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 Betreff des Beitrags: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:17 
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Registriert: 03.02.2009, 02:30
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hi,

ich habe hier zwei fanfictions, die auf thelwordonline.de erschienen sind, die seite ist nicht mehr online.
die autorin heisst kate, auch katie. sie ist aus bayern nach kalifornien ausgewandert, sie ist halb deutsche, halb irin (?) (glaube ich).

ich möchte einfach (endlich) den schluss der beiden geschichten wissen.

die geschichten sind 1zu1 kopiert, ich habe nichts hinzufügt.
the power of love hat es eine fortsetzung geben, aber ich war zu faul, um sie abzuspeichen. seufz.

wenn jemand was dagegen hat, dass die geschichten veröffentlich werden, pn an mich oder admins.

sabam

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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 Betreff des Beitrags:
Verfasst: 25.09.2012, 05:17 


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 Betreff des Beitrags: Re: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:18 
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The Power of Love - Teil 1

Los Angeles. Wieso gerade Los Angeles? Wie so habe ich mir gerade diese Stadt ausgesucht? Ich weiß es nicht. Irgendetwas hat mich hergeführt. Es sollte so sein, das ist das einzige, was ich weiß.

Ein paar Wochen lang bin ich nur so umhergewandert. Auf der Suche nach nichts. Nur um mir die Stadt, mein neues zu Hause, anzusehen, kennen zu lernen. Was wird mich hier erwarten? Auch das weiß ich nicht.

Ich fragte mich in den letzten Wochen oft, was meine Eltern daheim machten. Mein Bruder, meine beiden Patenkinder, meine Freunde. Geht es Ihnen gut? Sollte ich anrufen? Dann erinnerte ich mich daran, dass es in Deutschland noch tiefe Nacht war. Und eigentlich war ich mir sicher, dass es ihnen gut geht.

Ein paar Wochen lang bin ich nur so umhergewandert. Auf der Suche nach nichts. Ich habe mir die Häuser angesehen, die Farben. Immer wieder fragte ich mich, ob man tatsächlich Aussagen über einen Menschen machen konnte, wenn man nur dessen Lieblingsfarbe wusste. Früher hatte das eine gute Freundin von mir immer behauptet. Lisa.

Ich glaube nicht daran. Meine Lieblingsfarbe ist grün, warum, weiß ich nicht. Meine Freundin las mir früher immer aus ihrem „Buch der Farben“ vor, was für ein Mensch ich bin.

“Grüne Menschen“ sind realistisch und eigenwillig, sie besitzen eine stabile Selbstachtung; sie haben starke eigene Meinungen, sind moralisch und ethisch anständig, ehrlich, zuverlässig und ehrgeizig;

Allerdings sind sie zu geltungsbedürftig, eingebildet, schnell beleidigt, misstrauisch und sehr materiell; ein Mensch mit der Lieblinsfarbe grün fühlt sich oft unverstanden;

Grün-liebende Menschen fühlen sich eng mit der Natur verbunden, und wissen, dass das Leben ein Kreislauf ist, in den wir alle eingebunden sind. Zuverlässigkeit, viel Mitgefühl und große soziale Kompetenz sind ihre Attribute. Für sich selbst agieren sie eher vorsichtig und suchen Sicherheit und Geborgenheit. Jede Entscheidung gut zu überlegen, ist eine Grundhaltung von ihnen, sie können sich sehr gut konzentrieren und schenken auch den Details die nötige Beachtung.

Das ist das einzige, an das ich mich erinnern kann. So oder so ähnlich stand es in dem Buch. Ich nehme mir vor, zu Hause nachzusehen. Meine Freundin hat mir das Buch geschenkt. Bis heute weiß ich nicht, wieso.

Ich glaubte nicht an das, was ich las. Ich glaube noch immer nicht daran. Ich muss aber zugeben, dass einiges davon tatsächlich stimmt. Ich bin zuverlässig; wenn ich etwas verspreche, dann halte ich mich auch daran. Außerdem liebe ich die Natur, ich bin mit ihr aufgewachsen.

