Kapitel 25
Am nächsten Tag…
Anna’s POV:
Ich bin auf dem Weg zu Shane ins Krankenhaus, um mit ihr über einige wichtige Dinge zu sprechen. Dort angelangt, treffe ich auf Dr. Cohen, die mir schon von weitem zuruft: „Ah, gut, dass ich Sie treffe.“ „Warum? Ist etwas mit Shane?“ „Nein nein, keine Sorge, Shane geht es gut. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass heute die Bestätigung aus der nahe gelegenen Reha-Klinik, in die Miss McCutcheon verlegt werden soll, per Fax eingetroffen ist. In zwei Tagen wird das für sie vorgesehene Bett frei. Wir können sie also in zwei Tagen dorthin verlegen.“ „Gut. Wie lange muss Shane in der Reha bleiben?“ „Ich denke, drei bis vier Wochen. Und danach etwa dreimal pro Woche eine Stunde Physiotherapie.“
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Bette’s POV:
„Guten Morgen, euch beiden“, sage ich lächelnd zu Tina gewandt, die Hand auf ihrem Bauch. Wir konnten heute länger schlafen und haben dies voll ausgekostet. „Guten Morgen, Schatz“, erwidert Tina gähnend. „Weißt du, jetzt wo ich weiß, dass du schwanger bist, bemerke ich erst, dass du um den Bauch rum etwas zugelegt hast.“ Tina gibt mir einen Klaps aufs Bein. „Was fällt dir ein?“ Ich kichere. „Ich freue mich eben. Mensch Tina, in einem halben Jahr werden wir Eltern sein.“ „Ja. Ein wundervoller Gedanke, nicht?“ Voller Genuss beobachte ich Tina, wie sie träumerisch hoch zur Decke sieht.
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Shane’s POV:
Ich rede mit Kathy gerade über das Leben in Waisenhäusern und Pflegefamilien, als sich die Tür öffnet und Anna herein kommt. „Hey Ann.“ „Hi Schatz. Guten Tag, Miss Sullivan.“ „Kathy, bitte“, lächelt sie. „Gut, Kathy, ich bin Anna.“
Anna wendet sich an mich. „Wie geht’s dir?“, fragt sie und gibt mir einen Kuss. „Ich fühle mich irgendwie müde und ausgelaugt, aber die Schmerzen sind okay.“ „Wie wäre es, wenn wir nach draußen in den Park gehen, damit du etwas frische Luft abbekommst. Vielleicht fühlst du dich dann fitter.“ „Gerne. Ich bin froh, wenn ich etwas raus komme.“
Ich betätige den roten Knopf über meinem Bett und kurze Zeit später kommt Schwester Lynda herein. „Miss McCutcheon, was kann ich für sie tun?“ „Können Sie bitte einen Rollstuhl bringen? Ich möchte nach draußen gehen.“ „Klar. Ich bin gleich wieder da.“
Nach einigen Minuten kommt überraschend Leo mit dem Rollstuhl durch die Tür. „Shane. Hey, wie geht’s dir?“ „Gut, danke. Leo, das ist übrigens Anna, meine Freundin. Anna, das ist Leo, mein Physiotherapeut.“ „Freut mich, dich kennen zu lernen“, sagt Anna lächelnd und streckt ihre Hand aus. „Freut mich ebenso.“
„Dann wollen wir mal“, sagt Leo und streift meine Bettdecke zurück, um mich in den Rollstuhl zu heben. Ich verziehe mein Gesicht vor Schmerzen, doch als ich sitze, geht es wieder. „Wir sehen uns heute Abend, Shane. Ach übrigens, du wirst in die Reha-Klinik verlegt, in der ich arbeite. Du musst mich also noch ein paar Wochen ertragen.“ Ich lache. „Gern. Bis heute Abend.“
Anna schiebt mich hinaus aus dem Zimmer und hinaus aus der Klinik in den Park, wo wir an einer Bank, die sich am Rande eines kleinen Sees befindet, stehen bleiben.
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Alice’s POV:
„Schatz?“, rufe ich ins Schlafzimmer. „Was ist?“, antwortet Dana gähnend, als ich den Raum betrete. „Bette hat eben angerufen. Sie und Tina haben uns allen etwas Wichtiges zu sagen und deswegen wollen wir heute Nachmittag zusammen zu Shane ins Krankenhaus.“ „Cool. Bin dabei.“ Und mit diesen Worten dreht sie sich um und will weiter schlafen.
„Hey, Dana. Es ist gleich halb 12. Wir können nicht den ganzen Tag schlafen.“ „Was kann ich dafür, wenn Du mich die ganze Nacht wach hältst.“ Ich schmunzle und lege mich zu ihr ins Bett. „Nun, dann muss ich dich jetzt wohl wachmachen.“ Dana grinst. „Ich hab gewusst, du kannst nicht widerstehen.“
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Anna’s POV:
Ich lege meine Hand auf Shanes Bein und sie nimmt sie in ihre. „Shane, ich muss einige Dinge mit dir bereden.“ Sie senkt den Kopf, als ob sie schon gewusst hätte, dass das kommt. „Okay.“ „Wenn du aus der Reha kommst, wirst du nicht in deine Wohnung zurück können. Deine Mitbewohnerinnen können sich nicht um dich kümmern und du kannst dich auch nicht selbst um dich kümmern.“ Ich erwarte einen Gegenspruch, doch Shane sagt nichts. Deshalb fahre ich fort: „Aus diesem Grund möchte ich dir anbieten, erst mal bei mir zu wohnen.“ Sie hebt den Kopf und sieht mich an. „Anna, ich will dir nicht zur Last fallen.“ „Aber du fällst mir nicht zur Last. Du bist meine Freundin, ich liebe dich, und ich möchte für dich da sein. Ich möchte, dass wir das zusammen durchstehen.“ Langsam nickt sie mit dem Kopf. „Gut.“
Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell zusagt, doch offensichtlich sieht sie es selbst ein. Ich werde mit ihren Mitbewohnerinnen sprechen.
„Da ist noch etwas“, beginne ich zaghaft, worauf mich Shane fragend ansieht. „Meine Eltern wollten, dass ich über Weihnachten nach Deutschland komme.“ „Du willst nicht, dass ich mitkomme, oder? Anna, das kannst du nicht von mir erwarten.“ „Shane, warte doch erst mal ab, was ich dir sagen will… Ich habe meinen Eltern gesagt, dass das in diesem Jahr unmöglich ist und ihnen deshalb angeboten, zu mir zu kommen und in Los Angeles Weihnachten zu feiern. Aber unter der Bedingung, dass du zustimmst.“ Sie lächelt mich an. „Anna, es sind schließlich deine Eltern. Ich möchte nicht der Grund sein, dass sie nicht kommen können. Natürlich hätte ich diesen Tag gern mit dir verbracht, aber wir haben doch noch so viel gemeinsame Zeit vor uns.“ „Oh Shane, du verstehst da was falsch. Ich habe meine Eltern gefragt, ob sie zusammen mit uns, mit dir und mir, Weihnachten feiern wollen.“
Nun sieht sie mich mit großen Augen an. „Aber… aber deine Eltern können nicht mit der Tatsache umgehen, dass wir ein Paar sind, oder? Dann wäre es nicht gut, sie gerade an Weihnachten damit zu konfrontieren.“ „Meine Eltern haben eingesehen, dass es keine Krankheit ist. Und sie würden dich gern kennen lernen.“ Langsam verzieht sie ihren Mund zu einem Lächeln. „Na gut, okay.“ Ich lächle ebenfalls.
