Kapitel 9: When they come for me
"Aber wenn ich ehrlich bin, so habe ich angenommen, dass du das alles nur veranstaltet hast, damit du mich ins Bett kriegen kannst.“ Bei den letzten Worten sah sie Ansgar an, und ihr verschlug es fast die Sprache, denn er sah beinah gekränkt, verletzt aus. „Das hätte ich in Zürich haben können“, sagte er nur. „Erinnerst du dich, dass ich es war, die dich abgewehrt hat? Und weisst du auch warum? Weil ich gespürt habe, dass du es hinterher bereuen würdest, und ja, vielleicht hat es mir auch Spass gemacht zu wissen, wie weit du gehen würdest." „Ich weiss. Ich weiss, dass wir miteinander im Bett gelandet wären, wenn du das Ganze nicht gestoppt hättest. Genau wie in Caracas. Wäre Kim nicht gekommen…“ Sie sprach nicht weiter. Ansgar wusste auch so was sie meinte. Er wollte es jedoch noch einmal aussprechen, um bei Victoria eine Reaktion hervorzurufen, zu sehen wie sie sich verhielt, wenn er die Dinge beim Namen nannte." “Wäre Kim nicht gekommen, so hätten wir miteinander geschlafen“, sagte er. Wieder blickte Victoria wie ein scheues Reh. „Und genau das mein ich, Victoria. Jeder von uns weiss, was passiert wäre, wenn Kim nicht gekommen wäre. Aber keiner weiss, was für Konsequenzen es gehabt hätte, hätten wir die Nacht zusammen verbracht.“ Victoria konnte Ansgars Blick auf sich nicht mehr ertragen und sprang auf. „Gar keine! Selbst wenn wir zusammen geschlafen hätten, so hätte ich immer gewusst, dass ich Thomas liebe“, sagte sie eine Spur zu heftig. Ansgar liess sich nicht beeindrucken. „Victoria, ich will dich nicht provozieren, ich will dich auch nicht ärgern. Alles was ich will ist, die Sache zu hinterfragen.“ “Was hast du denn davon?“ wollte Victoria jetzt aufgebracht wissen. „Allein, dass du dich schon so echauffierst zeigt mir, dass da etwas zwischen uns war", stellte er fest. „Ja, selbst wenn, Ansgar, es ist VORBEI“, sagte sie vehement. „Das akzeptier´ ich ja“, meinte er einlenkend, „aber bitte, sei ehrlich zu mir. Was ging in dir vor in der Kapelle, als du merktest, dass es nicht Thomas war, der alles so hergerichtet hat.“
Wieder sah Victoria Ansgar unsicher an. Sie merkte, dass sie sich eigentlich nicht auf Ansgars Fragestunde einlassen wollte, aber als sie spürte, dass es ihm wirklich wichtig war, setzte sie sich wieder hin und sagte: „In dem Moment als du zur Kapelle reinkamst und ich dich sah, nach meiner Liebeserklärung an Thomas, das war schon komisch. Ich habe aber einfach nur angenommen, dass das alles Teil des großen Plans war mich ins Bett zu kriegen. Und die Dinge, die ich Thomas gesagt habe, habe ich ernst gemeint, Ansgar.“ „Ja, ich weiss. Ich lasse dich und Thomas ja auch in Ruhe, aber hast du dich nie gefragt, ob es mehr war zwischen uns als nur körperliche Anziehung?“ fragte er dann erneut. „Auch das, ja. Ich konnte es mir selbst nicht beantworten, Ansgar. Ich habe dieses Verlangen nach dir gespürt, wann immer wir uns begegnet sind, ich konnte kaum an mich halten, ich habe vom Sex mit dir geträumt, ich habe mir immer und immer wieder versucht einzureden, du wärst nicht gut für mich, und letztendlich wusste ich schon, dass ich Thomas liebe, aber ich habe mich auch gefragt, warum du diese Anziehungskraft auf mich ausübst. Habe mich gefragt warum in aller Welt, wenn ich doch glücklich mit Thomas bin, kannst du so eine verdammte Wirkung auf mich haben?“ Jetzt war auch Victoria ehrlich gewesen. „Und ich habe Monate versucht, dagegen anzukämpfen, und ja, in Zürich wäre es passiert oder in Caracas. Ich weiss nicht, ob es was geändert hätte, Ansgar. Ich kann es dir nicht sagen. Aber um ehrlich zu sein, ich habe mir diese Frage nie wirklich gestellt, weil ich immer davon ausgegangen bin, dass du eh nur mit mir ins Bett wollest.“ Victoria war jetzt wieder aufgestanden. Sie wollte diese Unterhaltung beenden. „Ansgar, bitte sei mir nicht böse, ich kann und möchte nicht weiter darüber reden. Ich habe schon viel zu viel gesagt.“ Victoria ging zur Tür und als sie die Klinke herunterdrückte, hörte sie wie Ansgar sagte: „Das war nichts so.“ Victoria blieb stehen drehte sich aber nicht um. „Ich wollte dich nicht nur ins Bett kriegen, Victoria. Da war mehr.“ Victoria schloss die Augen und atmete tief durch. Dann verliess sie Ansgars Büro.