Doch ich denke nicht, dass ich eingebildet und schnell beleidigt bin. Ich weiß es nicht. So viele Dinge weiß ich nicht. Ich kenne mich nicht. Niemand kennt mich, und das ist gut so. Ich pflege, mich im Hintergrund zu halten, und das ist gut so.

Ich sah mir oft die Farben an und fragte mich, ob der Mensch, der in diesem gelb gestrichenen kleinen Haus an der Straße wirklich so optimistisch, geistvoll und aufgeschlossen ist, wie es von ihm zu erwarten wäre, schenkte man dem Farben-Buch Glauben. Vielleicht ist gelb auch gar nicht seine Lieblingsfarbe.

… ein Mensch mit der Lieblinsfarbe grün fühlt sich oft unverstanden ...

Ich habe mich oft unverstanden gefühlt. Früher. Ich war anders als andere, konnte nicht das tun, was andere von mir erwarteten, was meine Eltern von mir erwarteten.

Meine Eltern erwarteten von mir, dass ich gut in der Schule bin, gut durch das Abitur komme, studiere, mir einen netten Mann suche und ihnen irgendwann Enkelkinder schenke.

Ich war gut in der Schule. Mein Abiturdurchschnitt von 1,9 reichte mir und ich habe mein Management-Studium erfolgreich abgeschlossen. Das alles war gut so und hat in das Bild meiner Eltern gepasst.

Aber ein Mann … damit werde ich meinen Eltern nie dienen können.

Ich mag Männer, als Freunde, Kumpel. Doch mehr kann ich mir mit einem Mann nicht vorstellen.

Ich war anders als alle anderen, die ich zu diesem Zeitpunkt kannte. Ich bin auch heute noch anders, aber heute kenne ich Leute, die genauso anders sind wie ich, zumindest in Deutschland.

Ich stehe auf Frauen, ich bin lesbisch. Das habe ich immer gewusst und ich hatte nie ein Problem damit. Aber als ich es damals meinen Eltern sagte, konnten sie nicht damit umgehen. Sie können es heute noch nicht. Sie haben eine zu konservative Einstellung, die mir schon immer zu schaffen machte.

Vielleicht ist es der enorme Altersunterschied von ungefähr 40 Jahren, der der Grund für das distanzierte Verhältnis zu meinen Eltern ist. Ich weiß es nicht.

Ich habe mich unverstanden gefühlt.

Ich fühle mich immer noch unverstanden. Unverstanden von den eigenen Eltern.

Ein paar Wochen lang bin ich nur so umhergewandert. Auf der Suche nach nichts. Ich habe mir die Leute angesehen.

Was sind das für Leute? Verhalten sie sich hier anders als in Deutschland? Passe ich hier her? Falle ich auf? Fällt es auf, dass ich nicht von hier bin? Ich weiß es nicht. So viele Dinge weiß ich nicht.

Bin ich wirklich auf der Suche nach nichts?

… für sich selbst agieren sie eher vorsichtig und suchen Sicherheit und Geborgenheit …

Suche ich Sicherheit und Geborgenheit? Ich weiß es nicht.

Weiß ich es vielleicht doch? Will ich es mir nur nicht eingestehen?

Es gab eine Zeit, in der ich mich sicher und geborgen gefühlt habe. Das ist 12 Jahre her.

Damals war ich mit meiner ersten und bisher einzigen Freundin zusammen. Laura. Sie schenkte mir den Himmel auf Erden. Sie schenkte mir Sicherheit. Und Geborgenheit. Für ein Jahr schwebte ich auf der berühmten „Wolke 7“, es war das schönste Jahr in meinem Leben.

Dann starb sie und meine Wolke warf mich ab, warf mich zurück auf die harte Erde und rief mich zurück in die Realität, in die wirkliche, harte Welt.

Das ist 12 Jahre her. Ich hatte danach nie wieder eine Freundin, konnte niemandem mehr vertrauen, nicht einmal Gott.

Ich bin nie wieder so glücklich gewesen wie in diesem einen Jahr. Es ist, als ob ich mein ganzes Glück, das mir zur Verfügung steht, in diesem einen Jahr verbraucht habe und nichts mehr davon übrig ist.