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Shane’s POV:
Ich bin Anna ehrlich gesagt sehr dankbar, dass sie mir angeboten hat, bei ihr zu wohnen. Sie hat Recht, ich wäre alleine nicht klar gekommen. Und dass ich ihre Eltern kennenlerne, ist ebenfalls eine große Überraschung.
Plötzlich klingelt Annas Handy. „Entschuldige“, sagt sie und greift in ihre Tasche. „Ja?“
Während Anna telefoniert, sehe ich mich im Park um. Auf dem See schwimmen ein paar Enten fröhlich umher, und zwei Schwäne haben ihre Hälse zu einem Herz geformt. Überall um den See herum stehen kleine Bänke und auf fast allen davon sitzen ebenfalls Leute und genießen die Idylle.
Ich höre Anna sagen „Okay, dann bis später.“ und blicke zu ihr. „Das war Bette“, sagt sie, als sie das Handy zurück in die Tasche steckt. „Die Mädels kommen nachmittags vorbei. Bette sagte, sie hätten etwas mit uns zu bereden.“ „Aha? Was könnte das sein? Klang sie eher ernst oder eher vergnügt?“ „Keine Ahnung. Lassen wir uns überraschen.“
Wir sitzen noch eine Weile ruhig am See, bevor Anna sagt, sie wolle noch schnell einkaufen gehen und später mit Bette und den anderen wieder kommen. Sie schiebt mich zurück in mein Zimmer. „Lass mich einfach da stehen. Ich rufe Leo, dass er mich zurück ins Bett bringt.“ „Sicher, dass das in Ordnung ist?“ „Klar.“ „Gut. Bis später. Ich liebe dich.“ „Ich dich auch. Bis dann.“ Wir küssen uns kurz.
Anna verabschiedet sich noch von Kathy, bevor sie aus dem Zimmer geht. Ich rolle mich nah ans Bett heran und stütze mich mit den Armen ab. „Was hast du vor, Liebes?“, fragt Kathy vom Nebenbett aus. „Ich will zeigen, dass ich es auch alleine schaffe.“ „Ach, sei doch nicht albern. Lass dir helfen.“ „Nein. Ich kann es alleine.“
Ich spüre den Schmerz, der durch meine Arme schießt, doch ich habe nicht vor, aufzugeben. Ich verlagere mein Gewicht und versuche mich, vom Boden abzustoßen. Stattdessen schiebe ich den Rollstuhl von mir weg. Ich verliere den Halt und stürze schmerzvoll zu Boden. „Shane! Verdammt, ich kann nicht mal den Knopf drücken mit meinen eingegipsten Armen. Geht’s dir gut?“
Shit. Zuerst sehe ich nur Blut, doch ich merke schnell, was die Ursache ist. Ich habe versehentlich den Infusionsschlauch herausgerissen. Ich benutze die andere Hand, um Druck auszuüben und so die Blutung zu stoppen. Dann wird mir bewusst, in welch unbehaglicher Lage sich mein linkes Bein befindet, doch spüre ich keinen Schmerz. Meine Rippen stechen etwas, doch es ist nicht so schlimm. Ich denke, dass ich Glück hatte. „Mir geht`s gut. Ich denke, dass ich an den Knopf herankomme.“ Als ich meine Hand ausstrecke, kommt Leo herein. „Anna hat mich gebeten, dir zu… Shane!“ Er stürmt zu mir. „Was ist passiert?“ „Ich habe versucht, alleine ins Bett zu kommen. Aber keine Sorge, es ist alles in Ordnung.“ „Alles in Ordnung? Und wo kommt das ganze Blut her?“ Ich zeige auf die Infusionsnadel.
Nachdem mich Leo zurück ins Bett gehoben hat, geht er, um die Ärztin zu holen. „Mensch, Kindchen. Hör doch endlich auf, solche Dummheiten zu machen.“ Ich sehe Kathy schweigend an. Ich fühle mich durch den Blutverlust noch müder als ohnehin schon. „Versprichst du mir, ab jetzt vorsichtiger zu sein und dir helfen zu lassen?“ Ich seufze. „Ja.“
Leo kommt mit Dr. Cohen und einer unbekannten Schwester herein, die anfängt, den Boden von meinem Blut zu säubern. Von Dr. Cohen darf ich mir eine offenbar endlose Standpauke über das richtige Verhalten in meiner Situation anhören. Ich fühle mich, als wäre ich ein Invalide. Dann untersucht sie mich auf irgendwelche Verletzungen. „Sie hatten Glück, Miss McCutcheon. Außer ein paar blauen Flecken ist nichts passiert.“ Sie führt eine neue Infusionsnadel unter meine Haut und legt um einen Verband um die Wunde an der Hand. „Ich gebe Ihnen ein leichtes Schlafmittel, sie sollten auf Grund des Bluverlustes etwas schlafen.“ Sie spritzt mir irgendein Mittel und verlässt dann zusammen mit Leo, der den Rollstuhl schiebt, und der Schwester das Zimmer.
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Einige Stunden später …
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Alice’s POV:
Wir haben uns alle bei Bette getroffen, um zusammen zu Shane zu fahren. „Fehlt noch jemand?“, frage ich in die Runde. „Anna“, sagt Bette, „sie hat mir vorhin noch Bescheid gesagt, dass sie ebenfalls vorbeikommt, um mit uns gemeinsam nochmal zu Shane zu gehen.“ „Gut. Dann warten wir noch kurz.“
Nach einigen Minuten sehe ich vom Küchenfenster aus Annas Auto den Vorplatz hochfahren. „Sie kommt“, rufe ich ins Wohnzimmer, als es auch schon an der Tür klingelt. Wir empfangen Anna mit Umarmungen.
„Wie geht’s Shane?“, fragt Dana. „Es geht ihr heute sehr gut. Sie sagt, sie ist müde, doch die Schmerzen halten sich in Grenzen. In zwei Tagen wird sie in die Reha-Klinik verlegt.“ „Das ist schön.“ „Wo ist diese Reha-Klinik?“ „Sie ist direkt neben dem Krankenhaus. Sie hat sogar denselben Physiotherapeuten.“ „Es geht also aufwärts.“ „Zum Glück.“ „Shane wird einstweilen bei mir wohnen, wenn sie aus der Reha kommt.“ „Wirklich?“ „Ja, sie hat heute Morgen zugestimmt. Außerdem kommen uns meine Eltern an Weihnachten besuchen.“
Nach kurzem Small-Talk machen wir uns auf den Weg.
