One year ago today …
Das Tagebuch der Rebecca von Lahnstein
- Teil 12 -
Liebes Tagebuch,
ich versuche es. Versuche mich damit abzufinden, dass es kein klärendes Gespräch mehr zwischen Marlene und mir geben wird. Sie hat sich entschieden, dass das alles nicht passiert ist zwischen uns. Entscheiden, darüber nicht weiter nachzudenken, es nicht zuzulassen. Und auch wenn ich genau weiß, was gewesen ist, und dass es nichts auf der Welt gibt, das falscher ist, als seine eigenen Gefühle zu verdrängen und zu unterdrücken, weil es nichts gibt, dem wir so ohnmächtig gegenüberstehen wie unsere eigenen Gefühle, so weiß ich eben auf der anderen Seite auch, wann Schluss ist. Wann ich es besser sein lasse. Wann ich verloren habe. Das dachte ich, und habe danach gehandelt. Habe mich abgelenkt, mit Arbeit. So wie ich es immer tue. Die Gedanken begleiten mich natürlich trotzdem. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Was soll das auch? Echte Gefühle verschwinden nicht so einfach, und meine Gefühle sind echt. So echt, wie Gefühle sein können. So echt, dass es mir Angst macht. Angst, sie nicht loszuwerden. Ich … gebe wirklich alles, um damit klarzukommen. Es kostet mich eine nie gekannte Überwindung und jedes Mal, wenn ich sie sehe, eine Selbstbeherrschung, die meine kühnste Vorstellungskraft um Lichtjahre übertrifft. Aber ich versuche es. Mehr kann ich nicht tun. Ich halte mich daran. Gehe nicht mehr auf sie zu. Den Kontakt möglichst knapp zu halten, das ist mein Ziel. Es ist besser für uns beide. Ich glaube, Marlene klammert sich an ihre Liebe zu Tristan. Sie macht sich etwas vor. Oder auch nicht, ich weiß es doch auch nicht, und vielleicht sollte ich aufhören, darüber zu sinnieren. In diesem endlosen Zirkel aus trübsinnigen Gedanken und Fragen, die nichts anderes erzeugen als Kopfschmerzen und neue Fragen. Beruflich allerdings müssen wir funktionieren, seitdem die Verantwortung für die neuen Lily Rose-Kostüme in meinen Händen liegt. Aber hey, was soll's. Das, was ich empfinde, verstecke ich nun schon seit Wochen und bis auf wenige Ausnahmen kann ich mit gutem Gewissen vor mir selbst behaupten, dass mir das auch gelingt. Erstaunlich gut, wenn ich dem die Stürme gegenüberstelle, die in mir toben, tief drinnen. Die ich so grandios verstecke, dass man meinen könne, an mir ist ein Geheimagent verloren gegangen. Es ist mir egal, wenn ich irgendwann daran platze. Mir war alles egal in den letzten Tagen. Ich funktioniere. Und das verdammt gut. Im Gegensatz zu Marlene. Die aufspringt wie ein wild gewordenes Tier, sobald ich mich ihr auf drei Meter nähere. Oder sie nur meine Stimme hört. Sie sieht es nicht, sie sieht es wirklich nicht. Es ist unfassbar. War das heute Morgen peinlich. Also eher für Marlene als für mich. Ich habe nur an Tristans Suite geklopft, weil es um das Update der Kostüme geht, also rein geschäftlich. Immerhin hatte ich einen Termin mit den beiden, und hatte im Salon schon eine halbe Stunde gewartet. Dass sie bei meinem Anblick direkt wie von einer Armee von Monster-Spinnen verfolgt aus dem Bett hechtet und sich dann, und das lasse man sich jetzt mal auf der Zunge zergehen, die trockenen Haare mit einem Duschhandtuch abtrocknet, direkt am Bett, ohne jemals unter der Dusche gewesen zu sein, dafür ... kann ich nichts. Hochgeschreckt als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihr her. Ich möchte nicht wissen, was sie da gerade geträumt hat. Und doch weiß ich es genau. Es war so peinlich. Und gleichzeitig so unbeschreiblich goldig. Zucker. Einfach nur Zucker. Ich musste mich so zusammenreißen, um nicht einfach los zu prusten oder auch, sie einfach nur … in meine Arme zu schließen. So hat mich das berührt, und zugleich belustigt. Marlene, was ist mit dir los? Mache ich dich nervös? Nein, aber ja, ich vergaß. Da war ja nie was zwischen uns. Das war ja nur ich. Ich, die die Kontrolle verloren hat. Und das beim Flaschendrehen war ein Spiel. Deine "Pflicht". Ja genau. Ich weiß es, du weißt es, aber rede dir nur weiter was ein. Oh mein Gott, ich sehe es wieder vor mir, diese Situation. Es war schon … sweet. Und so viel ist sicher: wenn ich nicht sowieso schon hoffnungslos in sie verliebt wäre, dann wäre ich es spätestens jetzt.
