Hallo liebe Rotis,
wo ich hier wieder durchs Forum browse, bekomme ich doch glatt wieder Lust auf VL - und Lust aufs Schreiben. Allerdings kann ich ja leider nur Canna (wie das klingt "Ich kann nur Canna", aber naja), und ich weiß gar nicht, ob das hier überhaupt noch jemanden interessiert nach SuCa und Starla und MarBecca und überhaupt. Und abgesehen davon: Da ich in einer anderen Geschichte schon alles zum Original gesagt habe, muss ich auch noch auf ein "alternatives Universum" ausweichen.
Da ich heute zufällig frei hatte, habe ich aber trotzdem mal losgeschrieben und Carla und Hanna prompt ein paar Jahrhunderte in die Vergangenheit versetzt. Das bringt schon allein die Schwierigkeit mit sich, dass der Name Carla damals noch nicht existierte und die Namen Lars und Florian schon gar nicht. Also musste ich mich mit den Vorgänger-Namen zufrieden geben, was hoffentlich nicht allzu sehr irritiert. Falls Ihr Lust habt, weiterzulesen, schreibe ich gern weiter, ansonsten hatte ich zumindest einen vergnüglichen Tag vor dem PC . Hier kommen die ersten zwei Kapitel:"ÜBER ALLE GRENZEN"1. KapitelEin fahles Mondlicht schien durch die hohen Fenster des Schlosses, als eine schwarz gekleidete Gestalt die geschwungene Treppe hinunter huschte. Die verrußte Öllampe in ihrer Hand spendete kaum mehr Helligkeit als die Sterne draußen am Himmel, aber Carlotta von Lahnstein war die Stufen in ihrem Leben schon so oft hinauf und hinunter gelaufen, dass sie mit verbundenen Augen zum Ausgang gefunden hätte.
Auf Zehenspitzen schlich sie an den Zimmern der Bediensteten vorbei und atmete erst auf, als die große Eingangstür hinter ihr ächzend ins Schloss fiel. Vorsichtig stellte sie die Öllampe auf den Steinen ab und zog sich eine schwarze Kutte über, die ihren Körper vollständig verhüllte. Es war ungewöhnlich kalt für eine Aprilnacht, aber es roch schon nach Gras und Laub und Carlotta nahm einen tiefen Atemzug, als sie ihren Weg zum Ausgang des Schlossparks fortsetzte.
In den letzten Monaten hatte Carlotta festgestellt, dass die Nacht andere Gerüche vorhielt als der Tag. Früher war sie selten im Dunkeln draußen gewesen und schon gar nicht außerhalb des Schlosses. Ihre Eltern hatten immer zu viel Sorge, dass ihr etwas zustoßen könnte, schließlich war sie die einzige Tochter unter den drei Sprösslingen der Grafenfamilie. Insbesondere ihr Vater hütete sie wie seinen eigenen Augapfel, und seit dem tragischen Tod ihrer Mutter war er noch fürsorglicher geworden.
Es fiel dem Grafen sichtlich schwer, seine Tochter aus den Augen zu lassen, denn er vertrat die Meinung, dass das Leben ohne männliche Begleitung für eine Frau grundsätzlich zu gefährlich war. „Warum erhörst du nicht endlich einen der jungen Herren, die dir seit Jahren Avancen machen“, hatte er sie erst neulich gefragt. „Dann wüsste ich dich endlich in guten Händen und könnte aufhören, mir Sorgen zu machen.“
Aber für Carlotta hatte die Ehe nichts Verlockendes. Sie war ihr Leben lang darauf vorbereitet worden, eine Gräfin zu sein, und doch hatte sie das Gefühl, vom Leben noch nichts gesehen zu haben. Sie wusste eine Feier zu gestalten, sie kannte die Etikette in- und auswendig, sie konnte aus dem Stehgreif eine Rede halten, und sie war geübt in der Konversation mit jeder noch so exzentrischen Persönlichkeit. Aber sie hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass das eigentliche Leben sich außerhalb des Schlosses abspielte.