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Anna’s POV:
Wir sind auf dem Weg zu Shanes Zimmer, als wir auf ihren Physiotherapeuten Leo treffen, der gerade einen jungen Mann durch die Gänge schiebt. „Wollt ihr zu Shane?“ „Ja“, sage ich und wende mich dann den Mädels zu. „Das ist Leo, der Physiotherapeut.“ Die anderen begrüßen ihn. „Ähm, ich schätze mal, dass sie noch schläft. Die Ärzte haben ihr vorhin ein Schlafmittel gegeben.“
Oh Gott. Es ist wieder irgendetwas passiert. Bitte, lass es ihr gut gehen. „Wa-warum?“, frage ich zögerlich. Auch den anderen steht die Angst im Gesicht geschrieben. „Nun ja, als ich vorhin ins Zimmer gekommen bin, nachdem du mir Bescheid gesagt hast, ich solle ihr helfen, lag sie auf dem Boden. Sie hat es selbst versucht und dabei hat sich ihr Infusionsschlauch gelöst. Dadurch hat sie etwas Blut verloren, aber nicht lebensgefährlich viel. Sie hat ein paar blaue Flecke, aber sonst geht es ihr wirklich gut. Ihr müsst euch keine Sorgen machen, wirklich.“ Ich atme auf. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert. „Diese Frau kann man aber auch keine Sekunde aus den Augen lassen.“
„Geht doch einstweilen in die Caféteria. Ich sag ihrer Bettnachbarin, dass sie Bescheid geben soll, wenn Shane aufwacht und dann hole ich euch. „Das wäre nett. Danke, Leo.“
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Bette’s POV:
Wie Anna schon gesagt hat: man kann Shane wirklich nicht alleine lassen. Mit ihrer Dickköpfigkeit kann sie sich noch in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Aber ich bin natürlich froh, dass nichts weiter passiert ist.
Wir sitzen schon eine Weile in der Caféteria, als Leo auf unseren Tisch zukommt. „Alles klar, sie ist wach. Ihr könnt nach oben gehen“, sagt er fröhlich. „Danke, Leo.“ „Ist doch kein Problem.“
Als wir in Shanes Zimmer kommen, sitzt sie schon im Bett, als ob sie uns erwartet hätte. Sie sieht müde aus, doch sie lächelt. „Hey. Sorry, dass ihr warten musstet.“ Anna geht auf sie zu. „Was machst du denn für Dummheiten? Versprich mir, dass du nie wieder solche Versuche unternimmst.“ „Ja, Mama.“ Dann wendet sie sich uns anderen zu. „Setzt euch.“ „Wir haben Blumen mitgebracht. Ich stell sie dir auf den Tisch.“ „Danke, Tina. Die sind aber hübsch.“
„Wo ist denn Kathy?“, fragt Anna. „Sie musste zu einer Untersuchung.“ „Und wie geht es dir?“ „Ich bin immer noch müde und meine Rippen tun etwas weh, aber das ist nicht so schlimm.“
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Shane’s POV:
Es ist rührend, wie sich alle um mich sorgen. Klar war es dumm von mir zu glauben, ich könnte das alleine schaffen, aber ich wollte einfach niemandem zur Last fallen.
Alice ergreift das Wort. „Leute, Dana is im Übrigen bei mir eingezogen.“ „Ohh. Und wann wird geheiratet?“, fragt Jenny. „Soweit sind wir noch nicht“, kichert Alice. „Ich ziehe auch bei Anna ein“, sage ich und lächle. „Anna hat es uns vorhin gesagt. Das ist wirklich toll. Wir freuen uns für euch. Auch für euch, Alice und Dana. Und da wir nun schon bei den Ankündigungen sind… Tina?“ Bette sieht zu ihr rüber. „Ja… Bette und ich, wir bekommen ein Kind.“
Wir alle sehen sie an. Dann lächeln alle. „Wow! Bette, Tina, das ist toll!“ „Super Neuigkeiten. Kommt her, lasst euch drücken.“ „Wann ist es denn soweit?“ „Im Mai.“ „Schon? Dann bist du ja schon im dritten Monat.“ „Stimmt, ihr habt mich erwischt. Ich habe gewartet, damit ich es euch allen zusammen sagen kann“, sagt Tina und sieht mich an. Ich lächle. Tina hat diese wunderbare Neuigkeit allen verheimlicht, nur damit ich dabei sein kann.
Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich heute wieder das Gefühl, dass es bergauf geht. Dass alles wieder gut wird. Natürlich habe ich noch viel vor mir. Die Reha wird bestimmt kein Zuckerschlacken. Außerdem werde ich Anna früher oder später von meiner Vergangenheit erzählen müssen. Doch heute ist das alles vergessen. Wir haben Spaß. Und das zählt.
Kapitel 26
Zwei Tage später …
Shane’s POV:
„Shane, wie gefällt dir dein neues Zimmer?“, fragt Leo. Erneut sehe ich mich in meinem Zimmer in der Reha-Klinik um. Die Wände sind gelb gestrichen und nicht so traurig-weiß wie im Krankenhaus, überall hängen bunte Bilder. Auf dem kleinen Holztisch stehen die Blumen, die mir Tina geschenkt hat und durchs Fenster habe ich eine wunderschöne Aussicht auf den See, den ich so gerne mag. „Es ist wirklich sehr schön hier, viel freundlicher als in der Klinik.“
Leo lächelt. „Und wie geht es dir?“ Ich denke einen Augenblick darüber nach. „Gut“, sage ich dann, „es geht mir wirklich gut. Ohne all die Nadeln und Schläuche fühle ich mich viel besser.“ „Das ist schön. Es freut mich wirklich, dass es dir besser geht. Und das mit dem Bein, kriegen wir auch noch geregelt.“ Ich versuche, enthusiastisch zu wirken, doch anscheinend will mir das nicht so recht gelingen. „Ach komm schon, Shane, das wird schon, ich weiß es.“ Ich seufze. „Hoffentlich“, sage ich mit kleinlauter Stimme.
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Anna’s POV:
Seit drei Tagen versuche ich nun, meine Eltern zu erreichen, doch es hört niemand. Gerade starte ich einen neuen Versuch, und es nimmt tatsächlich jemand ab. „Ja?“ „Mama?“ „Oh, Anna, schön, dass du anrufst.“ „Hallo Mama, ich hab die letzten paar Tage schön öfter angerufen, aber niemand hat abgenommen.“ „Dein Vater und ich waren übers Wochenende weg, eine kleine Städtereise nach Salzburg.“ „Toll, ich hoffe, ihr hattet Spaß!?“ „Es war wundervoll, Schatz. Aber sag, wie geht es Shane? Und wie geht es dir?“ „Mir geht es gut und Shane geht es ebenfalls viel besser. Sie wurde heute in die Reha-Klinik verlegt, aber ich war noch nicht bei ihr. Ich werde heute Nachmittag gehen. Aber weswegen ich anrufe, ich habe mit Shane über Weihnachten gesprochen und sie ist einverstanden, wenn ihr beide kommt und mit uns feiert. Sie sagte, sie würde euch gerne kennen lernen.“ „Das freut uns, wirklich. Na dann werde ich deinem Vater gleich sagen, er soll Flüge buchen, ja?“ „Mach das. Bis bald, Mama.“ „Bis bald, Schätzchen.“
Ich lege den Hörer auf und gehe in die Küche, um mir einen zweiten Kaffee zu machen. In einer halben Stunde kommt jemand von einer Firma, die Häuser für Rollstuhlfahrer umbaut. Shane weiß bisher nichts davon. Und ich habe, um ehrlich zu sein, etwas Angst, es ihr zu sagen.
