38. Der Tag der Unabhängigkeit: Zwei Herzen, ein Verlangen
Als Rebecca am nächsten Tag, dem Independence Day, aus dem Bad kam, hatte Tristan bereits ganz der Geschäftsmann das Handy am Ohr. Rebecca warf ihm einen skeptischen Blick zu. Als Tristan sie bemerkt hatte, beendete er das Gespräch allerdings ziemlich schnell. „Kannst du nicht einmal die Geschäfte Geschäfte sein lassen, und einfach mal ausspannen, wenn du schon bei deiner Lieblingsschwester zu Besuch bist?“, wollte Rebecca wissen. Tristan grinste sie an. „Naja, Helena hatte keine Zeit und…“ „Hey!“, warf Rebecca dazwischen, und grinste Tristan an. „Nein, ernsthaft, ich habe nur kurz was recherchiert!“, erklärte Tristan. „Achso!“, meinte Rebecca und goss sich eine Tasse Kaffee ein. „Finn schläft noch?“, fragte sie. Tristan nickte. „Ich dachte, wir könnten später zusammen das Feuerwerk anschauen. Es soll um 21.00 Uhr losgehen!“, schlug Tristan vor. Rebecca nickte. „Gerne, das wird Finn gefallen!“ „Und vorher würde ich gerne etwas im TV schauen, wenn es dir nichts ausmacht!“, fragte Tristan vorsichtig. Rebecca nickte. „Klar, fühl dich ganz wie zu Hause. Was kommt denn?“ Tristan sah sie mit rätselhafter Miene an. „Ach, nur ein Mitschnitt, der mich interessiert…“, erklärte er halbherzig. Rebecca nickte. „Und jetzt erzähl mal, steht der Kasten noch?“, wollte Rebecca wissen, als sie beide sich auf das Sofa gesetzt hatten.“ Tristan begann zu erzählen. „Du kennst doch Tanja und Ansgar. Die halten den Kahn schon auf Kurs. Ich spiele halt manchmal Mittelmann zwischen den beiden. Du weißt ja wie die beiden aufeinanderprallen können!“ „Oh ja!“ Rebecca erinnerte sich noch gut an die Auseinandersetzungen zwischen Ansgar und Tanja. Hassliebe traf das, was sich da zwischen den beiden abspielte, sehr genau.
Marlene befand sich bereits backstage und lief nervös auf und ab. Gleich würde ihr Konzert beginnen, und sie hatte immer noch nicht mit Bradley reden können. Zu behaupten, sie war angespannt, war gerade die Untertreibung des Jahrhunderts. Bradley kam zu ihr, und umarmte sie. „Das wird schon, Honey. Toi, toi, toi!“ Marlene nahm die Umarmung hin. „Danke, Bradley, aber ich wollte unbedingt noch mit dir reden, es ist wichtig…“ Bradley sah sie an. „Später, Marlene, später. Konzentriere dich jetzt auf deinen Auftritt. Alles andere ist jetzt nicht wichtig!“ Er nahm ihre Hände in seine. „Ich liebe dich!“, sagte er feierlich zu ihr. Marlene sah ihn an. Sie schloss angespannt und aufgeregt die Augen, und nickte nur stumm. Sie hatte Angst, dass es ihr die Sprache verschlagen würde. „Ich sitze in der ersten Reihe, und werde dir zuschauen, Honey!“, beruhigte Bradley sie. Marlene nickte wieder. „Okay!“, flüsterte sie. Nach einer letzten Umarmung begab sich Bradley zu seinem Platz. Marlene blieb zurück, und sah ihm traurig hinterher. Wie lange würde sie noch durchhalten? Darüber nachdenken konnte sie allerdings nicht mehr. Trommelwirbel setzte ein…
„Hast du Lust, vielleicht mitzuschauen?“, rief Tristan. „Da könnte eventuell was für dich dabei sein!“ Tristan grinste. Da war ganz sicher was für sie dabei. Manchmal musste man eben nachhelfen. „Na gut!“, rief Rebecca, und setzte sich neben ihm auf die Couch, auch Finn setzte sich dazu und lehnte sich an seine Mutter.“
Marlene stand hinter dem Vorhang und atmete noch einmal durch. Dieser kurze Moment vor dem Auftritt brachte sie immer fast um, aber sie wusste, dass, sobald sie auf der Bühne war, es ihr gut gehen würde. Da oben war sie unantastbar. Sie, Marlene. Dort oben hatte sie die Kontrolle. Schließlich wurde sie über den Lautsprecher angekündigt.