Gott. Wer ist Gott? Früher habe ich es gewusst. Früher war ich jeden Sonntag in der Kirche und habe gebetet, wie sich das für einen gläubigen Menschen gehört. Früher.

Nach dem Tod meiner Freundin konnte ich nicht mehr an Gott glauben und kann es noch immer nicht. Ich fühlte mich verraten. Und ich fühle mich immer noch verraten. Ich habe gedacht, Gott hätte mir meine Freundin und damit mein ganzes Glück und meine ganze Liebe weggenommen. Das denke ich immer noch. Ich war wütend auf diesen Gott, an den ich einst geglaubt hatte. Ich bin immer noch wütend.

Ich bin weiterhin zur Kirche gegangen. Körperlich, nicht geistig. Gebetet habe ich nicht, gesungen auch nicht.

Ich musste zur Kirche gehen, mit meinen Eltern. Ich war 16, noch nicht volljährig, sie konnten mich praktisch dazu zwingen. Doch das mussten sie nicht einmal.

Ich bin sozusagen freiwillig zur Kirche gegangen. Zur Tarnung. Meine Eltern wussten nichts von meiner Freundin, sie wussten zu dieser Zeit nichts von meiner Homosexualität. Sie wussten nicht, dass ich trauerte. Bis heute wissen sie nicht, dass ich trauerte. Dass ich immer noch trauere.

Ich pflege, mich im Hintergrund zu halten, und das ist gut so.

Ich habe nie geweint. Als Baby vielleicht. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich irgendwann einmal geweint habe.

Wenn ich hinfiel, stand ich wieder auf. Den Schmerz verdrängte ich.

Wenn etwas Schlimmes passierte, trauerte ich nicht. Den Schmerz verdrängte ich.

Niemand kennt mich, so wie ich wirklich bin. Selbst ich kenne mich nicht. Ich pflege, mich im Hintergrund zu halten, und das ist gut so. Ich habe mich nie zu Erkennen gegeben.

Nur einmal. Doch der Mensch, der mich wirklich kannte, starb. Meine Liebe, meine einzige Liebe, der Mensch, der mich kannte, so wie ich bin, starb.

Ich war oft wütend, nicht nur auf Gott, sondern auch auf meine Freundin. Ich war wütend, dass sie mich im Stich gelassen hat. Eigentlich bin ich immer noch wütend.

Ein paar Wochen bin ich nur so umhergewandert, auf der Suche nach etwas, von dem ich noch nicht wusste, was es war. Ich weiß es immer noch nicht. Ich weiß so viele Dinge nicht.

Kapitel 1:

Ich stehe vor einem Café. The Planet.
Auf einem Plakat habe ich gelesen, dass hier jeden Dienstag eine Frauen-Party steigt, Radar.
Ich weiß nicht, ob es eine Art Lesben-Café ist. Eigentlich will ich mich nur einmal umsehen.
Und ein Kaffee schadet nicht. Ich bin durstig und obendrein liebe ich Kaffee.

Kann man von dem Zeug süchtig werden? Kann man es als Sucht bezeichnen, wenn man mindestens vier Mal am Tag wenigstens eine Tasse trinkt? Ich trinke morgens eine Tasse, bevor ich aus dem Haus gehe. Wenn ich im Büro ankomme, hat mir meine nette Arbeitskollegin, Libby, meistens eine weitere auf den Schreibtisch gestellt. Falls nicht, gehe ich selbst zum Automaten und hole mir eine. Dies wiederholt sich spätestens nachmittags, wenn nicht schon am Mittag. Und wenn ich dann nach Hause komme, genehmige ich mir noch eine Tasse.

Ohne Kaffee wäre ich nur ein halber Mensch. Und ich kenne viele, denen es genauso geht wie mir.

~*~

Montag. Mein freier Tag. Ich bin auf dem Weg zum Planet.
Vielleicht treffe ich dort Alice. Oder Dana. Wenn ich allerdings näher darüber nachdenke, ist das wohl eher unwahrscheinlich. Alice ist im Büro oder schreibt zu Hause und Dana trainiert wahrscheinlich.