Im No Limits später habe ich dieses Szenario Christian erzählt. Der Arme, was der sich zur Zeit alles anhören muss von mir. Wird Zeit, dass Olli bald wieder kommt, dann verteilt sich das zumindest auf zwei Schultern. Aber ich meine, ich habe doch recht. Seltsam ist kein Ausdruck für das, was da heute Morgen passierte. Sie wacht auf, sieht oder hört mich … und Bang, Panik! Trocknet sich die trockenen Haare mit einem Handtuch ab und flüchtet anschließend ins Bad. Ich meine, das sagt doch alles! Irgendwas fühlt sie doch für mich, will sich das aber nicht eingestehen, und das ist auch nur allzu verständlich in ihrer Situation. Wir hätten uns geküsst, im Pool. Wäre Tristan nicht reingekommen. Wer weiß, was dann noch passiert wäre. Ich will es mir nicht ausmalen. Oder doch? Wenn ich ehrlich bin, will ich genau das. Wünsche ich mir nichts sehnlicher. Träume ich von nichts anderem. Mein Denken und all meine Empfindungen, die allmählich bedenkliche Ausmaße annehmen, sind so okkupiert durch SIE. Durch meine Sehnsüchte und Wünsche, die sich auf unerklärliche und unabänderliche Weise ausschließlich um sie drehen. Ich werde noch verrückt. Wie oft habe ich das jetzt gesagt? Bin ich es nicht längst schon? Was auch immer. Dann ist etwas Merkwürdiges passiert. Mit Christian. Christian, der mir die ganze Zeit erzählt, ich solle mir das aus dem Kopf schlagen, der mir die ganze Zeit eintrichtert, ich bilde mir das alles nur ein. Dass auch Marlene etwas fühlt. Der mir ständig einbläut, ich solle Marlene vergessen, sie sei mit Tristan zusammen und und und … genau der Christian sagt plötzlich, vielleicht sollte ich mir Gewissheit verschaffen. Dass Marlene vielleicht wirklich etwas für mich empfindet, aber das eben verdrängt, ablehnt oder sich selbst dafür hasst. Ach Christian, weißt du, als ob ich das nicht schon versucht hätte. Diese Mauer einzureißen, die Marlene errichtet hat, gleicht allerdings dem Versuch, einem Esel das Sprechen beizubringen. Oder auch einen Stein mit bloßem Händedruck in tausend Stücke zerspringen zu lassen. Die Berliner Mauer war nichts dagegen, und ich müsste erst noch wie Obelix in den überdimensionalen Topf von Zaubertrank fallen, um das zu schaffen, das zu durchbrechen. Ich muss grinsen. Wieso fallen mir in solchen Momenten immer solche bescheuerten Dinge ein? Das muss Sarkasmus sein, der mich nun heimsucht, weil ich mir nichts anders zu helfen weiß. Und ständig nur rum heulen und trauern? Ne, keine Lust mehr. Ich habe sowieso das Gefühl, ich habe bereits jede Träne geweint, die mir zur Verfügung steht. Andererseits, Christian hat das ja alles selbst mal durchgemacht, er weiß also, wovon er spricht. Vielleicht ist ja doch was dran. Vielleicht sollte ich weiter kämpfen. Weiter hoffen? Ich weiß es nicht. Es ging mir gerade wieder so, dass ich sagen kann, vielleicht … vielleicht halte ich es irgendwie aus. Gerade war ich soweit, dass ich mich zumindest mal ansatzweise, stundenweise, aus diesem quälenden Gedankenkorsett befreien konnte, dass sich durch meinen Kopf bohrt wie ein einziger langgezogener, ohrenbetäubender Pfeifton. Ein Pfeifton, der, sobald er sich verselbstständigt und mein Herz erreicht, zum großen, unsäglichen Pfeifkonzert wird und mich augenblicklich ermüdet. Quält. Fast umbringt. Und auf der anderen Seite: wer nicht kämpft, der hat bekanntlich schon verloren. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wer immer nur auf alten, ausgetretenen Pfaden wandelt, beschreitet nie einen neuen. Nur geht es darum? Ist und war es nicht so oder so nicht nur aussichtslos, was ich da betrieben habe, sondern gleichzeitig auch verantwortungslos und einfach nur mies? Und werde ich jemals wissen, was es für sie war? Selbst wenn es so ist, wie Christian jetzt plötzlich sagt, und wie ich es schon lange fühle, selbst wenn ich mich nicht täusche, was mir niemand sagen kann … was ich keineswegs sicher weiß, dann hieße es immer noch, dass noch ein sehr weiter und langer, schmerzvoller Weg vor uns liegen würde. Ja, Rebecca, nur: ist es das nicht wert? Wie oft verliebt man sich auf eine solch fundamentale Art und Weise in einen Menschen? Dieses Gedankenkarussell. Es dreht und dreht sich immer wieder. Immer weiter. Ziel unbekannt. Wehren zwecklos. Einspruch abgelehnt. Es ist, als warte seine hässliche Fratze hinter jeder Ecke und lacht mich an. Oder auch aus.