„Ladies and Gentleman, let’s hear it for the divine, the stunning, the magnificent Mrs. Marlene Malone!” Tosender Applaus brandete auf. Marlene zählte innerlich. Einundzwanzig, Zweiundzwanzig, Dreiundzwanzig. Und dann trat sie beschwingt hinaus auf die Bühne.
Rebecca sah Tristan an. „Das hast du doch gewusst, oder?“ Tristan grinste Rebecca schadenfroh an. „Wenn du willst, schalte ich um.“ Rebecca wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, aber dazu kam sie nicht mehr, denn. „Nein! Ich will Marlene sehen!“, antwortete Finn. „Tja, 2:1!“ Tristan sah Rebecca mit übertrieben mitleidiger Miene an.
Marlene lieferte wie immer exzellente Arbeit ab, jede Note saß, jede Bewegung passte. Sie legte unfassbar viele Emotionen in die Songs, und es schien, als würde sie mit jedem Song gelöster.
Marlene stand auf der Bühne, und sang gerade den letzten Ton. Mit einer großen Geste kam das Lied zum Schluss. Tosender Jobel brandete ihr entgegen. Marlene verbeugte sich formvollendet. Laut Plan war es das eigentlich, aber sie fühlte sich so frei, dass sie unbedingt etwas sagen musste. „Vielen lieben Dank, meine Damen und Herren!“, begann sie. Sie nahm das Mikrofon aus dem Halter, und stellte den Ständer zur Seite. „Es war ein wunderschöner Abend. Und ich möchte mich bei Ihnen allen bedanken, dass Sie heute hierher gekommen sind, damit ich das tun kann, was ich liebe. Dieser Abend war für mich ein wunderschönes Erlebnis, das ich nie vergessen werde.“ Sie suchte nach Bradley, und sah ihn in der ersten Reihe sitzen. Sie atmete einmal durch. „Bevor ich an diesem patriotischen Feiertag mit Ihnen die amerikanische Nationalhymne singen werde, möchte ich außerplanmäßig noch zwei Songs singen, die mir sehr am Herzen liegen. Da dies nicht geplant war, werde ich dies a capella tun, falls Sie einverstanden sind!“ Applaus. „Das erste Lied heißt „Have you ever really loved a woman?“
Bradley sah überrascht auf die Bühne. Das war so nicht geplant gewesen. Was machte Marlene da? Er hörte ihr zu. Konnte das wirklich sein? Sang sie das Lied für ihn? Immerhin traf das jedes Wort genau das, was er für sie empfand? Hatte sie also endlich eine Entscheidung getroffen?
Rebecca, Finn und Tristan hatten das Konzert am TV verfolgt. „Sie ist klasse!“, erkannte Tristan an. Rebecca nickte nachdenklich. Aber als sie das Lied anstimmte, und zuhörte, erhob sie sich. Tristan sah sie an. „Was ist?“, fragte er. „Das muss ich mir wirklich nicht geben, dass sie ihrem Mann ein Lied singt!“ Ja, Rebecca von Lahnstein war eifersüchtig…
Was niemand wusste, war, dass Marlene das Lied keineswegs für Bradley sang. Während sie die Zeilen dieses Liebeslied sang, dachte sie an Rebecca. Ihr Herz hatte eine Entscheidung getroffen. Und zu der würde sie jetzt stehen. Mit allen Konsequenzen.
Am Ende dieses Liedes klatschte die Menge Beifall. Aus den Augenwinkeln sah Marlene, wie Bradley sich erhoben hatte. Mist, er musste natürlich denken, sie hätte es für ihn gesungen. Da war es also wieder, das schlechte Gewissen, und machte es sich in ihr gemütlich. Aber sie musste das jetzt durchziehen. Sie verbeugte sich. „Danke sehr! Das nächste Lied geht an einen ganz besonderen Menschen, der mir sehr viel bedeutet!“ Sie schloss die Augen. Das war er also, der Moment. Es musste heraus, jetzt. Sie setzte das Mikro an. „I heard she sang a good song…“, begann sie zu singen.
Tristan erkannte sofort, welches Lied es war, und an wen es in dieser Version gerichtet sein musste. „Rebecca!“, rief er. „Was denn?“, kam es niedergeschlagen von der jüngsten der Lahnsteingeschwister. „Das solltest du hören!“, empfahl Tristan ihr. Rebecca setzte sich missmutig mit verschränkten Armen zurück aufs Sofa, und hörte zu. Und auf einmal öffnete sich ihre Körperhaltung. Sie lehnte sich nach vorne, und hing auf einmal an Marlenes Lippen.