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Shane’s POV:
Ich sitze in meinem Rollstuhl und sehe mir den idyllischen See an und die vielen Leute, die trotz der frühen Stunde schon auf den Bänken sitzen. Ohne Mrs. Sullivan ist es fast langweilig, niemand ist da, mit dem ich reden könnte. Ich genieße zwar die Ruhe, doch ich könnte wirklich etwas Gesellschaft gebrauchen. In dem Moment, in dem ich das denke, klopft es an der Tür. „Herein.“ Ich drehe mich leicht um und sehe Alice und Dana in der Tür stehen.
„Hey Shane.“ „Hi Shane.“ „Hey ihr beiden. Was macht ihr hier? So früh? Müsst ihr nicht arbeiten?“ „Nein“, sagt Alice und grinst. „Habt ihr dann nichts Besseres zu tun, als mich zu besuchen? Jetzt, wo ihr unter einem Dach wohnt?“ Nun grinse auch ich. „Nein, wir dachten einfach, du könntest etwas Gesellschaft gebrauchen.“ Bingo. „Das ist lieb von euch.“
„Möchtest du hinunter zum See?“, fragt Dana dann. „Oh ja. Es ist so wunderschön dort unten.“
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Alice’s POV:
Shane sieht heute so viel besser aus, und sie hat endlich diese ganzen Geräte los, an die sie angeschlossen war. Kein lästiges Gepiepe mehr, und keine Nadeln, die sie sich aus Versehen herausreißen könnte. Wir sind am See angekommen und Dana und ich setzen uns auf eine Bank.
„Du ziehst also bei Anna ein?“ „Ja“, antwortet Shane und klingt dabei fast etwas traurig. „Was ist?“, fragt Dana, die das offenbar ebenfalls mitbekommen hat. „Nichts, es ist nur … es ist eben schwer für mich, von jemandem so … abhängig zu sein.“ „Ach Shane, mach dir doch darüber keine Gedanken. Du fällst niemandem zur Last.“ „Genau“, werfe ich ein, „und wenn die Wohnung erstmal umgebaut ist, dann bist du auch nicht mehr abhängig.“ Shane sieht mich an, zuerst überrascht und dann wütend. Dana wirft mir einen grimmigen Blick zu. Was ist nur los? „Was hast du gerade gesagt?“ Ich sehe verdutzt drein. „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Anna lässt ihre Wohnung umbauen? Für … mich?“
Erst jetzt dämmert es mir. Oh nein. Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich beiße mir auf die Lippe. „Ähm … nun ja … also …“. Ich seufze. „Shane, sie meint es doch nur gut.“ „Das tut nichts zur Sache“, sagt Shane und zittert vor Wut. „Sie gibt Geld aus, für mich, und ich kann es ihr nicht zurückzahlen. Ich weiß nicht einmal, ob ich es ihr je zurückzahlen kann. Vielleicht bin ich für immer ein Krüppel. Dann hat sie mich ein Leben lang am Hals.“
Dana und ich sehen uns geschockt an. „A-Aber Shane. So darfst du doch nicht denken. Du wirst kein … kein -.“ „Kein Krüppel sein? Woher willst du das wissen? vielleicht kann ich mit diesem verdammten Bein nie wieder etwas anfangen. Und dann? Am Anfang wird Anna mich vielleicht noch pflegen wollen, aber mit der Zeit wird sie ihrer Aufgabe müde werden. Sie hat Besseres verdient.“ „Shane, bitte beruhige dich, und sag nicht solche Sachen. Das stimmt doch alles nicht.“ „Dana hat Recht, Shane. Anna braucht dich.“ Wieder unterbricht sie mich. „Vielleicht braucht sie mich, aber sie braucht mich gesund. Sie ist noch so jung. Sie hat ihr ganzes Leben noch vor sich. Sie könnte jemand anderes finden und glücklich werden und … und …“. Sie fängt an zu schluchzen und vergräbt ihr Gesicht in ihrer guten Hand.
Ich rutsche näher an sie heran und nehme sie in den Arm. „Beruhige dich, Shane. Du hast vieles durchgemacht und es ist nur natürlich, dass du dich so fühlst, aber ihr werdet das durstehen. Wir alle werden das gemeinsam durchstehen, okay? Ich kann dir nicht versprechen, dass alles gut wird, denn du hast Recht, das kann ich nicht wissen. Aber ich kann dir versichern, dass wir alles dafür tun werden, dass es besser wird. Und wir werden das schaffen, okay?“ Leises Schluchzen. Ich beuge mich etwas zurück und sehe in ihre verweinten Augen. „Okay?“, frage ich erneut. Langsam nickt sie.
„Komm, wir bringen dich zurück in dein Zimmer, damit du dich etwas ausruhen kannst.“ Widerstandslos lässt sie sich zurück in die Klinik schieben.
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Anna’s POV:
Mr. Maher ist gerade gegangen. Er hat mich ausführlich beraten, worauf ich achten muss und was unbedingt notwendig für einen Rollstuhlfahrer ist. Ich habe gleich alles fest gemacht und bestellt. In etwa einer Woche werden die Leute kommen und mit den Umbauarbeiten beginnen. Es ist nicht besonders viel. An einigen Stufen werden Rampen angebracht, im Badezimmer zusätzliche Griffe zum Hochziehen und eine Art Sitzbank in der Dusche. Alles in allem kostet das Ganze weniger, als ich gedacht habe, was gut ist. Denn ansonsten hätte ich entweder meine Eltern oder Bette fragen müssen, ob sie mir etwas Geld leihen können und das hätte Shane bestimmt zur Weißglut getrieben. Ich bin mir ohnehin nicht sicher, ob sie die Sache gut aufnimmt.
Plötzlich klingelt mein Handy. Auf dem Display sehe ich, dass es Alice ist. „Hey Al.“ „Hi Ann. Du, ich habe gerade etwas sehr Dummes getan. Ich habe Shane ungewollt von deinen Umbauplänen erzählt. Es war keine Absicht, es ist mir nur so rausgerutscht, ehrlich.“ Oh nein. „Wie hat sie reagiert.“ „Nun ja … sie ist etwas ausgeflippt.“ „Was?“ „Wir konnten sie beruhigen. Es ist alles gut. Es tut mir wirklich Leid.“ „Nein, ist schon in Ordnung. Sie musste es ja irgendwann erfahren.“ „Okay. Wie gesagt, tut mir Leid. Bis dann.“ „Ciao, Alice.“
Ich seufze. Es war klar, dass sie überreagiert. Ich hoffe nur, sie ist nicht allzu sauer auf mich.