Später musste ich die beiden treffen, Tristan und Marlene. Sie kamen ebenfalls ins No Limits. Zur Besprechung der neuen Lily Rose-Kostüme. Tristan fand meine Entwürfe super. Ich meinte, es ginge schon noch radikaler, und gemeinsam haben wir den Vorschlag entwickelt, dass Lily Rose nach dem dritten Akt als Mann verkleidet auf den Maskenball kommen sollte. Tristan und ich waren uns einig, und er wollte mich mit den Änderungen beauftragen, wenn Marlene nichts dagegen hat. Aber Marlene war irgendwie überhaupt nicht anwesend, also geistig jedenfalls nicht. Ich habe versucht, mich zusammen zu reißen, den Blickkontakt zu meiden, wo es ging. Schließlich war es gerade wieder ruhig zwischen uns geworden, und mein Gott, vielleicht habe ich mich ja auch komplett getäuscht. Oder das alles zwischen uns passierte auf ihrer Seite nur in geistiger Umnachtung, die sich einfach … keine Ahnung … wieder gewandelt hat? Vielleicht täusche ich mich. Warum sollte sie auch mich wollen? Ich meine, ehrlich, warum ausgerechnet ich? Eine Frau wie Marlene? Vielleicht bin ich größenwahnsinnig geworden, und dass meine Emotionen dazu neigen, gewisse Grenzen zu überschreiten, und dadurch oftmals dafür sorgen, dass ich mir Dinge einbilde, die nicht existieren ... ja, das weiß ich natürlich. Nur warum, warum wirkt sie mal wieder total verträumt, versunken in eine ganze andere Welt? Kann sich scheinbar nicht konzentrieren auf unsere Gespräche, die rein beruflich sind? Ist sie nicht Profi? Bin ich es mehr als sie? Ich habe zumindest gesprochen. Mich konstruktiv sachlich am Gespräch beteiligt. Obwohl mein Herz bis zum Anschlag hämmerte, und es mir mehr als schwer fiel, die Fassung zu bewahren. Sie hat nur geträumt und imaginäre Luftschlösser gebaut. Wovon nur? War es derselbe Traum wie heute Morgen, als sie sich die trockenen Haare mir einem Handtuch abrieb? Handelt der Traum von mir? Komme ich darin vor? Ist es die Fortsetzung unseres Beinahekusses im Pool? Küsst sie mich in diesem Traum wirklich? Oh man ey, Rebecca, ehrlich, komm' runter. Du könntest mal einen ordentlichen Tanja-Einlauf gebrauchen. Ich kann es ja selbst nicht mehr haben. Diese ständigen unsinnigen Gedanken. Sie nerven mich. Nerven und überkommen mich ohne jeglichen Abwehrmechanismus. Abgestellt. Unfähig. Als sie irgendwann nach gefühlten Stunden ihre Sprache wiedergefunden hatte, meinte Marlene nur, klar, Tristan sei der Produzent und entscheidet. Ich wette, sie hat kein Wort verstanden von dem, was Tristan und ich vorher besprochen hatten, was gleichbedeutend damit ist, dass sie auf die Frage, ob sie sich nackt ausziehen und in den Pool springen wolle, vermutlich ebenso mit "Ja" geantwortet hätte. Es klang keinesfalls so, als sei sie sich sicher, dass sie das will, und das habe ich sie auch so gefragt. Schwerer Fehler. Bombenalarm. Ich wage es, sie anzusprechen. Direkt hat sie mich wieder angezickt, klar sei sie sich sicher. Der Ton und ihr unter Hochspannung zu stehen scheinender Gesichtsausdruck sprechen Bände. Fast schon erschreckt es mich. HIMMEL, da brodelt wirklich ein Feuer in ihr. Ich möchte nicht wissen, was für explosionsartige Emotionsschübe ganz anderer Art, also abseits von Wut und Zickerei, sich bei einer Person wie Marlene entladen würden, die so dermaßen unter Strom und Druck steht, weil sie sich selbst und alles, was das ausmacht, permanent unter Höchstanstrengung hinter einer Maske versteckt. Wenn sie nur einmal völlig und aus tiefstem Ursprung freigelassen würde. Frei sein könnte. Sie selbst sein könnte. Das ist übrigens gelogen, denn nichts wüsste ich lieber als das. Nichts würde ich lieber hautnah erleben dürfen. Ich stelle es mir vor wie bei der Büchse der Pandora. Es muss die Leidenschaft in ihrer natürlichsten Reinform sein. Ich … ich drifte schon wieder ab. Nur im Gegensatz zu Marlene merkt man es mir äußerlich nicht an. Kann ich mich beherrschen. Aber ich weiß ja auch, was ich fühle. Ich stehe zu mir selbst statt mich selbst zu verleugnen. Ein entscheidender