Wer waren die Menschen, die in ihrer Grafschaft lebten und für die sie bald zuständig sein würde? Wie lebten sie und was beschäftigte sie? Was waren ihre Leidenschaften, ihre Sorgen, ihre Nöte, ihre Sehnsüchte? Carlotta kannte noch nicht einmal ein Viertel aller Straßen in der Gegend. Weder ihr Vater, noch sonst irgendjemand vom Schloss würde je auf die Idee kommen, dem Kutscher zu befehlen, eine Route durch die Seitenstraßen der Stadt zu nehmen – zu groß war die Angst vor Raubüberfällen oder Anschlägen, zu groß die Sorge vor unsittlichem Verhalten, dessen Zeugen sie unfreiwillig werden könnten. Und so blieb das Leben des Volkes vor Carlottas Augen verborgen.
Je stärker ihr Vater auf eine Verlobung drängte, desto eingesperrter fühlte sich Carlotta. Und als er vor einigen Monaten seinen Entschluss verkündet hatte, im Frühjahr einen Ball zu veranstalten, war sie das erste Mal nachts aus dem Schloss geflohen. Die alte Kutte, die sie einst auf dem Dachboden der Scheune gefunden hatte, leistete ihr nun gute Dienste, denn diese vermochte nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Gesicht zu verbergen. Niemand kam auf die Idee, dass die zerlumpte Gestalt mit der verrußten Öllampe in der Hand, eine Frau oder gar eine Gräfin sein könnte.
Mit schnellen Schritten bewegte sich Carlotta durch die dunklen Straßen der Stadt. Die groben Schuhe, die sie einem ihrer Knechte abgekauft hatte, hallten auf den nassfeuchten Pflastersteinen, aber die wenigen Menschen, die um diese Zeit noch unterwegs waren, schenkten ihr keine Beachtung. Carlotta wusste den Weg längst auswendig. Seit drei Monaten führte es sie immer wieder an denselben Ort: ein unauffälliges Wirtshaus, das seine Blütezeit längst hinter sich hatte. Sowohl die Fassade, als auch das Innenleben des Lokals war zwar dringend renovierungsbedürftig, aber es war stets gepflegt und liebevoll dekoriert.
Für letzteres war sicher die Wirtin des Hauses verantwortlich. Sie war die Ehefrau des Lokalbesitzers und führte das Haus mit liebevoller Hand. Es war dem Ehepaar anzusehen, dass sie finanziell keine großen Sprünge machen konnten, obwohl das Wirtshaus immer gut besucht war und eine Menge Stammkunden ihm die Treue zu halten schienen. Aber Carlotta hatte selbst mehrfach mitbekommen, wie eine Handvoll Soldaten des Königs in das Haus eingefallen war und sich so grobschlächtig aufgeführt hatte wie eine Meute von Piraten. Die Tatsache, dass sie dem König dienten, nahmen die Männer zum Anlass, den armen Wirtsleuten den gesamten Lohn wegzunehmen. Einmal hatte ein Nachbar am Nebentisch seinen Säbel gezogen und sich den Soldaten mutig in den Weg gestellt, aber die Wirtsleute hatten ihn zurückgebeten – sie wussten nur zu gut, wie geschäftsschädigend ein Kampf in ihrem Hause sein würde.
Der Schreck war Carlotta in die Glieder gefahren, als sie einen der Soldaten erkannte. Es war ein Offizier, der vor einigen Monaten bei ihrem Vater vorgesprochen hatte, und Carlotta war entsetzt gewesen, dass derselbe Mann, der damals so korrekt und wohlerzogen gewirkt hatte, sich in der Nacht am Geld armer Leute bereicherte.