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Shane’s POV:
Wieder sitze ich am Fenster und schaue hinaus auf den See. Ich weiß, dass Anna es nur gut meint, aber das wahre Problem ist ohnehin ein ganz anderes. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich längerfristig an diesen Rollstuhl gefesselt bin. Natürlich hat Dr. Cohen mir gesagt, dass es länger dauern kann, aber ich dachte immer, durch die Physiotherapie geht das alles ganz schnell. Ich muss mich wohl wirklich mit dem Gedanken abfinden.
„Shane?“ Ich schrecke auf. Ich war so in Gedanken, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie Leo ins Zimmer kam. „Hey Leo. Sorry, ich habe dich nicht gehört.“ „Alles in Ordnung?“ „Ja, alles klar“, sage ich und setze ein fröhliches Gesicht auf. Zumindest versuche ich es. Er scheint es mir abzukaufen. „Gut, dann lass uns an die Arbeit gehen.“
Ich seufze leise, so dass Leo mich nicht hört, als er mich aus dem Zimmer schiebt. Was hat Alice nochmal gesagt? Ich kann dir nicht versprechen, dass alles gut wird. Aber ich kann dir versichern, dass wir alles dafür tun werden, dass es besser wird. Ich hoffe, sie hat Recht.
Kapitel 27 - Part 1
Fünf Wochen später … Zwei Tage vor Weihnachten
Anna’s POV:
„Du siehst gut aus, Tina.“ „Meinst du? Ich fühle mich immer mehr wie ein Walross.“ „Ach was“, sage ich und lache. „Sie hat Recht“, sagt Alice. Es tut gut, mal wieder aus dem Haus zu kommen. Tina hat mich heute Morgen angerufen und mich und Alice auf einen Kaffee bei ihr eingeladen, da Bette arbeiten muss. Ihr Babybauch steht ihr meiner Meinung nach wunderbar. Und man kann fast zusehen, wie er wächst. Sie ist nun am Anfang des fünften Monats.
„Wie geht es Shane?“ „Nun ja, manchmal beschwert sie sich, dass sie sich nicht groß bewegen kann und dass sie ständig auf meine Hilfe angewiesen ist, aber sie kommt immer besser zurecht. Und es geht ihr sehr gut momentan.“ „Das ist schön zu hören.“ „Ihr wisst ja, wie sie sich am Anfang angestellt hat, zu mir zu ziehen. Und die Tatsache, dass ich Geld für den rollstuhlgerechten Umbau ausgegeben habe. Aber sie hat eingesehen, dass ich das mache, weil ich sie über alles liebe.“
„Und wie geht es dir?“, fragt Tina mich nach einiger Zeit. Ich zucke mit den Schultern. „Es geht mir gut, eigentlich.“ „Eigentlich?“, fragt Alice. „Ja, ich bin glücklich. Shane lebt und wohnt mit mir zusammen, morgen sehe ich endlich meine Eltern wieder und der Job läuft super.“ „Aber?“ „Also um ehrlich zu sein, hatte ich mir mehr von Shane’s Therapie versprochen. Ich habe nicht erwartet, dass sie laufen kann, aber ich dachte, sie macht wenigstens Fortschritte. Ich glaube, Shane dachte das auch.“ „Hey“, sagt Tina und legt eine Hand auf meine, „es ist schwer am Anfang, aber sie wird das schaffen. Sie wird wieder laufen. Da bin ich mir ganz sicher.“ Auch Alice legt nun ihre Hand dazu und lächelt. Ich lächle zurück und nicke.
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Shane’s POV:
Es ist zum verrückt werden. Ich sitze den ganzen Tag zu Hause und weiß nicht, was ich machen soll. Ich sitze in diesem Ding und lerne auch, damit umzugehen, aber auf Dauer kann ich nicht tagelang auf der Terrasse sitzen und Autos zählen und Wolken beobachten. Ich werde mir überlegen müssen, was ich mit meinem Leben anfangen möchte. Irgendetwas muss es doch geben, was mir Erfüllung bringt.
Ich seufze und rolle zurück ins Wohnzimmer und an Anna’s Schreibtisch, wo der Computer steht. In zwei Tagen ist Weihnachten und ich habe noch kein Geschenk für sie. Und da ich schlecht in die Stadt fahren und etwas für sie kaufen kann, muss das gute alte Internet her. Ich suche die Seite eines Juweliers in Los Angeles, der seine Schmuckstücke auch im Internet verkauft. Eigentlich kann ich es mir nicht leisten, Geld auszugeben, viel habe ich nicht, aber Anna soll ein Geschenk bekommen, das ihr gefällt. Außerdem dauert es nicht mehr lange, bis der Prozess gegen Doug an und da kann ich wohl einiges an Schadensersatz erwarten. Vielleicht ist es falsch, so zu denken, doch was bleibt mir jetzt noch.
Ich finde einen hübschen Ring mit einem Bernstein, der auch nicht ganz so teuer ist. Der würde Anna bestimmt gefallen. Sofort schreibe ich mir die Nummer auf und rolle zum Telefon. Es klingelt drei Mal, bis sich jemand meldet. „Cole Juwelry Los Angeles. Hier spricht John Cole.“ „Mr. Cole, hier spricht Shane McCutcheon.” “Guten Tag, Ms. McCutcheon, was kann ich für sie tun?” „Ich habe einen Ring auf Ihrer Internetseite gesehen, den ich gerne kaufen möchte. Leider kann ich nicht selbst vorbeikommen.“ „Um welchen Ring handelt es sich denn?“ „Der Berstein-Ring, Nummer 347.“ „Oh, der ist besonders schön. Kaufen Sie ihn für sich selbst?“ „Nein, für meine Freundin.“ „Zur Verlobung? Dieser Ring wird oft zur Verlobung gekauft. Ich könnte etwas eingravieren.“ „Ich… nein, keine Verlobung. Nur ein Weihnachtsgeschenk.“ „Ich verstehe.“ „Ich werde eine Freundin von mir vorbeischicken, Bette Porter. Sie wird alles Weitere mit Ihnen klären. Legen Sie mir den Ring doch bitte bis dahin zurück.“ „Kein Problem, Ms. McCutcheon. Vielen Dank.“ „Ich danke auch, Mr. Cole. Auf Wiederhören.“
Ich lege den Hörer auf und schaue aus dem Fenster. Ich weiß nicht, wie lange ich so dagesessen habe, als ich plötzlich erneut den Hörer in die Hand nehme und wähle. „Cole Jewelry Los Angeles. Hier spricht John Cole.“ „Shane McCutcheon.“ „Ms. McCutcheon, was ist passiert? Wollen Sie den Ring doch nicht kaufen?“ „Doch… doch, es ist nur… ich habe nochmal nachgedacht über das, was Sie gesagt haben. Ich möchte den Ring immer noch kaufen, und zwar als Verlobungsring.“
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Bette’s POV:
Es wird Zeit, dass Weinachten ist. Dann habe ich endlich zwei komplette Wochen Urlaub. Und ich finde, ich hab mir das redlich verdient. Der ganze Papierkram auf meine Schreibtisch macht mich noch wahnsinnig. Plötzlich klingelt das Telefon. „Bette, Shane ist dran. Soll ich sie durchstellen.“ „Klar. Danke.“
„Bette?“ „Hey Shane, alles in Ordnung?“ „Na ja, ich bin nicht so sicher.“ „Was heißt das, ist irgendetwas passiert?“ Ich werde etwas unruhig. „Nein, nein. Ich.. na ja, ich hab gerade einen Verlobungsring bestellt.“ Ich bin kurz sprachlos. „Du hast was?“, frage ich dann ungläubig? „Ich… hab einen Verlobungsring bestellt.“ „Shane, das… das ist ja super. Ich freue mich so!“ „Wirklich? Meinst du, ich tue das Richtige?“ „Aber klar. Anna und du, ihr gehört zusammen, auf jeden Fall! Aber wie kommst du jetzt darauf? Hast du das schon länger geplant? Warum erfahre ich erst jetzt davon?“ „Es war eher spontan, würde ich sagen.“ Dann erzählt sie mir die Geschichte mit dem Juwelier.