Unterschied. Ich bin kein Pulverfass, das kurz vor der Explosion steht, weil es sich selbst versagt, das zu akzeptieren, was es fühlt. Also, insofern ein Pulverfass eben fühlen könnte. Marlene wirkte geschockt, als ich meinte, klar setze ich mich direkt da dran und wir könnten noch heute Nachmittag die ersten Anproben zusammen machen. Offensichtlich jagt ihr die Vorstellung, allein mit mir zu sein, eine Höllen-Angst ein. Gott, so sehr kann man sich nicht täuschen, es ist so … es schreit einem ins Gesicht, dass sie mit der Situation nicht klar kommt. Nachdem Tristan meinte, sie hätte doch heute gar nichts anderes mehr vor, bestand sie darauf, dass er als Produzent beim Fitting dabei sein soll. Jaja, nur nicht allein mit mir, schon klar, Frau von Lahnstein. Echt, man kann ihr zehn Meilen gegen den Wind ansehen, wie sie durch denselben ist. Wie aufgewühlt sie ist. Stellt sich die berechtige Frage: und warum?
Christian war sofort wieder auf 180, als ich mich später noch bei einem Cocktail mit ihm ausgetauscht habe. Ja klar, es sei nur mein Job, und wir könnten dann ein bisschen aneinander rumfummeln und so. Sagt mal, habt ihr alle echt nichts Besseres zu tun, als solche dummen, unnötigen Sprüche zu reißen? Was soll das? Tristan hatte vorher auch schon sowas gebracht, von wegen er würde sich das doch nicht entgehen lassen, wenn seine kleine Schwester an seiner kleinen Lily Rose rumfummelt. Mal abgesehen davon, dass ich ihm dafür eine in seine dumme arrogante Fresse hätte klatschen können und meine stechende Eifersucht ihr Übriges tut, wenn er sie anfasst, sie küsst und anflirtet, sich mein Magen umzudrehen scheint, wenn ich nur daran denke ... abgesehen von all dem: muss sowas eigentlich immer sein? Reagiere ich da überempfindlich, oder sind solche Sprüche einfach nur scheiße? Außerdem, meine Güte, was denken die denn alle? Geht's noch? Ich bin Profi, und ich kann mich gerade noch so zurückhalten, ein Fitting auszunutzen, um jemanden anzubaggern. Ich meine, was denken die eigentlich alle, wer ich bin? Was ich bin? Wie ich bin? Notgeil? Außerdem geht es hier um alles andere als um "rumfummeln". Aber es versteht sowieso keiner, um was es hier geht. Es ist viel mehr. Bei mir. Sie bedeutet mir wirklich etwas. Ich habe so etwas noch nie zuvor für jemanden gefühlt. Und für Marlene ist es … was auch immer. Langsam habe ich einfach nur noch die Schnauze voll, die sollen mich alle in Ruhe lassen. Außerdem ist doch Tristan beim Fitting dabei, und Marlene hat sowieso nichts Besseres zu tun, als die ganze Zeit demonstrativ vor meinen Augen mit ihm rumzuknutschen. Das macht sie doch extra! Sie kokettiert damit ganz bewusst, ich spüre doch den Unterschied. Seit unserem Flaschendrehkuss und der Sache im Pool ist alles anders. Verkrampft und … kompliziert. Reden geht nicht, weil sie nicht spricht. Die Mauer und Fassade steht. Ihre Maske sitzt. Und doch bröckelt sie immer und immer wieder, ich bin doch nicht blöd. Christian sagt, sie will mir mit dem übertriebenen Rummachen mit Tristan, wenn ich dabei bin, ein Zeichen geben, dass ich sie in Ruhe lassen soll. Christian, du redest auch mal so, und mal so. Vorhin sollte ich doch noch rausfinden, was Sache ist, weil es ja sein könnte, dass Marlene sich ihre Gefühle für mich nur nicht eingestehen will? Und nun will sie mir Zeichen in Form von Küssen mit Tristan senden, dass ich verschwinden soll? Sieht es in Christians Kopf genauso wirr aus wie in meinem? Eine Hilfe ist das nicht. Diese bescheuerten Karussellfahrten machen mich wahnsinnig, sie rauben mir den letzten Nerv. Meine Kraft ist sowieso schon lang weg, und ich merke einmal mehr, wie ich langsam ermüde. Ich werde das jetzt aufgeben. Will diesen ganzen von Anfang an dem Untergang geweihten Scheiß jetzt endlich hinter mir lassen. Ich bin fest entschlossen. Ich war fest entschlossen. Nein, genau das werde ich in Zukunft tun! Ich werde mich fernhalten von ihr. Werde professionell meinen Job machen, und ansonsten kann sie mich. Ich