Ich seufze. Hoffentlich kommen die beiden bald zusammen. Länger sehe ich mir dieses Desaster nicht mehr mit an. Da wissen sie beide, unabhängig voneinander, dass sie die andere lieben und sind dann zu blöd, zu kapieren, dass es der anderen genauso geht.

Ich lasse mir meinen letzten Gedanken noch einmal durch den Kopf gehen und bin froh, dass ich ihn zu niemandem laut ausgesprochen habe. Ich bin ja selbst schon überfordert, ihn zu verstehen. Aber das ist eben so. Im Kopf geht alles viel schneller und einfacher. Wie schnell fasst man einen Gedanken und arbeitet ihn im Kopf aus.

Genug davon. Wo war ich? Ja, Planet.

Nun ja, wenn niemand da ist, den ich kenne, wird sich schon irgendjemand finden, mit dem ich ein wenig plaudern kann.
Normalerweise würde ich mit jemandem flirten wollen, aber in Anbetracht dessen, was mir vor kurzem passiert ist, will ich erst einmal nichts mehr davon wissen.

~*~

Ich betrete das Café. Ein paar neugierige Augen huschen zu mir rüber. Ich nehme an, dass es die Augen derer sind, die hier Stammgäste sind und die mich hier noch nie gesehen haben. Ich frage mich, ob es auffällt, dass ich nicht von hier bin.
Ich lächle und manche lächeln zurück, bevor sie mit ihren Freundinnen die Köpfe zusammenstecken.

Ich sehe mich um und entdecke einen einzigen freien Tisch am Fenster. Es sieht so aus, als of dieses Café immer gut gefüllt ist.

Ich setze mich auf den Stuhl und schaue mich weiter um. Die meisten Gäste sind tatsächlich Frauen, junge Frauen. Nur hier und da sehe ich einen Mann an einem Tisch sitzen. Ein reiner Männer-Tisch ist nirgends zu sehen.

Ich nehme meine Zigaretten aus der Tasche und zünde mir eine an. Ob ich nach Kaffee süchtig bin, weiß ich nicht. Aber eins ist sicher, ich bin es nach Zigaretten.

Ich werfe einen Blick auf die Karte, obwohl ich weiß, was ich nehmen werde. Kaffee. Doch dann sehe ich, dass es hier Irish Coffee gibt. Ich liebe Irish Coffee und ich entscheide mich dafür.
Die Kellnerin kommt an meinen Tisch und fragt mich, was ich bestellen will.
„Einen Irish Coffee, bitte.“ Ich lächle.
Sie lächelt zurück. „Kommt sofort.“
Sie hat einen italienischen Akzent. Ich frage mich, ob sie meinen deutschen Akzent bemerkt hat.

~*~

Als ich ins Planet gehe, suchen meine Augen nach einem bekannten Gesicht. Shit. Niemand. Keine Al, keine Dane, einfach niemand. Obwohl ich mich vorhin schon damit auseinander gesetzt habe, dass eigentlich gar keiner da sein kann, habe ich trotzdem gehofft, dass sich vielleicht doch irgendwer hierher verirrt hat.

Fuck. So ziemlich alle Tische besetzt und von den wenigen, an denen noch Platz ist, halte ich mich lieber fern.
Meine Mitbewohnerinnen, die leicht wahnsinnig sind. Und natürlich all die Frauen, die ich nach einer Nacht Ficken einfach fallen gelassen habe. Sie tun mir irgendwie leid, aber ich bin eben so. Fuck`n`run.

Verdammt. Langsam muss ich mich entscheiden, wohin ich mich setze. Einige Leute sehen schon skeptisch zu mir rüber. Ich hasse es, wenn ich Aufmerksamkeit bekomme, zumindest am Tag.

Ich sehe eine Frau an einem Zweiertisch sitzen, die ich noch nie hier gesehen habe. Sie ist hübsch. Braune, schulterlange Haare, schlank. Vermutlich etwas jünger als ich.

Ich beschließe, zu ihr rüber zu gehen. Ich habe nicht die Absicht, mit ihr zu flirten, sage ich mir selbst.

~*~

Ich nehme erneut die Karte in die Hand und schlage die Seite mit den Cocktails auf. Ich sehe mir die Liste durch.
Ganz unten stehen unter „Specials“ die Drinks „Gaydar“, „Women`s Dream“ und „Gay Passion“.