Die junge Gräfin zog die Kapuze der Kutte tiefer ins Gesicht, als sie das schwach erleuchtete Wirtshaus erblickte. „Zum Limes“, prangte in goldenen Lettern über der Eingangstür, obwohl Carlotta nicht sicher war, auf welche Grenze der Name anspielen sollte. Der nahegelegene Rhein vielleicht? Mit geneigtem Kopf trat Carlotta über die Schwelle und wurde vom typischen Stimmengewirr des Lokals empfangen. Es roch nach Erbsensuppe und Schweinebraten, und der Wirt Flurin schritt gerade mit zwei Tellern duftender Bratkartoffeln an ihr vorbei.
Wie immer war Carlottas Stammplatz unbesetzt. Ihr Lieblingstisch stand in der dunkelsten Ecke des Lokals und war, wenngleich unattraktiv für alle anderen Gäste, wie geschaffen für ihre Studien. Dort saß sie Abend für Abend und beobachtete die Menschen, wie sie erzählten, tranken, lachten, stritten und liebten. Und wie jeden Abend nahm Carlotta auch diesmal eine Zeichenmappe aus ihrer Tasche und begann, die Menschen um sie herum auf dem Papier festzuhalten.
Die anderen Gäste hatten sich offenbar längst an die seltsame Gestalt an dem Ecktisch gewöhnt, denn niemand nahm Notiz von ihrem Erscheinen. Nur die Wirtin Isabelle nickte ihr lächelnd zu und bahnte sich einen Weg durch die Tische zu ihr hin. „Guten Abend, werter Herr. Darf es wie immer ein Rotwein sein?“
Carlotta nickte, ohne aufzusehen, und zog erste Striche über das gelbliche Papier. Es passierte ihr selten, dass sie sich über ein Motiv nicht sicher war, aber heute Abend konnte sie sich nicht recht entscheiden. Zwei Männer, offenbar Bauern, die direkt am Tresen saßen, interessierten sie - die beiden diskutierten eifrig über irgendetwas und machten dabei mit ihren groben Händen große Bewegungen in der Luft. Am Tisch schräg hinter ihnen saß ein Paar, das seinen dampfenden Rübenmuss noch nicht angerührt hatte, und die nervösen Blicke, die die beiden von Zeit zu Zeit in den Raum warfen, ließen darauf schließen, dass sie nicht offiziell füreinander bestimmt waren.
Neben dem Paar saß ein junger Mann allein an seinem Tisch, der seltsam deplatziert wirkte mit seinem maßgeschneiderten Anzug und dem sorgfältig gearbeiteten Hut, den er neben sich auf der Bank abgelegt hatte. Wie das Paar hatte auch er sein Essen noch nicht angerührt, sondern starrte unverwandt auf eine Tür hinter dem Tresen, die zur Küche führte. Normalerweise kamen dort die Wirtsleute heraus, wenn sie etwas zu servieren hatten, weshalb Carlotta vermutet hätte, dass den jungen Mann großer Hunger plagte, hätte er nicht schon eine warme Mahlzeit vor sich auf dem Tisch stehen.
Tatsächlich ging die Tür jetzt auf und Carlotta glitt ihr Kohlestift zur gleichen Zeit aus den Händen, wie dem adretten Herrn seine Gabel ins Essen fiel. Die junge Frau, die in der Tür erschienen war, hatte Carlotta noch niemals zuvor hier gesehen. Sie war umwerfend schön und steuerte direkt auf Carlotta zu. Erst jetzt registrierte diese, dass auf dem Serviertablett der Frau ein Glas Rotwein stand, das offenbar für sie bestimmt war. „Guten Abend, werter Herr. Hier ist Ihr Rotwein.“ Die Frau lächelte ein bezauberndes Lächeln und stellte den Wein vor Carlotta auf dem Tisch ab. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Soll ich Ihnen vielleicht eine Kerze bringen? Sie verderben sich noch die Augen.“
Carlotta schüttelte stumm den Kopf und verdeckte mit einer instinktiven Bewegung die wenigen Striche, die sie bisher gezeichnet hatte. Sie hasste es, wenn jemand ihre Werke in einem unfertigen Zustand sah.