meine, soll sie doch alleine mit ihren Gefühlen klar kommen. Oder auch nicht. Ist mir egal jetzt langsam. Christian hat nur doof gegrinst, und mir nochmal klar gesagt: es ist wie im französischen Film, ich bin in die Frau meines Bruders verliebt, und diese Filme haben meistens kein Happy End. Jaja, ich hab' es ja verstanden, und eines steht fest: Ich werde keinen Fehler machen. Ich werde mir nichts zu Schulden kommen lassen. Ab jetzt heißt es, Rebecca von Lahnstein, nimm' deinen Verstand und nutze ihn. Setze ihn ein und vergiss' all diesen anderen gefühlsduseligen Mist. Denn der bringt dich nicht weiter. Vielmehr ist er dein Verderben. Und keine Frau der Welt ist das alles wert. Diese Knoten im Kopf. Diese Krämpfe in der Brustgegend. All dieses Gefühlswirrwarr im permanenten Wechsel zwischen Schuld, Liebe und Wut. In 180 Sekunden an die Decke und auf den harten Boden zurück, der bei jedem erneuten tiefen Fall härter zu werden scheint und zunehmend mehr Schmerzen hervorruft. Das Ganze 24/7. Christian meinte, ich solle diese Fitting-Aktion abblasen, um eben genau dies zu tun: keinen Fehler zu machen. Aber ganz ehrlich, würde ich das tun, würde ich damit doch nur noch mehr signalisieren, dass ich etwas für Marlene empfinde. Nein, den Gefallen tue ich ihr nicht. Vielleicht habe ich nicht viel, aber was ich habe, ist Stolz. Ich werde beweisen, dass ich es bin, die hier souverän ist. Da muss ich jetzt durch und hey, wie gesagt: ich bin Profi, und genau so ziehe ich das jetzt auch durch. Wäre doch gelacht. So dachte ich.
Natürlich … kam es anders. Es ist wie immer im Leben. Es kommt immer anders, als man denkt. Es könnte nur auch mal besser kommen als gedacht, so zur Abwechslung. Aber das Glück haben eben andere gepachtet. Eigentlich … war es ja schon immer so, ich meine, worüber wundere ich mich. Es war bei Gregor so. Bei Christian. Miriam, okay, die berühmte Ausnahme, nur … es ist sowieso egal, denn nichts, gar nichts, nichts auf der ganzen, weiten Welt ist in punkto Intensivität auch nur annähernd irgendwie vergleichbar mit dem, was ich für sie, für Marlene, empfinde. Es berührt mich alles so sehr, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Diese ständigen Aufs und Abs, diese Höhen und Tiefen an den Polenden zwischen extrem positiv und extrem negativ. Das Fehlen des Kontinuums in der Mitte. Der Balance. Diese permanente Achterbahn der Gefühle ist das Übelste, was ich je erlebt habe. Und gleichzeitig das Wundervollste. Und gleichzeitig das Wundervollste. Das Faszinierendste. Das Höchste und Tiefste zugleich. Das Fitting. HIMMEL, ist das aus dem Ruder gelaufen. Ich zittere immer noch. Ob aus Schmerz oder Zorn vermag ich nicht zu sagen. Es ist einfach nur da. Ich zittere, und mein gesamter Körper bebt. Vielleicht ist es am Ende einfach die Hilflosigkeit. Eines der schlimmsten Gefühle, die es gibt. Schlimmer ist nur Mitleid. Aber meine Schuld war das nicht. Ach komm' Rebecca, als wenn es hier um Schuld geht. Schuld? Was ist Schuld? Mir ist scheißegal, wer schuld ist. Es ist Scheiße gelaufen, und es hat mich verletzt. Tief verletzt. Heute hat sie es endgültig geschafft. Ich habe mich zusammengerissen, so wie ich es mir vorgenommen hatte. Was mich das gekostet hat, kann ich nicht in Worte fassen. Ich sehe sie an, und bin verzaubert. Ich sehe sie nochmal an, und versinke in ihren blauen Augen. Diese Augen, die wie Kristalle funkeln und je nach Lichteinstrahlung die Farbe von blau nach grün und zurück wechseln wie von einem sanften Zauber begleitet. Will sie berühren, spüren. Sie in den Arm nehmen, streicheln, sie küssen. Ihren warmen Atem auf meinen Lippen spüren. Ihre Nähe. Ihren betörenden Duft. Es laufen Bilder und Filme ab in mir, meine Phantasie läuft zur Hochform auf, mein Magen vibriert. Werde von einem Glücksgefühl erfasst, dass mich beinahe zerspringen lässt. Aber … ich habe mich unter Kontrolle. Ich habe keine Ahnung, warum es klappt, aber ich kann es. Weil ich es will. Weil ich nichts tun möchte, was