Bradleys Lachen gefror und seine Welt geriet mehr als nur ins Wanken, sie geriet aus den Fugen. Marlene, und das spürte er ganz deutlich an der befreiten Art, mit der sie das Lied inbrünstig darbot, hatte sich zwar entschieden, aber nicht für ihn. Er erhob sich, und verließ langsam den Saal.
Marlene sah Bradley hinterher, wie er ging. Sie wollte ihm hinterher, aber sie konnte nicht, sie musste es zu Ende bringen, das war sie ihrem Publikum schuldig. Sie tauchte komplett in das Lied ein, und ihrer Stimme schienen Flügel zu wachsen.
She sang as if she knew me,
In all my dark despair,
And then she looked right through me,
As if I wasn't there . . .Schließlich kam sie zum Ende. Ganz ergriffen von der Atmosphäre brauchte es einen Moment, bevor die Leute jubelten. Und dann schwoll der Applaus an. Die Leute erhoben sich, und zollten ihrem Musicalstar Respekt. Marlene sah ergriffen in das Scheinwerferlicht, dass sie blendete.
Tristan wand sich Rebecca zu. „Also, wenn das mal keine Liebeserklärung war…“, begann er. „Wo tritt sie auf?“, wollte Rebecca wissen. „Tristan, du weißt es doch bestimmt schon lange, oder? Also, sag schon!“, forderte sie ihn auf…
Marlene sang zum Schluss noch die amerikanische Nationalhymne, gefolgt von U-S-A! U-S-A! Sprechchören, dann ging sie von der Bühne ab. Sie wartete nicht lange, sie musste zu Rebecca. Als sie die Halle verließ, stand plötzlich Bradley vor ihr, Tränen hatten sein Gesicht benetzt. „Es tut mir leid!“, flüsterte Marlene schuldbewusst. „Sie ist es, oder?“, wollte Bradley wissen. Marlene sagte nichts, sondern nickte nur. „Ich habe es gewusst!“, stellte Bradley fest. „Ich habe es gewusst, und nicht genug um dich gekämpft, Ho-… Marlene!“ „Bradley, es tut mir so leid, aber ich habe gemerkt, dass ich sie immer noch liebe. Dich habe ich auch geliebt. Aber sie ist…es. Sie ist mein Leben. Sie ist der Mensch, neben dem ich bis an mein Lebensende aufwachen möchte. Ich dachte, du seist es, wirklich. Aber…Vielleicht gibt es nicht nur die eine große Liebe, aber es gibt eine große Liebe, die stärker ist als alles andere.“ Bradley sah sie an, Schmerz erfüllte seine Augen. Marlene kam auf ihn zu, wollte ihn umarmen, aber Bradley wehrte es ab. „Nicht!“, flüstere er panisch. „Demütige mich nicht noch mehr!“, flüsterte er. „Geh einfach!“ Marlene sah ihn lange an, und ging dann an ihm vorbei. Sie brauchte jetzt ganz dringend ein Taxi nach Manhattan.
„Wieso bekam man in New York genau dann kein Taxi, wenn man eines brauchte?“, fragte sich Rebeca genervt, als sie am Straßenrand stand, und Ausschau nach einem Cab hielt. Wenigstens hielt sich der Verkehr in Grenzen, die meisten Leute waren zu Fuß unterwegs, um einen guten Platz für das Feuerwerk zu ergattern. „Hey!“, rief Rebecca und hiel die Hand raus. Schließlich konnte sie endlich ein Taxi anhalten. Sie stieg ein. Am Steuer saß eine Rastafari, der Bob Marley sehr ähnlich sah. Rebecca nannte ihm die Adresse. „Ist es okay, wenn ich die Brooklyn Bridge nehme? Alle anderen Brücken sind dicht!“, fragte der Mann mit jamaikanischem Akzent. Rebecca nickte.
Marlene nannte dem Fahrer das gewünschte Fahrziel. „Ich muss die Brooklyn Bridge nehmen, alle anderen sind dicht!“, erklärte der Fahrer ihr. „Das ist schon in Ordnung!“, entgegnete Marlene aufgeregt. Sie würde sich ihre Rebecca holen…
Als sie beide an verschiedenen Enden auf die Brooklyn Bridge einbogen, bekamen die beiden von der Welt außerhalb ihres Taxis nicht mit. Sie lehnten an der Fensterscheibe, fühlten das Vibrieren des Motors und dachten an den jeweils anderen. Sie fühlten, dass ihr Herz sie zu dem anderen hinzog, weil es endlich nach Hause wollte. Denn das waren sie füreinander: Zuhause! Beide sahen den anderen in Gedanken direkt vor sich, und bemerkten so nicht, wie nah sie sich für eine Sekunde waren, als zwei Taxis aneinander vorbeifuhren…