Die Frau schien Carlottas Geste verstanden zu haben, denn sie errötete leicht. „Verzeihen Sie, ich wollte nicht aufdringlich sein. Dann lasse ich Sie jetzt in Ruhe arbeiten“, fügte sie hinzu und zog sich von Carlottas Tisch zurück.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Carlotta, dass der junge Herr ihre Unterhaltung beobachtet hatte. Offenbar war er wegen der neuen Wirtin hier, die ihn jedoch bisher ignoriert hatte. Carlotta musste unwillkürlich lächeln, als sie das angefangene Papier vor sich zerknüllte. Das Motiv für diesen Abend war zweifellos gerettet.
* * *
„Meinst du nicht, du solltest deinen Verehrer mal begrüßen?“ Isabelle drückte Hannah einen Krug Bier in die Hand. „Sag deinem Herrn Schneider, das hier ginge aufs Haus.“
Hannah sah unentschlossen auf den Krug in ihrer Hand. „Ich weiß nicht. Nachher fühlt er sich eingeladen, jeden Abend hier vorbeizuschauen.“
„Wäre das denn so schlimm? Ich dachte, du magst ihn.“ Isabelle lehnte sich näher zu Hannahs Ohr. „Immerhin seid ihr schon ein paar Mal ausgegangen.“
„Ja schon. Aber trotzdem muss man ja nichts überstürzen.“
„Wie du meinst.“ Isabelle nahm Hannah das Bier wieder aus der Hand. „Dann bringe ich das jetzt zu Tisch Zwei.“
„Isabelle?“
„Ja?“ Die blonde Wirtin hielt inne, als ihre Freundin sie am Arm festhielt. „Wer ist das dort drüben in der Ecke? Er hat kein einziges Wort gesagt, als ich ihn bedient habe.“
„Ach, der.“ Isabelle machte eine beiläufige Handbewegung. „Der Kerl wirkt ein bisschen unheimlich, nicht wahr? Man munkelt, dass der Graf ihm die Zunge abschneiden ließ, weil er nie redet, aber ich habe mit ihm mal ein paar Worte gewechselt und ich kann dir sagen, er spricht ganz normal.“ Isabelle senkte die Stimme. „Du weißt ja, wie die Leute sind. Sie nennen ihn hier ‘den Künstler‘, weil er immer nur zeichnet, den ganzen Abend lang. Niemand weiß, wer er ist, und wo er herkommt, aber er ist harmlos. Du brauchst ihn nicht zu fürchten.“
„Was glaubst du, warum er sein Gesicht verbirgt?“ Hannah sah absichtlich in eine andere Richtung, um dem ‘Künstler‘ keinen Hinweis zu geben, dass sie über ihn sprachen.
„Keine Ahnung. Vielleicht verbirgt er Narben? Oder er wird gesucht?“ Isabelle runzelte die Stirn. „Ich werde jedenfalls nichts gegen ihn unternehmen, denn er hat sich hier nichts zu Schulden kommen lassen.“
„Er wirkt irgendwie geheimnisvoll“, sagte Hannah, mehr zu sich als zu ihrer Freundin. „Ich wüsste zu gern, was es mit ihm auf sich hat.“
„Oh, geheimnisvolle Gestalten triffst du hier mehr als genug“, lächelte Isabelle. „Und nun mach dich mal wieder an die Arbeit. Die Gäste warten auf ihr Essen.“
Hannah nickte schuldbewusst und verschwand in der Küche, um die nächste Bestellung zu holen. Sie wollte auf keinen Fall, dass Isabelle und Flurin mit ihrer Arbeit unzufrieden waren. Sie war den beiden so dankbar, dass sie sie bei sich aufgenommen hatten, nachdem ihre Schwester sie des Hauses verwiesen hatte. Hannah war noch ein Kind gewesen, als ihr Vater, ein angesehener Hutmacher, an einer Lungenkrankheit verstorben war. Ihre Mutter war damals schon sehr gichtkrank gewesen und hatte sich und ihre Tochter allein nicht versorgen können. Deshalb hatten Hannahs ältere Schwester und deren Gatte sie beide bei sich aufgenommen.