„Hi.“
Ich hebe den Kopf. Eine junge Frau, kaum älter als ich, steht an meinem Tisch und lächelt mich an.
„Hallo.“ Ich lächle ebenfalls und bin fasziniert von dieser Frau. Ich sehe ihr an, dass sie eine Lesbe ist. Haarschnitt, Kleidung, jungenhaftes Aussehen. Eine Butch. Zumindest für L.A.-Verhältnisse. Hat sie bemerkt, dass ich lesbisch bin?

„Darf ich mich zu dir setzen?“ Sie hat eine tiefe, raue Stimme. Heiß. Diese Frau raubt mir den Atem.
„Ja, klar“, sage ich mit reichlich Verspätung und nehme meine Handtasche von dem Stuhl neben meinem.
„Danke.“ Sie setzt sich und zieht ihre Jacke aus. Ich frage mich, wieso sie in dieser Hitze eine Jacke trägt.
„Es ist nirgendwo mehr ein Platz frei und zu manchen Leuten möchte ich mich nicht setzen. Wie heißt du?“
Ich sehe ihr in die Augen. Grün. Ich würde gerne wissen, was ihre Lieblingsfarbe ist. Nur so. Sie hat große, liebevolle Augen, die mich antörnen.
„Oh, ich bin Anna.“ Ich spreche meinen Namen englisch aus.
„Freut mich. Shane.“ Wir reichen uns die Hand. Ich spüre das Knistern, wie ein leichter Stromschlag, der mich durchfährt. Ich frage mich, ob sie es auch fühlt.

Shane. Ich lächle in mich hinein. Ein Männername, doch er passt zu ihr. Warum haben ihre Eltern ihr diesen Namen gegeben?

~*~

Wow. Aus der Nähe ist sie noch viel hübscher. Anna.
Trotz ihrer dunklen Haare hat sie eine helle Haut. Und blaue Augen. Ich habe noch nie jemanden mit solchen Augen gesehen. So hell und klar, mit seltsam vielen Mustern.

Untersteh dich, Shane, ermahne ich mich selbst. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu flirten.
Stattdessen greife ich in meine Hosentasche und nehme eine Schachtel Zigaretten heraus. Ich glaube, Anna hat einen Moment überlegt, ob sie mir Feuer geben sollte, aber ich war schneller. Reine Vorsichtsmaßnahme, um mich selbst unter Kontrolle zu halten.

Ich höre einen leichten Akzent in ihren Worten. Vielleicht täusche ich mich auch. Sicherheitshalber frage ich nach.
„Woher kommst du?“

~*~

Sie reißt mich aus den Gedanken. Hat sie wirklich bemerkt, dass ich nicht von hier bin? Obwohl ich bis jetzt nicht mehr als fünf Worte herausgebracht habe?
„Deutschland. Bayern, genau genommen.“

Ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. Ging es ihr genauso? Unser Augenkontakt wird jäh unterbrochen, als die Kellnerin wieder an den Tisch tritt.
„Der Irish Coffee für dich.“ Ich bedankte mich.
„Hi, Shane.“
„Hey, Marina. Darf ich vorstellen? Das ist Anna, sie kommt aus Deutschland. Anna, das ist Marina. Sie ist die Inhaberin des Planet. Sie ist in Italien geboren.“

Wir lächeln, reichen uns die Hand und tauschen uns kurz über die Tatsache aus, dass wir beide aus Europa stammen. Ich hatte also Recht mit dem italienischen Akzent. Shane bestellte einen Cappuccino.
„Entschuldigt mich. Heute ist viel zu tun. Deinen Cappuccino bringe ich sofort. Und Anna – der Kaffee geht aufs Haus.“
Ich bin verwirrt und bedanke mich. Wieso muss gerade ich nichts bezahlen? Vermutlich wegen Shane.

Marina dreht sich um und geht wieder in Richtung Tresen. Ich nehme einen großen Schluck von meinem Irish.

