkte, wie Stella bei ihrer Antwort nervös mit ihren Krücken auf dem Boden herum rutschte.
Carla: „Nun, ich denke das wäre kein Drama, sollte es Dir unangenehm sein, könnten wir auch in den Heiligen Hallen wieder zum Sie übergehen.“
Jetzt musste auch Stella lachen. Sie streckte Carla die Hand entgegen und stellte sich lächelnd vor: „Stella“.
„Carla.“ Carla nahm Stellas Hand und zog sie gleichzeitig in eine leichte Umarmung: Sie küsste sie flüchtig rechts und links auf die Wange und ließ Stella los, die daraufhin unter lautem Gepolter ihrer Krücken den Halt verlor.
Stella sah Carlas Kopf noch auf sich zukommen, als sie auch schon deren Lippen auf ihrem Gesicht wahrnahm. Der Duft ihrer Chefin und deren Nähe waren zu viel für sie. Sie verlor die Koordination ihrer Krücken und im nächsten Moment fand sie sich auf dem Boden wieder.
Super Stella, ganz toll und gar nicht peinlich! Was soll sie denn jetzt von dir denken? Sie lief knallrot an und sortierte ihre vier Beine.
Carla beugte sich erschrocken über die auf dem Boden sitzende Stella. „Oh je, das tut mir leid, das wollte ich nicht, ist alles in Ordnung?“
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