Anfangs war Hannah froh gewesen, ein Dach über dem Kopf zu haben, aber die Atmosphäre im Hause der Schwester war kalt und lieblos. Die Ehe war zerrüttet und der unfreiwillige Familienanhang nichts als zusätzliche Last. Während die Jahre ins Land zogen, träumte Hannah davon, eines Tages einen wohlsituierten Mann zu ehelichen und ihre Mutter bei sich aufnehmen zu können. Auch diese litt unter der herzlosen Art der älteren Schwester, und Hannah war sich sicher, dass es ihr besser gehen würde, wenn sie woanders leben würde.
Die Ärzte sagten, dass das Gift der Herbstzeitlosen die Symptome lindern würden, aber Hannah sah sich außerstande, dafür die Mittel aufbringen zu können. Der Justiziar Laurentius Schneider hingegen, der Hannah seit Monaten Avancen machte, schien über etwas Vermögen zu verfügen und war vielleicht gütig genug, ihre Mutter mit in sein Haus aufzunehmen, wenn sie ihn heiraten würde. Hannah war bereits einige Male mit ihm ausgegangen und er machte einen sehr bescheidenen, korrekten Eindruck. Sie wollte sich aber trotzdem mit ihrer Entscheidung noch Zeit lassen, denn schließlich würde diese Weichenstellung Einfluss auf den Rest ihres Lebens nehmen.
Als Hannahs Schwester von ihrem Umgang mit Herrn Schneider Wind bekam, hatte sie sie umgehend aus dem Haus geworfen. Eigentlich müsste es ja in ihrem Sinne sein, wenn ihre jüngere Schwester einen Mann fand, aber sie war so von Neid und Hass zerfressen, dass sie Hannah nicht das Geringste gönnen konnte. Und so war es ein Glück gewesen, dass Hannahs Freundin Isabelle und deren Mann Flurin sie bei sich aufgenommen hatten. Um sich erkenntlich zu zeigen, half Hannah ihnen im Gegenzug im Wirtshaus und stellte schnell fest, dass das Ehepaar jede Hilfe gebrauchen konnte.
Hannah war erstaunt, wie viel Spaß ihr die neue Tätigkeit machte und wie rasend schnell der Tag verging. Sie fand es hochinteressant, mit allen möglichen Menschen in Kontakt zu kommen, mit denen sie sonst nie zu tun hätte, und sie alle freuten sich über ein wohlschmeckendes Mal oder ein frisch gezapftes Bier. Hier legten die Menschen ihre Fassade des Alltags ab und konnten endlich sie selbst sein. Und dann gab es da noch den geheimnisvollen Künstler, der Hannah noch den Rest des Abends beschäftigte. Immer wieder erwischte sie sich dabei, wie sie einen verstohlenen Blick in seine Richtung warf, um ein Teil seines Gesichtes zu erhaschen. Ob er verunstaltet war? Oder ein gesuchter Verbrecher? Oder ein Spion des Königs? Heimlich hoffte sie, dass er noch etwas bestellen würde, aber es blieb bei dem einen Glas Wein, und so konnte sie sich nicht einmal von ihm verabschieden, als er schließlich seine Sachen zusammenpackte und ein paar Taler auf den Tisch warf. Doch wenn Isabelle Recht behielt, würde es nicht das letzte Mal sein, dass sie ihn hier sehen würde.
2. Kapitel„Carlotta, das ist nun schon das zweite Mal, dass du bei Tisch fast einschläfst!“ Johannes von Lahnstein war merklich ungehalten über das ungewöhnliche Verhalten seiner Tochter. „Was ist denn los mit dir?“
Carlotta legte ihre Serviette schuldbewusst auf ihrem Teller ab. „Entschuldige, Vater. Ich habe heute Nacht nicht viel geschlafen.“
„War Herr von Anstetten bei dir fensterln?“, neckte sie ihr Bruder Ansgar. Er wusste, dass Carlotta den jüngsten Sprössling der von Anstetten-Familie nicht ausstehen konnte.