„Und jetzt brauche ich deine Hilfe.“ „Meine Hilfe? Du willst dich verloben.“ „Ja, schon, aber du musst erstens den Ring für mich abholen. Und du musst mir helfen, alles vorzubereiten. Für heute Abend.“ „Du willst es heute Abend tun?“ „Ja, morgen kommen Anna’s Eltern und ich will sie unbedingt vorher fragen. Außerdem….“ Sie bricht ab. „Was?“ „Außerdem will ich ihr endlich von Marcus und der Vergewaltigung erzählen. Wenn ich mich mit ihr verlobe, will ich, dass sie das weiß. Alles. Nichts soll zwischen uns stehen, verstehst du?“ Ich lächle, auch wenn sie das nicht sehen kann. „Ja, Shane, das kann ich sehr gut nachvollziehen. Und ich halte es für die richtige Entscheidung.“
~*~
Alice’s POV:
Tina, Anna und ich sind zu Small Talk übergegangen, als mein Handy klingelt. „Hallo?“ „Hey Alice, hier ist Bette. Bevor du was sagst, bist du noch bei Tina? Ist Anna auch da?“ „Äh… ja, warum?“, frage ich etwas verdutzt. „Geh am besten mal woanders hin, ich muss dir was erzählen.“ „Okay.“
Ich stehe auf, nicke den beiden anderen zu und gehe auf die Terrasse. „Was ist los, Bette?“ „Okay, Alice, ich sag es dir, aber versprich mir, dass du ruhig bleibst, okay? Tina und Anna dürfen nichts davon mitbekommen, vor allem nicht Anna, alles klar?“ „Nun sag schon.“ „Versprichst du es?“ „Jaha.“ Ich platze fast vor Neugier. „Shane will Anna heute Abend einen Heiratsantrag machen.“ „Was?“ „Brüll doch nicht so. Ich hab doch gesagt, dass du leise sein sollst.“ „Sorry, aber das ist ja wohl mega-aufregend, oder?“ „Ist es. Aber du musst dich jetzt zusammenreißen, Al, wir brauchen nämlich deine Hilfe.“ „Wobei?“ „Du musst Anna auf jeden Fall noch mindestens drei Stunden aufhalten, vorher darf sie nicht nach Hause kommen, hast du verstanden?“ „Nichts leichter als das. Wir machen Last Minute-Weihnachts-Shopping.“ „Super. Danke, Alice.“
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer zu Tina und Anna. Ich muss mich zusammenreißen, dass ich die Neuigkeiten nicht ausplaudere. „Wer war das?“, fragt Tina. „Das… das war Dana.“ „Und was war so geheimnisvoll, dass du quasi vor uns geflüchtet bist?“ „Ähm, das… also das… kann ich euch nicht sagen.“ „Alice, ihr hattet nicht etwa Telefonsex, oder?“ Einen Moment schaue ich sie verblüfft an. Dass sie überhaupt auf einen solchen Gedanken kommen kann. Doch ich zögere einen Moment zu lange. „Alice! Ihr haltet es auch nicht ohne einander aus.“ Ich werde rot. Aber sie haben mir immerhin abgenommen, dass das wirklich Dana am Telefon war.
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Shane’s POV:
„Hast du den Ring?“ frage ich nervös und rolle auf Bette zu, die gerade die Tür geöffnet hat. „Hallo erstmal.“ „Hallo. Und?“ „Was und?“ „Na, hast du den Ring?“. Ich bin ganz aufgeregt. „Meine Güte, Shane. Nun mach dich mal locker. Du machst mich noch ganz nervös. Ich hab den Ring und auch die anderen Sachen.“ Ich atme tief durch. „Gut. Zeig her.“
Ich nehme die kleine viereckige Schachtel aus Bette’s Hand und öffne sie, als mir schon der Ring entgegenblitzt. Er ist noch viel schöner als auf dem Bild, das ich im Internet gesehen habe. Ich nehme den Ring aus der Schachtel und betrachte den Bernstein. Der gefällt Anna bestimmt. Ich drehe ihn so, dass ich die Innenseite sehen kann. „Shane & Anna“ steht da in verschnörkelter Schrift eingraviert. „Er ist wirklich wunderschön“, stimmt Bette mir zu und lächelt. „Ja“, antworte ich verträumt, bevor ich wieder aus meiner Verwunderung hochfahre. „Jetzt aber an die Arbeit. Es gibt noch viel vorzubereiten.“
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Anna’s POV:
„Hast du denn schon ein Geschenk für Shane?“, fragt mich Alice, als wir durch die Stadt laufen. So viele Leute, die alle noch Geschenke für ihre Liebsten besorgen, sind unterwegs. Ich komme mir vor wie auf dem Volksfest. „Nein. Ich hatte gehofft, ich finde noch was. Ich habe ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer, was ihr gefallen könnte. Sie hat extra noch zu mir gesagt, ich solle ihr nichts schenken. Ich hätte ihr schon so viel geschenkt. Sie hat mir wieder eine Moralpredigt gehalten, wie viel Geld ich in den Umbau gesteckt habe.“ „Shane hält nicht viel von Geschenken. Sie mag es nicht, wenn man Geld für sie ausgibt“, wirft Tina ein. „Ich weiß, und deshalb möchte ich ihrem Wunsch gerne zumindest entgegenkommen. Es muss ja nichts Großartiges sein, aber ich möchte ihr zumindest eine Kleinigkeit schenken. Schließlich ist Weihnachten.“
Ohne noch ein Wort zu sagen, laufen wir weiter in dem Trubel, der auf den Straßen von Los Angeles herrscht. Wahrscheinlich haben Alice und Tina auch keine Idee, was ich Shane schenken könnte. Doch plötzlich sehe ich einen Drehständer mit verschiedenen Schlüsselanhängern und mir kommt eine Idee. Shane wohnt nun seit fünf Tagen bei mir und sie hat noch keinen Schlüssel. Bisher hat sie noch keinen gebraucht, deshalb habe ich auch gar nicht dran gedacht, ihr einen zu geben. Ich kaufe ihr einen hübschen Anhänger und schenke ihr meinen, nein, unseren Haustürschlüssel.
