5. The Lost Love Of…
Musiktipp: https://www.youtube.com/watch?v=pgz6PnHkmpY (The Phantom Of The Opera)Rebecca saß Mr Smithers, ihrem neuen Chef, gegenüber, und blickte immer wieder verstohlen auf die Uhr. Es war das erste Mal, dass Finn mit seiner neuen Nanny alleine war, und Rebecca war unruhig: Wie würde sich die neue Nanny in ihrer Feuertaufe schlagen? Finn war ein lieber Junge, ja, aber es war das erste Mal seit langem, dass er nicht bei ihr war. Es war wichtig für sie beide, das wusste Rebecca, aber dennoch war sie unruhig. Sie hatte der Nanny alles erklärt, was es zu beachten gab, hatte ihr bestimmt zehnmal ihre Handynummer gesagt, inklusive des Hinweises, dass sie jederzeit erreichbar war. Mr Smithers besah sich die Papiere, die vor ihm lagen.
„Wunderbar!“, lächelte er.
„Dann fehlt nur noch ihre Unterschrift.“
Er reichte Rebecca den Arbeitsvertrag.
„Nehmen Sie sich alle Zeit, die sie brauchen.“
Rebecca las sich den Vertrag aufmerksam durch. Sie kannte die Geschäftspolitik von ihrer Arbeit bei LCL, also wollte sie kein Risiko eingehen. Mit jeder Zeile wurde Rebeccas Blick zufriedener. Es fühlte sich einfach richtig an. Rebecca nahm den Füllfederhalter zur Hand, den Mr Smithers bereitgelegt hatte, und setzte ihre schwungvolle Unterschrift unter den Vertrag, bevor sie ihn lächelnd ihrem neuen Chef reichte.
„Wunderbar! Dann, auf gut Zusammenarbeit!“
Mr Smithers reichte ihr die Hand, die Rebecca freundlich lächelnd schüttelte.
„Auf gute Zusammenarbeit. Vielen Dank, dass Sie mir so entgegengekommen sind!“
Rebecca war wirklich dankbar. Einige der Konditionen, die sie ausgehandelt hatten, hätten nicht alle Firmenchefs akzeptiert. Mr Smithers tat es mit einer Geste ab.
„Ihr Ruf ist Ihnen vorausgeeilt, Frau von Lahnstein. Sie haben in Europa bei LCL exzellente Arbeit geleistet. Und dass sie jetzt, frisch verwitwet und alleinerziehend, sofort wieder in die Arbeitswelt einsteigen wollen, bewundere ich sehr.“
Rebecca wurde verlegen. Sie kam mit Komplimenten nicht wirklich gut klar, erst Recht nicht, wenn sie sie wegen Dinge erhielt, die sie eigentlich nicht mochte.
Rebecca öffnete die Tür zum Kleiderfundus von Style Up Fashion. Sie wollte sich die letzten Kollektionen selbst ansehen. Sie hatte Fotos gesehen, Videos von den Modeschauen, aber ein Kleid live zu sehen, es in Händen zu halten, war für Rebecca nochmal eine ganz neue Erfahrung. Rebecca schloss die Augen und atmete ein. Sie sog den Duft der Textilien scharf ein. So vertraut, und doch ganz neu. Rebecca öffnete die Augen wieder. Es war das Richtige…
Am Nachmittag saß Rebecca zu Hause auf ihrem Sofa, und zeichnete einige der Ideen, die ihr beim Durchsehen der Kleider, die ihr Vorgänger entworfen hatte, gekommen waren. Wenn Sie zeichnete, war Rebecca ganz bei sich. Zeichnen beruhigte sie, es war ein Ausweg, keine Aufgabe. Dann fühlte sie nichts. Nicht den Schmerz, nicht die Trauer, nicht die Sorge um die Zukunft, nichts. Im Hintergrund lief ruhige Musik, die aus dem iPod kam, den Rebecca in die Dockstation gesteckt hatte. Ihre neuen Zeichnungen waren gut, hervorragend sogar, aber dennoch gefielen sie Rebecca nicht wirklich. Irgendwie fehlte das letzte kleine Stückchen, das hervorragend zu perfekt werden ließ. Das Lied war zu Ende, einige Sekunden Stille. Das nächste Lied setzte ein.