„Der kann wenigstens besser singen als du“, schoss sie bissig zurück.
„Nein, jetzt einmal ganz im Ernst, Carlotta.“ Die Miene des Grafen wurde milder. „Wie kommt es denn, dass du nachts keine Ruhe findest? Macht dir der bevorstehende Ball zu schaffen?“
„Ja, genau, Vater, das ist es.“ Carlotta atmete erleichtert auf. „Ich finde es schwierig, mich für einen Mann zu entscheiden, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen werde. Wie soll ich bei einem Tanz herausfinden, welcher der Richtige ist?“
„Naja, du musst es ja noch nicht auf dem Ball entscheiden“, schmunzelte der Graf. „Es geht mir nur darum, der Sache ein wenig voranzutreiben. Die Leute munkeln schon, ob du es vorziehst, eine alte Jungfer zu werden.“
„Na, dann ist Ansgar wohl doch als erster dran“, empörte sich Carlotta. „Schließlich ist er der Älteste.“
„Und jeder weiß, dass er mit Elisabeth von Degenfeld verlobt ist“, ergänzte ihr Vater. „Es geht nicht darum zu verhindern, dass die Leute reden. Das tun sie immer. Es geht darum zu kontrollieren, was sie reden.“
„Ja, ich weiß.“ Carlotta seufzte. „Ich habe ja dem Ball auch zugestimmt. Er beschäftigt mich aber nun einmal.“
„Natürlich, mein Kind.“ Der Graf stand vom Tisch auf und legte ihr seine Hände auf die Schultern. „Ich habe dich wohl viel zu selbstständig erzogen, und nun denkst du zu viel über deine Zukunft nach. Glaub mir, es wird sich alles finden.“
Carlotta gab ihm einen Kuss und bat darum, sich erheben zu dürfen. „Ich würde mich gern noch ein wenig hinlegen, bevor der Besuch aus Frankreich eintrifft.“
Sie verabschiedete sich und schleppte sich mit müden Schritten die Treppe zu ihrem Schlafgemach hinauf. Ihr Vater hatte Recht, dass sie in der letzten Zeit zu unkonzentriert war. Zwar hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, mittags zu ruhen, um die verlorenen Stunden der Nacht nachzuholen, aber oft reichte das nicht aus. Fast jeden Abend war sie in der letzten Woche in der Stadt gewesen, und natürlich rächte sie das in den Morgenstunden. Aber sie hatte das Gefühl, gar nicht anders zu können. Irgendetwas zog sie immer wieder dorthin und tagsüber erfasste sie eine Unruhe, die sich erst legte, wenn sie nachts das Wirtshaus betrat.
Wenn sie dort ankam, fühlte sie sich jedes Mal wie befreit. Niemand wusste hier, wer sie war, und niemand verlangte etwas von ihr. Hier konnte sie einfach nur sein, zeichnen und beobachten. Und dann gab es da die neue Wirtin Hannah, die jedes Essen mit einem zauberhaften Lächeln servierte. Carlotta konnte sehen, wie die Männer die Köpfe nach ihr drehten, und so mancher machte ihr Komplimente. Nichtsdestotrotz es war deutlich, dass der adrette Herr, der nun ebenfalls des Öfteren im Wirtshaus auftauchte, Besitzansprüche auf sie hegte. Er reagierte nervös auf das charmante Geplänkel seiner Tischnachbarn, und manchmal war Carlotta sich nicht sicher, ob er kam, um in der Nähe der neuen Wirtin zu sein, oder ob er sie zu kontrollieren versuchte. Sie jedenfalls bedachte ihn mit derselben freundlichen Aufmerksamkeit, die sie auch den anderen Gästen schenkte.
Obwohl Carlotta auch die Wirtsfrau Isabelle sehr mochte, war sie doch jedes Mal froh, wenn Hannah an ihren Tisch trat, um ihre Bestellung aufzunehmen. Mit ihren katzenhaften Augen, der kleinen Himmelfahrtsnase und dem schönen, ebenen Gesicht, das von braunen schulterlangen Haaren umrahmt war, gab sie ein wunderbares Motiv für Carlottas Studien ab. Ihre Laune hob sich sofort, wenn die junge Frau an ihren Tisch trat und der Stift flog ihr sogleich leichter über das Papier.