sie verletzt, was nicht gut ist für sie. Ich möchte nichts, was sie nicht auch möchte. Ich bin paralysiert, und nehme Rücksicht. Eine Mischung aus emotionaler und rationaler Steuerung, und es … es funktioniert. Nur bei ihr, bei ihr funktioniert irgendwie gar nichts mehr. Diesmal ist sie nicht nur zickig geworden. Diesmal hat sie mich nicht nur böse angezischt. Diesmal hat sie nicht kokettiert oder so getan, als sei nichts. Nein, diesmal ist sie komplett und mit allem, was sie hatte, ausgerastet. Sie hatte sich null unter Kontrolle. Solange Tristan dabei war, ging es noch. Wir haben die Änderungen an einem Blazer besprochen. Marlene wollte nicht, dass es aussieht wie ein Sack. Ich habe ihr erklärt, was ich vor hatte, und Tristan schlug dann vor, sie solle es doch einfach mal anprobieren, weil man es sich sonst nicht vorstellen könne. Soweit so gut. Ich habe genau gemerkt, wie Marlene wieder anfing rum zu zicken. Aber das ist man ja gewöhnt von ihr, das fällt niemandem mehr auf. Das ist mehr oder minder der Normalzustand, an den man sich gewöhnt wie eine Mutter an das Kindergeschrei, nämlich indem man auf Durchzug schaltet. Aber diesmal ist es mehr als das. Scheinbar sehe nur ich, dass sie ihr gewöhnliches Raster durchbricht. Dass sie auf einer internen Marlene-Zicken-Skala Stufe für Stufe höher erklimmt. Und ich selbst bin der Faktor, der diesem Vorgang sein exorbitantes Wachstum verschafft. So viel ist klar. Mir jedenfalls. Offensichtlich war es ihr unangenehm, sich vor mir umzuziehen. Klar, weil ich da was sehe, was ich noch nie vorher gesehen habe? Ich gebe ja zu, dass es mich nicht gerade kalt lässt, und sicherlich auch nervös macht, wenn sie sich vor mir umzieht. Nur, wir sind … doch keine instinktgetriebenen Tiere. Ähm, wie war das mit dem Instinkt? Gut, ja Instinkt, mein Instinkt sagt mir, dass ich diese Frau will. Mit Haut und Haaren. Mit allem, was ich habe. Aber dennoch. Hallo? Ich kann mich beherrschen, und du solltest das auch tun, Marlene! Die Frau ist echt anstrengend! Als sie den Blazer angezogen hatte, bin ich zu ihr, und habe gesagt, dass ich den Rock gern durch eine Hose ersetzen würde, und dass sie keine Angst haben bräuchte, es würde trotzdem sexy bleiben. Ich habe mir den Blazer genauer angesehen, und ein wenig hier und da zurecht gerückt, so wie es eben einfach nur normal für eine Anprobe ist. Stechend. Brennend. Stark. Unerträglich. Die ganze Zeit habe ich schon ihre Blicke bemerkt. Es war ihr mehr als unangenehm, von mir berührt zu werden. Es war, als flossen statt Blutkörperchen Millionen Volt durch ihre Adern. Es war, als würde sich das pulsierend auf mich übertragen. Es war, als könne man mit diesen Funken den Strom erzeugen, der ganz New York versorgt. Für eine ganze Woche. Oder mehr. Bei einem professionellen Umgang während eines Fittings durch zwei Kleiderschichten hindurch. Ich bekomme Fieber, wenn ich daran denke. Heiß ist kein Ausdruck. Hallo, das ist doch nicht normal? Ausgerechnet dann … geht Tristan. Er musste weg, wegen der Sache mit dem Steuerberater. Marlene stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Ehrlich gesagt, mir innerlich auch. Oder nicht. Keine Ahnung, ich hatte mich auf jeden Fall mehr im Griff als sie. Ich meine, wir waren bei LCL, was soll passieren? Nichts, was nicht schon längst passiert wäre. Ja Marlene, die schlimmsten Wahrheiten sind die, die man sich selbst nicht eingestehen will. Krampf ist kein Ausdruck für dich. Die pure Panik. Ja klar, weil nun ist sie allein mit mir, und das steigert den Druck ins Unermessliche. Sie hat Tristan regelrecht angebettelt zu bleiben und tausend Vorschläge gebracht, wie der Steuerberater das Problem allein lösen sollte. Gerade, dass sie nicht auf Knien vor ihm herumgerutscht ist. Also, unauffällig ist was anderes. Professionell auch. Irgendwann habe ich fast schon in mich rein gegrinst. Andererseits bin ich absolut professionell geblieben und habe ihr nur gesagt, dass wir das wohl gerade noch allein hinbekommen.