Tina und Alice haben mich anscheinend auf den Ständer starren gesehen, den Tina sagt: „Das ist eine wunderbare Idee, Ann.“ „Stimmt. Und so hast du noch nicht mal viel Geld ausgegeben.“ Ich lächle sie an. „Welchen würdet ihr nehmen?“ „Geh doch mal in das Geschäft rein, vielleicht gibt es da noch mehr“, schlägt Alice vor.
Und tatsächlich. Es gibt eine riesige Auswahl an Anhängern. Nach zwanzig Minuten habe ich einen eigenen zusammengestellt, aus vielen kleineren Elementen. Da war ein „S“ und ein „A“, außerdem einen grünen Jadestein, der Stein der Liebe und ein kleines Herz. Ich hoffe, Shane findet das nicht allzu kitschig.
to be continued...
Kapitel 27 - Part 2
Bette’s POV:
„War’s das? Ich hoffe, dass du dich nur ein Mal verlobst, ein zweites Mal mach ich das nämlich nicht mit.“ „Keine Sorge, Bette. Ich verspreche dir, das wird das einzige Mal sein. Und ja, ich denke, es ist soweit alles fertig.“
Auf dem Tisch stehen zwei Teller, Kerzen, Weingläser und ein paar Rosenblätter sind darauf verstreut. Auf dem Ofen steht eine Pfanne mit Pasta, eigenhändig zubereitet von Shane und mir. „Anna wird überwältigt sein, Shane.“ Shane lächelt. Doch dann wird ihr Gesichtsausdruck plötzlich ernst. „Was ist los? Shane?“ „Bette, was ist, wenn Anna… wenn sie nicht will?“ „Ach Shane, rede keinen Schwachsinn, natürlich sagt sie ja.“ „Aber was mache ich, wenn nicht?“ „Shane.“ Ich werfe ihr einen Blick zu, der keine Fragen offen lässt. „Okay, okay. Nun, Bette, es tut mir leid, aber ich muss dich jetzt rauswerfen. Geschlossene Gesellschaft.“ Ich lache. „Klar. Shane, das wird gut, okay? Ich weiß es. Mach dir keine Gedanken. Sie wird ja sagen, ihr werdet heiraten und bald werden hier viele kleine Sharmens rumtapsen.“ „Ach, halt den Mund, Bette.“ Ich kichere. „Schon gut, schon gut. Morgen will ich Infos, klar? „Klar. Und jetzt raus.“
Lächelnd gehe ich aus dem Haus zu meinem Auto. Als ich einsteigen will, sehe ich am Ende der Straße Anna’s Auto auftauchen. Ich warte, bis sie in die Einfahrt gefahren ist und aussteigt, 2 große Tüten in der Hand.“ „Hey, Bette.“ „Anna. Na, Weihnachtseinkäufe erledigt?“ „Du, ich kann dir sagen, das war gar nicht so einfach. Und in der Stadt war die Hölle los.“ „Kann ich mir vorstellen.“ Ich lächle. „Was habt ihr den ganzen Nachmittag getrieben?“ Ich zucke mit den Schultern. „Ach, nicht viel. Wir… wir haben uns einen Film angesehen und gequatscht. Wir hatten Spaß.“ „Das ist schön. Ich freue mich, wenn es Shane gut geht.“ „Das tut es. Sie wartet auch schon auf dich.“ „Gut. Wir seh‘n uns, Bette.“ „Ciao, Ann.“ Mit einem Grinsen auf dem Gesicht steige ich in mein Auto und fahre davon.
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Anna’s POV:
Als ich ins Haus komme, sitzt Shane in ihrem Rollstuhl vor einem liebevoll gedeckten Tisch, zwei Gläser Wein in der Hand. Sie lächelt und hält mir eines davon entgegen. „Was ist denn hier los?“, frage ich überrascht, stelle meine Taschen ab und nehme das Glas. „Ich dachte, ich überrasche dich.“ Ich blicke zum Tisch. Kerzen, Rosenblätter, einfach wunderschön. „Nun, ich würde sagen, das ist dir gelungen.“ Wir stoßen an und trinken. „Hunger?“, fragt Shane dann. „Auf jeden Fall“, sage ich und setze mich an den Tisch. Sie stellt ihr Weinglas auf den Tisch, rollt zum Herd und nimmt eine Pfanne mit Pasta, von der sie mir etwas auf meinen Teller gibt. Nachdem sie sich selbst etwas davon auf den Teller getan hat und die Pfanne wieder zurückgestellt hat, setzt sie sich zu mir an den Tisch. „Sag, womit hab ich das verdient?“ „Anna, ich wollte dir einfach mal danke sagen. Für alles, was du für mich getan hast.“ „Du weißt, dass ich das aus Liebe getan habe.“ „Ja. Und trotzdem möchte ich dir danken. Nun lass uns essen, bevor es kalt wird.“
Ich kann nicht glauben, dass Shane das alles für mich vorbereitet hat. Und Bette hat vorhin noch so unschuldig getan. Ich lächle und fange an, zu essen. Die Pasta ist köstlich. Shane entwickelt ungeahnte Fähigkeiten.
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Shane’s POV:
Ich glaube, Anna hat es geschmeckt. Und ich bin unglaublich froh darüber. Langsam werde ich etwas nervös. Ich muss es jetzt tun. Ich muss es ihr sagen. Endlich. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Und bevor ich mich mit ihr verlobe, will ich reinen Tisch machen. Das ist nur fair Anna gegenüber. Außerdem macht das die ganze Sache auch leichter für mich.
„Das war köstlich, Shane. Vielen Dank.“ Ich lächle. „Kochen ist nicht so schwer, wie ich immer dachte.“ Anna steht auf, um die Teller wegzuräumen, und ich lasse sie. Ich selbst würde die Teller nie heil zum Spülbecken bringen. Dann setzt sie sich wieder zu mir.
„Anna. Ich möchte dir gerne etwas sagen. Das… das ist nicht so ganz einfach für mich, aber ich will, dass du das weißt. Ich muss allerdings zugeben, dass ich etwas Angst davor habe.“ Sie legt ihre Hände auf meine und sieht mich ernst an. „Shane, was immer es ist, du musst keine Angst haben. Du kannst mir alles sagen. Ich liebe dich.“ Ich lächle. „Ich liebe dich auch. Trotzdem ist es nicht einfach für mich.“ „Lass dir alle Zeit der Welt.“
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Anna’s POV:
Ich möchte ihr Zeit geben. Die Zeit, die sie braucht, wie lange es auch dauert. Shane ist bereit, sich mir zu öffnen, und dafür habe ich Geduld. Lange starrt sie auf die Tischplatte. Dann fängt sie an zu reden.