Carlotta seufzte, als sie an den bevorstehenden Besuch aus Frankreich dachte. Es ging um weitreichende Verhandlungen und ihre Aufgabe war es, die Frauen und Kinder zu unterhalten, während die Männer geschäftliche Dinge besprachen. Wenn es doch nur schon Abend wäre und sie wieder in ihre lieb gewonnen Zufluchtsstätte eilen könnte.
* * *
Hannah ging die Arbeit an diesem Abend besonders leicht von der Hand. Sie hatte ein gutes Gespräch mit dem Arzt ihrer Mutter geführt und dieser hatte ihr versichert, dass das Gift der Herbstzeitlosen in Nürnberg sehr viel günstiger zu bekommen war als hier. Vielleicht fand sich ja ein Weg, dass sie dorthin fahren konnte, und wenn Isabelle und Flurin bereit waren, ihr einen Lohnvorschuss zu zahlen, bestand vielleicht die Möglichkeit, dass es ihrer Mutter bald besser ginge.
Hannah lächelte herzlich, als Laurentius Schneider zu ihr an den Tresen trat, um sie zu begrüßen. Sie fühlte sich immer wohl in seiner Gegenwart, obwohl sie sich in letzter Zeit ein wenig zu sehr von ihm beobachtet fühlte.
„Würden Sie mir die Ehre erweisen, mich morgen ins Theater zu begleiten?“, fragte er, während er einen Handkuss andeutete. „Es läuft eine Comedia dell’arte.“
„Das klingt verlockend, aber ich weiß nicht, ob ich morgen frei bekomme.“ Hannah warf einen nervösen Blick zu Isabelle, die gerade vier Krüge Bier zu einem Tisch trug. Gerade jetzt konnte sie jeden Taler gebrauchen, um sich die Reise nach Nürnberg leisten zu können, und sie mochte Isabelle und Flurin auch nicht mit all der Arbeit allein lassen. Schließlich war am Anfang des Monats immer besonders viel los im Wirtshaus, weil die Menschen sich das Essengehen noch leisten konnten. Andererseits konnte sie die Einladungen von Herrn Schneider nicht ewig ablehnen, denn er wirkte schon jetzt ein wenig verstimmt, dass sie so wenig Zeit für ihn hatte. „Ich werde mit Herrn Brandner sprechen“, versprach sie lächelnd. „Und ich geben Ihnen Bescheid, sobald ich eine Antwort habe.“
Laurentius Schneider nickte zufrieden und begab sich zu seinem Stammtisch in der Nähe des Tresens, ehe das Schuster-Ehepaar aus der Nebenstraße ihn besetzte. Hannah hatte sich gerade umgewandt, um zurück in die Küche zu gehen, da hörte sie hinter sich Musik ertönen. Drei Musiker hatten das Wirtshaus betreten und gaben ein paar Stücke zum Besten. Eine Laute, eine Flöte, eine Violine – das passte wunderbar zusammen und war so schön anzuhören, dass Hannah sich zwingen musste, den Raum zu verlassen. „Hörst du das, Flurin?“, fragte sie den Wirtsherrn in der Küche. „Die drei habe ich hier noch nie gesehen.“
„Oh, die spielen hier öfter auf“, lachte Flurin gutmütig. „Und wir lassen sie, denn sie sind gut fürs Geschäft, obwohl die Leute manchmal kein Trinkgeld mehr übrig haben, weil sie es den Musikern gegeben haben.“
„Es klingt wunderschön.“ Hannah griff nach einem Tablett mit drei Tellern Schweinebraten. „Ich werde mal wieder hinausgehen.“
Die drei Musiker hatten inzwischen ein langsameres Stück angestimmt, und der Violinist entlockte seinem Instrument sehnsuchtsvolle Klänge, die das ganze Lokal erfüllten. Hannah wäre fast ein Teller vom Tablett gerutscht, so fasziniert war sie von der zauberhaften Musik. Gerade noch rechtzeitig balancierte sie ihr Tablett wieder in die andere Richtung und entschuldigte sich bei den Gästen, die ihr Manöver amüsiert mitangesehen hatten.