Und dann … ehrlich, also plötzlich und ehe ich in irgendeiner Weise reagieren kann, geht sie ab wie eine Rakete. Es ist als wenn unzählige Bomben auf mich einschlagen. Hagel, Blitz und Donner zusammen. Schlimmer als das. Heftig. Feuer frei. Quasi DIE Diva-Super-Action schlechthin. Das geht zu weit. Meine Wut stieg sekündlich. Innerlich. Und doch blieb ich ruhig. Nach außen. Gleichzeitig eine Faszination, die ihres gleichen sucht. Das ist so … sexy. Ich kann es nicht leugnen, will es nicht leugnen. Wenn sie so abgeht, erfüllt sich der ganze Raum mit Energie. Auf einen Schlag. Pure Stromstöße, die einen erfassen und nicht mehr loslassen. Stehe da und sehe sie an. Mir wird heiß. Bin gleichzeitig paralysiert, kann mich nicht bewegen. Nicht reagieren. Nichts sagen. Und dennoch: das geht so einfach nicht. Die Wut gewinnt. Krampft in mir. Steigert die tief verbarrikadierte Energie rapide. Gepaart mit der von Marlene ausgehenden Energieübertragung kommt es auch bei mir zur Explosion. Platzt am Ende auch mir der Kragen. So einen Scheiß muss ich mir nicht bieten lassen. Ich habe lediglich meine Arbeit gemacht, habe sie angesehen und kleine Änderungen am Outfit vorgenommen. Sie sollte sich drehen, und okay, unter dem Blazer hatte sie nur einen BH an. Herrje, eben so, wie es das Kostüm vorsieht. Dafür kann ich nichts. Also schon, weil ich habe es entworfen, aber ehrlich, das … ist keine Argumentation. Abgesehen davon, dass die Art und Weise, wie Marlene und ich in diesem Moment kommuniziert haben, mit Argumentation nichts mehr zu tun hatte. Sinn und Verstand fehl am Platze. Und eigentlich ging es ja auch um etwas ganz anderes. Etwas viel Tieferes, das nicht erst seit gestern in uns beiden brodelt. Auch wenn ich mich innerlich kaum halten kann, es mich umbringt, ich zu platzen drohe vor Verlangen und Begehren, weil … einfach weil diese Frau so verdammt … atemberaubend, schön und anziehend ist und eine Magie auf mich ausübt, für die ich weiterhin keine Worte finde, sich alles in mir erhellt, im Licht, durch diese Reinheit und Anmut, die andere nicht haben, sie alles hat, was mich um den Verstand bringt … ich schwöre, ich war jederzeit Profi und habe nichts anderes getan als meine Arbeit. Alles andere spielt sich in mir ab, in mir allein. Sie sieht mich einfach nicht, und es bringt mich um. Sie sieht mich doch, und es trifft mich wie ein Feuerwerk. Es ist alles so … unfassbar durchdringend. Ich sagte lediglich, dass wir am Blazer wohl noch mit Tape arbeiten müssten, damit er perfekt sitzt, und die Zuschauer nicht mehr zu sehen bekommen, als sie sollen. Das war keine sexuelle Anspielung. Oder doch? Meine Güte, also nein … das war es nicht. Vielleicht habe ich dabei leicht ihr Dekolleté berührt. Ja, sowas kommt vor in einem Fitting. Hin und wieder. Gewöhnlich. Ganz normal. Täglich. Das ist verflucht nochmal nicht der Rede wert. Sie hat sofort zurückgezuckt und den Blazer verschlossen. Nervös. Aufgeregt. Hektisch. Mehr als gereizt. Als ich ihr noch den schmalen schwarzen Schal anlegen wollte, den ich mir sehr gut dazu vorstellen könnte, war es komplett vorbei. Sie ist total ausgerastet. Hat mich angebrüllt, ich solle die Finger endlich von ihr lassen und kapieren, dass sie nix von mir wolle. Ich stand … einfach nur da. Perplex. Konsterniert. Fassungslos. Tief in mir wandelte sich die Bewegungsunfähigkeit und Reaktionsstarre langsam in aufkeimenden