Ich wende mich wieder Shane zu. Sie sieht mich an. Ich liebe ihre Augen, ihre grünen Augen.
„Ist das hier eine Art … Lesben-Café?“
Sie fängt an zu lachen. Ich frage mich, wieso. Dann schaut sie mich an.
„Hier treffen sich viele Lesben. Aber auch Heteros sind sehr willkommen. Doch du hast Recht, die meisten Gäste sind Lesben.“ Sie hält kurz inne. „Bist du eine?“
Ich zögere. Ihre Direktheit verunsichert mich. Irgendetwas sagte mir, dass sie weiß, dass ich auf Frauen stehe.
„Ja.“ Es zu leugnen, wäre dumm. „Und du?“ Ich muss schmunzeln, denn ich spiele ihr Spiel weiter. Ich weiß, dass sie es ist.
Shane fängt wieder an zu lachen. „Sag nicht, dass du das nicht bemerkt hast.“

Das ist nicht die Antwort, die ich erwartet habe, doch ich gehe nicht weiter darauf ein.

~*~

Ich muss wohl zugeben, dass mich diese Frau wahnsinnig macht.
Anna. Mit ihren schönen, unschuldigen Augen.

Seltsam. Irgendwie denke ich, wir kennen uns schon lange. Da ist etwas Vertrautes zwischen uns. Ob sie es auch spürt? Vielleicht ist sie die Frau, auf die ich warte? Nein. Ich verwerfe den Gedanken wieder.

Marina kommt erneut an den Tisch und stellt meine Tasse ab. Ich bedanke mich und Marina geht zurück.
„Ist Marina auch lesbisch?“
„Ja.“

Ich beobachte, wie sie einen Schluck von ihrer Tasse nimmt und dann auf ihre Armbanduhr sieht.
„Shit. Meine Mittagspause ist gleich zu Ende. Ich muss zurück ins Büro.“ Ihr Blick lässt mich vermuten, dass ich wohl für einen Moment enttäuscht ausgesehen habe.

Shit. Sie will gehen. Nein, nein, nein. Ich will nicht, dass sie geht. Was mach ich nur?

~*~

Ich reiche ihr die Hand. „Hat mich gefreut, dich kennen zu lernen.“
Sie nimmt meine Hand. Ich spüre wieder dieses Knistern, und es fühlt sich unheimlich gut an. „Mich hat es auch gefreut.“
Wir lächeln uns an. Dann drehe ich um und gehe in Richtung Tür. Bitte, Shane, bitte, sag etwas. Bitte halt mich auf. Ich möchte so sehr, dass sie noch etwas sagt. Ich gebe die Hoffnung fast auf.

„Anna!“
Ich bin mindestens 20 Meter von dem Tisch entfernt und sie musste ziemlich laut sprechen, damit ich sie hörte.

Nach einem Seufzen der Erleichterung drehe ich mich um und gehe zurück zu ihr. Ich lasse mir meine Freude nicht anmerken. Oder doch?
„Was ist?“, frage ich unschuldig.
Sie zögert. Ich frage mich, was in den paar Sekunden, in denen ich weggegangen bin, in ihr vorgegangen ist.
„Morgen steigt hier eine Party, eine Party für Frauen. Radar. Ich würde mich freuen, wenn du kommst.“

Ich denke darüber nach. Wieso eigentlich nicht? Morgen ist Dienstag. Und am Mittwoch ist mein freier Tag.
Ich lasse sie kurz zappeln.

„Gut. Ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Sie scheint mit dieser Antwort zufrieden zu sein. Sie weiß, dass ich kommen werde.

Wir verabschieden uns und ich gehe zurück zum Büro. Ich verspäte mich.
Gedankenversunken und mit einer weiteren Zigarette in der Hand laufe ich der Straße entlang. Ich kann mich kaum darauf konzentrieren, den vielen Leuten, die mir entgegenkommen, auszuweichen.

Shane. Wieder muss ich schmunzeln.
Ihre Augen. Grün. Ich habe in ihnen Schmerz gesehen. Großen Schmerz. Vielleicht täusche ich mich. Hat sie in meinen, blauen, Augen auch Schmerz gesehen? Schmerz, der nie vergehen wird? Ich weiß es nicht.