„Ich gebe Ihnen lieber Ihr Essen, bevor Sie es vom Fußboden aufwischen müssen“, sagte Hannah augenzwinkernd und stellte die heißen Teller ab. „Lassen Sie es sich gut schmecken, meine Herren.“ Ihr Blick wanderte unwillkürlich zu dem Künstler, der wie immer in seiner Ecke saß und seinen Wein trank. Auch er hielt inne, um der wundersamen Musik zu lauschen.
Hannah war es bisher nicht gelungen, mehr über ihn herauszufinden. Es war einfach nichts zu erkennen in der schummrigen Ecke und die zerlumpten Wollhandschuhe, die er nie auszog, verbargen selbst seine Hände. Hannah hatte schon überlegt, ob sie seinen Stammtisch einfach für einen Abend entfernen sollte, um ihn so zu zwingen, sich woanders hinzusetzen, aber sie war sich sicher, dass er das Lokal in diesem Fall sofort wieder verlassen würde. Seine Kleidung war lumpig wie die eines Bettlers, aber seine Bewegungen waren weich und geschmeidig wie die eines Edelmannes. Das passte nicht zusammen, und Hannah konnte nicht aufhören, darüber nachzugrübeln.
Vielleicht war er ein gedungener Mörder, der nur darauf wartete, dass sein Opfer endlich das Lokal betreten würde, um dann die Waffen zu zücken, die er unter der Kutte verbarg. Aber auf Hannah wirkte der Künstler so gar nicht gefährlich, im Gegenteil, in seiner Ausstrahlung lag etwas Feinsinniges, das nicht zu seinem groben Äußeren passte. Wenn er wenigstens einmal mit ihr sprechen würde, dann könnte sie zumindest seine Stimme hören.
Während Hannah gedankenverloren ein paar Gläser einsammelte, bemerkte sie, dass die drei Musiker auf den Tisch des Künstlers zusteuerten. Das würde ihm bestimmt nicht recht sein, denn die Musiker kamen sehr nah an die Tische heran und umschmeichelten die Gäste mit ihren Instrumenten.
Aus einem plötzlichen Impuls heraus, trat Hannah ein paar Schritte vor und stellte sich schützend zwischen den Künstler und den Violinisten. Sie lächelte den Musiker entwaffnend an und tatsächlich wandte dieser sich nun ihr zu. Auch die anderen beiden Musiker traten zu ihr und umgarnten sie wie balzende Vögel. Hannah ging auf ihr Schauspiel lachend ein und drehte sich übermütig im Kreis. Die Gäste klatschten und johlten, als die letzten Töne verklangen, und die Musiker verbeugten sich hutschwingend vor ihrem Publikum. Dabei fegte der Flötist mit seinem Hut, ohne es zu merken, die Zeichenmappe des Künstlers vom Tisch, und ehe dieser reagieren konnte, war Hannah schon auf dem Boden, und sammelte die losen Blätter ein. Sie wollte nicht indiskret sein, aber sie kam gar nicht umhin, einen Blick auf die Blätter zu werfen, und was sie sah, ließ ihr den Atem stocken: Alle Zeichnungen zeigten sie. In verschiedenen Situationen und mit unterschiedlichen Gesten. Aber immer nur sie.
Mit zitternden Händen raffte sie die restlichen Bilder zusammen und tat sie in die Zeichenmappe zurück. Eine Entschuldigung murmelnd, legte sie die Mappe in den Schoß des Künstlers, und als sie dabei aufsah, schaute sie für einen kurzen Moment in seine weit aufgerissenen Augen, bevor er schnell den Blick abwandte. Sie waren Blau. Blau wie das Meer.