Zorn. Die Hände langsam zu Fäusten geballt. Geballt, erhoben und reingeschlagen in den imaginären Sandsack vor meinem inneren Auge. Mit allem, was ich habe. Es muss raus. Und bleibt doch in mir, denn all das spielt sich in meinem Innersten ab, wo sich in solchen Momenten alles stoßweise verkrampft. Die Wut, die in mir tobt wie ein Orkan. Aber kein Ventil nach außen findet. Bebt und schwelt. Gedanken, die meinen Kopf durchfluten. Unsichtbar nach außen. Das Sichtbare übernimmt Marlene. Ganz allein. Fassungslos war auch sie, nur auf … eine andere Art. Gesteuert durch die Umkehrung ihres inneren Drucks nach außen. Komisch, bei sowas kann sie es. Sich nach außen ausdrücken, sich Luft verschaffen. Luft verschaffen. Wie ein Blitz durchfährt mich dieser Gedanke. Vielleicht ist das der Grund, warum sie exakt in dem Moment austickt, als ich ihr einen Schal um ihren Hals lege. Vielleicht bleibt ihr die Luft weg. Die, die sie schon die ganze Zeit anhält, weil sie meine Nähe nicht ertragen kann. Scheinbar steht sie so unter Strom, dass sie wie eine Sicherung plötzlich aus der Fassung knallt. Rein symbolisch lege ich sie mit dem Schal vielleicht an die Kette. Am Hals. Raube ihr den Atem ausgerechnet an der Stelle, an der der Körper zu wesentlichen Anteilen mit Luft versorgt wird. Vielleicht denkt sie so. Nein, fühlt so. Vielleicht unbewusst. Unterbewusst. Nein, vielleicht wirkt es so auf sie. Wirkte es. Vielleicht liegt sie längst an der Kette. Weiß es aber noch nicht. Vielleicht hat sie davor Angst. Fühlte sich wieder bedrängt? An der emotionalen Kette, die keine wirkliche ist im Sinne von gesteuert. Und doch die stärkste, die es geben kann. Denn sie entsteht freiwillig. Aus Gefühlen, die von selbst entstehen. Nur in dir selbst, Marlene. Ich tue nichts. Es ist das, was in dir selbst entstanden ist und dich in Nervosität versetzt, sobald ich dir zu nahe komme. Frage dich, was es ist. Nein, das tut sie nicht. Sie verschafft sich Luft, vermutlich weil sie tatsächlich keine mehr bekommt. Sie brüllt und läuft einfach abrupt weg. Ich stehe da. Reglos. Immer noch. Während in mir das tobt, was sie raus lässt. Ausspuckt und mir entgegen schreit. Wie wäre es mal mit der Wahrheit, Marlene? Wie wäre es mal mit Reden in sinnhafter, geordneter Reichenfolge? Mit ehrlicher Konfrontation mit dem, was zwischen uns war, anstatt nur um dich zu schlagen, ohne Sinn und Verstand? Dein Herz spricht schon lange, bevor du es ahnst. Bevor dein Kopf es begreift, dein Verstand es erfasst. Du weißt es nur noch nicht. Kannst es nicht zuordnen, verstehst dich selbst nicht mehr. Wenn ich daran denke, zittere ich schon wieder. Und ich bin so wütend. Habe keine Lust, immer nur Verständnis zu zeigen. Ich bin auch noch da. Und ich bin nicht dein Fußabtreter, Marlene. Nicht deine Zielscheibe. Ihre Stimme hat gebebt und sich zu mindestens einer Oktave höher aufgeschwungen. Sie hat mich sogar körperlich richtiggehend von sich weggestoßen. Was habe ich denn getan? Das ist doch keine Anmache gewesen. Die spinnt doch total! So einen Scheiß brauche ich mir wirklich nicht bieten lassen. Ich will irgendwo reinschlagen. Aber ich kann nicht. Es dringt nichts nach außen durch. Äußerlich bleibe ich ruhig. Und doch koche ich. Immer noch. Innerlich. Soll sie sich doch mal fragen, warum sie so reagiert.
gez. Rebecca süß von Lahnstein
- 29.05.2012 -
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