I wish I could hold you once again…Rebecca wurde aus ihrer Welt gerissen. Sie hatte nicht gewusst, dass dieses Lied immer noch in ihrer Playliste gewesen war. Sofort wurden Erinnerungen wach, an die Zeit vor zehn Jahren, ihre Zeit mit…ihr. Diese Zeit, diese Liebe, war so intensiv gewesen, so wunderschön, so…vergänglich… Rebecca schwelgte in bittersüßen Erinnerungen, während Lily Rose im Hintergrund ihre verlorene Liebe besang…
Als Rebecca in Erinnerungen schwelgte, fiel ihr Blick auf Tristans Karte, die auf ihrem Schreibtisch lag. Sie hatte lange überlegt, ob sie da heute Abend hingehen wollte, hin und her debattiert, die Für und Wider abgewogen, und war schließlich zu dem Entschluss gekommen, dass sie nicht gehen würde. Aber dennoch: Einen Abend ausspannen, an nichts denken, das war schon verlockend… Rebecca gab sich innerlich einen Ruck. Die Karte war einfach zu schwer zu ergattern, als dass sie sie verfallen lassen konnte. Sie nahm ihr Handy zur Hand, und rief Finns Nanny an. Finn war ganz begeistert von Naomi gewesen. Naomi hatte Rebecca erzählt, wie sie miteinander geredet hatten, wie sie Finn das Essen zubereitet hatte, wie sie miteinander gespielt hatten. Vielleicht hatte Naomi ja am Abend Zeit, auf Finn aufzupassen, dann konnte Rebecca den Abend für sich nehmen. Schließlich nahm Naomi am anderen Ende der Leitung ab.
„Ja?“
„Naomi? Hier ist Rebecca.“
„Rebecca! Was gibt es?“
„Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber könntest du heute Abend eventuell auf Finn aufpassen?“
Naomi zögerte am anderen Ende. Schließlich antwortete sie.
„Kann ich dich in zehn Minuten zurückrufen? Ich muss etwas abklären, bevor ich zu- oder absage?“
„Natürlich. Bis gleich!“
„Bis gleich!“
Rebecca legte auf.
Rebecca betrat die Met. Sie hatte sich ein schwarzes, schlichtes Kleid angezogen, und sich zum ersten Mal seit…sie wusste nicht wie lange geschminkt. Wohl fühlte sie sich in diesem Aufzug nicht, das war wie einer dieser steifen Familienempfänge auf Königsbrunn. Aber das Ambiente umhüllte sie, und so lockerte sie sich mehr und mehr auf. Sie nahm sich ein Glas Champagner.
„Auf die Zukunft!“, flüsterte sie und prostete ihrem imaginären Gegenüber zu.
Sie nippte an dem prickelnden Getränk, als auch schon der Gong ertönte. Rebecca versicherte sich, dass ihr Handy lautlos war und dass keine Anrufe eingegangen waren, nahm ihre Handtasche, und betrat die Oper…
Rebecca stand auf, und klatschte Beifall. Gerade war eine sehr schöne Version von Memory zu Ende gegangen, mit dem Rebecca sich gerade sehr gut identifizieren konnte. Die Lichter gingen an, nun gab es eine 15-minütige Pause. Rebecca nahm ihr Handy, und schrieb Tristan eine Dankesnachricht. Er hatte mal wieder den richtigen Riecher gehabt. Nach einem kurzen Telefonat mit Naomi ertönte auch schon der Gong, der signalisierte, dass die Pause in fünf Minuten zu Ende gehen würde. Rebecca begab sich wieder zu ihrem Platz auf dem Parkett in der achten Reihe. Das Licht wurde langsam gedimmt, bis es schließlich komplett erlosch. Das Publikum verstummte und eine Spannung machte sich breit, welcher Song als nächstes vorgetragen werden würde. Auch Rebecca wartete gespannt, und sie war nicht die einzige, die sich erschrak, als plötzlich eine dramatisch Orgelmusik einsetzte. Ein Scheinwerfer warf einen weißen Lichtkegel auf die Bühne, und eine blonde Frau in einem weißen, langen Kleid, trat ins gleißende Licht, und begann, zu singen. Rebecca horchte erstaunt auf…Das war doch… Nein, das konnte nicht sein…oder? Rebecca rutschte auf ihrem Sitz nach vorne, um sich zu vergewissern, ob sie sich auch wirklich nicht irrte. Diese Stimme, so vertraut, hatte sie zuletzt vor zehn Jahren gehört…halt nein, sie hatte sie heute Nachmittag gehört. Gebannt schaute Rebecca zu der blonden Frau auf die Bühne, die nun von ihrem Duettpartner umgarnt wurde, mit ihm tanzte, die Erotik der übernatürlichen Beziehung der beiden Charaktere zueinander auf der Bühne greifbar werden ließ. Sie sah atemberaubend aus. Das lange, blonde Haar fielen ihr in Wellen auf die Schulter, wie ein Wasserfall aus honiggoldenem Licht. Rebecca wusste nicht, was sie fühlen sollte, als sie ihre Exfreundin sah, ob die Spannung nur der elektrisierenden Performance geschuldet war, oder der Tatsache, dass sie vor zehn Jahren die Dinge zwischen ihnen ungeklärt gelassen hatten, und jetzt wieder so nah im selben Raum waren, und doch so weit voneinander entfernt. Als die Performance zu einem fulminanten Schluss gekommen war, erhob sich Rebecca und klatschte tosend Beifall. Marlene verneigte sich formvollendet, und wurde dann von ihrem Partner von der Bühne geführt…