Er fing schon wieder an. sie wollte das nicht. Sie wollte von dem Thema „Ansgar“ nichts mehr hören. Es gab nichts mehr zu reden, so fand sie. Warum nur fing er immer wieder davon an? Victoria war auf dem Weg nach Hause im Auto intensiv damit beschäftigt, diesen Umstand zu hinterfragen, warum Ansgar nicht aufhören konnte zu bohren, und vor allen Dingen, warum sie nicht aufhören konnte, darüber sinnieren - weswegen es überhaupt in ihrem Gehirn Platz hatte, über Ansgar und das was gewesen war, nachzudenken. Sie liebte Thomas, und nein, sie wollte keine Affäre mit Ansgar haben. Weder gab es noch erotische Momente, bei denen sie sich wünschte auf der Stelle über Ansgar herzufallen noch zweifelte sie an ihrer Liebe zu Thomas, aber sie fand es schon merkwürdig, dass Ansgar nach Wochen, ja Monaten wieder damit anfing. Hatte sie sich doch in ihm gettäuscht, und er war seinerzeit nicht nur auf das Eine ausgewesen? Sie konnte es sich kaum vorstellen, und doch hatte sich Ansgar verändert in der letzten Zeit. Sein intrigantes Wesen war kaum noch zum Vorschein gekommen, er war zuvorkommend, ja beinah hilfsbereit gewesen in den letzten Wochen. Als sie Zuhause vor iher Tür ankam, beschloss sie, nicht weiter nachzudenken und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Doch in ihrem Hinterkopf machte sich ein Gedanke breit: der Gedanke, dass sie Ansgar vielleicht doch unrecht getan hatte.
Ansgar hatte das ehrliche Gespräch mit Victoria aufgerüttelt. Er hatte zwar gespürt, dass sie ein wenig dichtgemacht hatte als er wieder von dem Thema anfing, aber zum Schluss hatte er deutlich gemerkt, dass er sie mit seinen Worten erreicht hatte. Er wunderte sich über sich selbst. Normalerweise war es gar nicht seine Art, über diese Dinge zu reden, schon gar nicht mit Victoria. Zu stark bohrte noch der Gedanke der Niederlage gegen den Waldschrat seinen Stachel in sein Gehirn, aber seit seinem Geburtstag war irgendetwas anders. Er war anders. Es war als hätte die Zahl "40" etwas in seinem Gehirn durcheinander gebracht, und wenn er es sich eingestehen würde, so wusste er auch was es war. Angst. Er hatte Angst, wenn er in die Zukunft sah. Angst davor, alleine zu bleiben, Angst davor zu vereinsamen, Angst davor, dass die Prophezeihung von Thomas eintreten würde, dass er irgendwann nichts weiter besitzen würde als sein Schloss, und seine Macht. Eigentlich war Ansgar immer ein Einzelkämpfer gewesen, aber in der letzen Zeit hatte er sich vermehrt nach etwas anderem gesehnt. Wenn er Thomas und Victoria oder Kim und Emilio, ja, selbst wenn er Ludwig und Elisabeth beobachtete, und sah, wie sie mehr oder minder glücklich miteinander waren, dann wünschte er sich, es würde das auch für ihn geben - es würde eine Person geben, der er vertrauen konnte, die ihn nahm wie er war, die für ihn dawar, und für die auch er da sein konnte. Es machte ihn traurig, wenn man ihn lediglich reduzierte auf Sex und darauf, dass ein Mann wie er es unmöglich ernst meinen konnte. Das war nicht so. Er hatte es bei Lydia gemerkt, dass er lieben konnte, und auch wenn er bei Victoria nicht sicher war, was er fühlte, so traf es ihn auch hier, dass sie ihm jegliche Fähigkeit ernsthafte Gefühle zu entwickeln absprach. Er nahm sich vor, Victoria zu beweisen, dass er auch anders konnte. Nicht, weil er sie für sich gewinnen wollte, sondern weil er sie als Person, als Mitarbeiterin und auch als Vertraute schätzte. Er konnte sich vorstellen, in Victoria eine Freundin zu sehen, keine Geliebte sondern eine Person, der er sich anvertrauen konnte.
Als Ansgar an diesem Abend ins Bett ging, war er schon besser gestimmt. Es würden auch für ihn wieder bessere Zeiten kommen, da war er sich sicher. Dass sich in seinem Brustkorb schon wieder ein komisches Gefühl breitmachte, ignorierte er geflissentlich.
In der Nacht schreckte er hoch. Es war noch stockdunkel im Zimmer und er tastete hastig nach seiner Nachtischlampe. Mit zittrigen Händen gelang es ihm diese anzustellen. Ansgar war schweissgebadet, sein Atem ging stossweise, er hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Panik stieg in ihm auf. Jetzt war es soweit. Jetzt bekam er die Quittung für jahrelangen Alkoholkonsum und seine Zigarrensucht. Es fühlte sich an als müsste er sterben. Was sollte er tun? Sich einen Krankenwagen rufen? Aber was sollte der bringen? Es war anscheinend sowieso zu spät. Er fasste sich an die Brust. Sein Herz schlug sehr schnell, und er hörte den Herzschlag bis in den Kopf. Er griff nach seinem Handy und wollte die Nummer von Kim wählen, doch sie fiel ihm nicht ein, er stand total neben sich. Hektisch und mit zittrigen Händen suchte er in seinen Kontakten nach der Nummer, aber er schaffte es nicht, sie herauszusuchen. Seine Atemnot wurde schlimmer, das Herzrasen nahm zu. 'Großer Gott' dachte Ansgar und wählte in totaler Panik die Nummer der 112. „Ansgar von Lahnstein“, jappste er in den hörer. „Schloss Königsbrunn – ich habe einen Herzinfarkt, schnell…“
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