„Meine Mutter war drogenabhängig. Als ich ein kleines Kind war, hat sie mich weggegeben. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.“ Sie sieht mich an, um sich zu vergewissern, dass ich will, dass sie weiter erzählt. Ich werfe ihr einen ermutigenden Blick zu und sie fährt fort. „Zuerst kam ich in ein Kinderheim, danach war ich in vier verschiedenen Pflegefamilien. Mit den ersten dreien bin ich nicht gut zurecht gekommen, doch die vierte Familie war… na ja, sie waren das, was man sich unter einer Familie vorstellt. Tom und Christine Johnson, mit ihren drei Kindern Sarah, Johnny und Claire.“ Ihre Augen leuchten, als sie mir von ihrer Pflegefamilie erzählt. Ich frage mich, was passiert ist, dass sie nicht bei ihnen geblieben ist.
„Meine Geschwister waren meine Freunde. Dann waren da noch die Nachbarsjungen, Marcus und sein jüngerer Bruder, Moses. Marcus und ich verstanden uns blind und ich dachte wirklich, mein Glück wäre perfekt. Ich hatte eine Familie, die mich liebte und die ich liebte. Und ich hatte einen Freund, der mich verstand. Zumindest dachte ich das. Ich dachte, er sähe mich als genau das. Als Freund. Doch eines Tages sagte er mir, dass er mich liebt.“ Sie schweigt und senkt den Kopf. Ich warte einige Augenblicke, doch sie schweigt weiter. „Shane. Was ist passiert?“ Sie hebt den Kopf und sehe die Tränen in ihren Augen glitzern.
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Shane’s POV:
Ich merke die Angst in mir hochsteigen. Die Angst davor, es noch einmal laut auszusprechen. Und die Angst vor ihrer Reaktion. Doch ich darf jetzt keine Angst haben. Ich habe es Bette erzählt, und ich werde es Anna erzählen. Ich muss. Ich will. Und plötzlich habe ich keine Angst mehr.
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„Hörst du, Shane, ich liebe dich.“ Immer noch schaue ich ihn an. Dann finde ich meine Stimme wieder. „Ma, ich … ich kann nicht, ich …“. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Jetzt ist er es, der mich anstarrt und ich will ihn nicht verletzen. „Ich kann nicht mit dir zusammen sein, versteh das doch.“ „Wieso denn nicht? Shane, ich liebe dich.“ „Marcus, ich bin aber nicht in dich verliebt. Ich bin lesbisch.“
Ich schließe meine Augen, und als ich sie wieder öffne, sehe ich in seinen nur Kälte und Hass. Ohne ein Wort zu sagen, schlägt er mir zwei Mal ins Gesicht. Ich falle zurück und komme mit dem Hinterkopf auf dem harten Steinboden auf. Mir ist schwindelig. „Marcus, was tust du denn da? Hör auf damit, du tust mir weh!“ Er schlägt ein drittes Mal zu und öffnet meine Hose. Reißt meine Bluse auf. Entblößt mich. Ich habe Angst. Unsägliche Angst. Ich weiß, was er vorhat und ich kann mich nicht dagegen wehren. Mir ist kalt. Ich fange an zu weinen, zu schreien. „Halt dein verdammtes Maul, du Hure!“ „Bitte Ma, hör auf. Bitte, hör auf.“
Nach einem weiteren Schlag auf mein Gesicht, öffnet er seine Hose. Meine Nase blutet, mein linkes Auge schwillt an. Ich weine bitterlich, nicht nur wegen der Schmerzen. Ich bin zu schwach, um mich zu wehren. Weiß, dass mich niemand hören würde. „Hör auf!“ Er hört nicht auf. Er dringt in mich ein. Ich schreie auf. Er stößt und stößt, immer wieder. Fügt mir unglaubliche Schmerzen zu. Schmerzen, die ich nie wieder zu spüren bekommen will. Dann wird alles um mich herum schwarz.
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„Meine Güte, Shane. Er hat… er hat dich vergewaltigt?“ Sie weint. Ich nicke. „Nach diesem Tag bin ich von meiner Pflegefamilie weggelaufen. Was passiert war, war mir peinlich. Ich konnte ihnen nicht genug vertrauen, um es ihnen zu sagen. Heute weiß ich, dass das ein Fehler war. Wie auch immer. Ich bin weggegangen. Dann lernte ich Clive kennen. Er hat mich in die Welt der Drogen eingeführt. Und in das Leben auf dem Strich. Ich war anschaffen, um Geld zu verdienen.“
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Anna’s POV:
Ich kann nicht glauben, was Shane mir erzählt. Kann nicht glauben, was sie alles durchgemacht hat. Ich habe Mitleid für sie, weine für sie. Mit ihr.
„Als ich 19 war, wurde endlich alles anders. Zumindest dachte ich das. Clive hat mir einen Job besorgt, ich wurde Friseuse. Durch den Job habe ich Cherie kennengelernt. Sie war älter als ich, hatte Mann und Kind, war reich. Und ich habe mich unsterblich in sie verliebt. Steve, ihr Mann, erfuhr von unserem Verhältnis, ihre Tochter Clea hatte uns in flagranti erwischt. Er hat mir gedroht mich umzubringen, käme ich noch einmal in die Nähe seiner Familie.“ Sie seufzt. „Ich habe mich mit Heroin zu trösten versucht. Und es hat eine Zeit lang funktioniert. Dann habe ich dich kennen gelernt. Und zum ersten Mal wollte ich von diesem Stoff loskommen, doch es ging nicht.“ „Nimmst du es immer noch?“ Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Wenn dieser Unfall ein Gutes hatte, dann war es die Tatsache, dass ich dadurch davon losgekommen bin.“ Sie lächelt schwach. „Anna. Als ich im Krankenhaus war und mich im Park verletzt habe, habe ich Moses gesehen. Er hat mir erzählt, dass Marcus sich umgebracht hat, wegen mir. Dass ich an allem Schuld bin. Aber ich weiß jetzt, dass das nicht stimmt. Was Marcus mir angetan hat, ist unverzeihlich.“ Wieder seufzt sie und wischt sich die Tränen vom Gesicht. „Anna, ich liebe dich. So sehr.“ „Ich liebe dich auch, Shane. Und ich bin froh, dass du mir das alles erzählt hast.“ „Es war nicht einfach, aber jetzt fühle ich mich besser. Es ist Zeit für einen Neuanfang, für mich, für uns.“
Ich lächle. „Anna. Ich liebe dich mehr als alles andere auf dieser Welt. Ohne dich hätte ich die letzten Wochen nicht überlebt. Ich brauche dich, du bist der Grund, warum ich so glücklich bin, auch wenn ich in diesem Ding sitze.“ Sie rollt auf die andere Seite des Tisches, neben mich, und greift in die Tasche ihres Blazers und nimmt eine kleine Box heraus. Ich sehe sie verwundert an. Kann es sein, dass… ? „Es tut mir Leid, dass ich nicht auf die Knie fallen kann.“ Sie öffnet die Box. „Anna, willst du mich heiraten?“
_________________ ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.
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