~*~

Fuck. Ich habe es getan. Ich habe das getan, was ich mir zuvor verboten hatte, zu tun. Verdammt.
Ich meine nicht das Flirten. Eigentlich habe ich gar nicht mit Anna geflirtet. Aber ich habe sie eingeladen, was allerdings mindestens genauso schlimm ist.

„Shane.“ Ich schrecke hoch. Nur Marina.
Sie setzt sich zu mir und ich frage mich, was sie von mir will.
„Du magst sie, oder?“ Was soll die Fragerei? Eigentlich ist das Alices Part.
„Nein“, sage ich schlicht und hoffe inständig, dass sie mir das abkauft.
„Ach, komm schon. Ich kenne dich lange genug. Die Art, wie du sie angesehen hast, war anders als sonst.“ Ich seufze. Wäre ja auch zu schön gewesen.
„Shane, du hast es verdient, auch mal glücklich zu sein. Lass dich doch einfach fallen.“
Jetzt reicht`s. Ich krame einen 5$-Schein aus meiner Hosentasche und lege ihn, nicht unbedingt sanft, auf den Tisch.
„Nein, Marina. Das letzte Mal, als ich das getan habe, wäre ich fast daran zerbrochen. Es war das erste und einzige Mal, dass ich mich fallen gelassen habe.“

Ich nehme meine Jacke vom Stuhl und verschwinde. Lasse eine verdutzte Marina und eine halbvolle Tasse Cappuccino zurück.
Ich hasse solche Unterhaltungen. Habe sie immer gehasst.


Kapitel 2

Radar. Eine Party nur für Frauen. Das hört sich interessant an. Aber ich interessiere mich am meisten für Shane.

Ich mache mir Gedanken. In den letzten Jahren hatte ich oft Dates. Die Frauen waren nett, doch ich konnte mir nicht vorstellen, mit ihnen zusammen zu sein, und es tat mir leid.
Es war wegen Laura. Nach ihrem Tod konnte ich keiner Frau mehr näher kommen. Es ging einfach nicht.
Ich glaube, es ist, weil ich mir die Schuld dafür gebe. Ich gebe mir die Schuld dafür, dass sie tot ist. Ich denke, dass ich jedem Unglück bringe. Meinen Eltern, Laura. Wahrscheinlich ist es Schwachsinn, so zu denken. Es geht nicht anders.

Shane. Ist es mit ihr anders? Ich weiß es nicht.
Sie fasziniert mich, seit ich sie gestern zum ersten Mal sah.
Ich werde abwarten, wie sich die Sache entwickelt. Doch habe ich die Geduld, abzuwarten?

~*~

Halb 6. In 2 Stunden treffe ich mich mit den anderen. Noch genug Zeit für ein klein wenig Spaß. Nur mit wem?

Ich gehe meine im Kopf gespeicherte Liste mit den in Frage kommenden Frauen durch und entscheide mich schließlich für Alex.
Sie ist genau die Richtige. Will auch keine Beziehung. Spaß, ohne dass Gefühle im Spiel sind. Und Gefühle will ich nicht. Nie mehr will ich mich fallen lassen. Das einzige Mal, als ich es tat, wäre ich fast umgekommen vor Kummer.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und wähle Alex`s Nummer. Glücklicherweise habe ich sie noch eingespeichert.
Es dauert nicht lange, bis sie abnimmt.

„Hey Shane.“ Es wundert mich, dass sie so fröhlich klingt, obwohl sie gerade meinen Namen auf ihrem Display gelesen hat. Schließlich habe ich sie fallen gelassen, wie alle anderen.
„Hi Alex. Sag mal, hast du Lust, dich mit mir zu treffen?“
Ohne zu zögern, sagt sie: „Klar! Meine Zimmergenossinnen sind schon weg, du könntest also rüber kommen.“
„Ähm … ja!“ Wieso bin ich so verwirrt?
„Okay, ich freu mich.“

Auf dem Weg zum Auto zünde ich mir noch eine Zigarette an und fahre dann los.

~*~

Mein Tag im Büro war stressig. Da kommt es mir recht, heute auszugehen. Vielleicht lerne ich ein paar Leute kennen. Ich freue mich auf Radar. Auf Shane.

Der heiße Wasserstrahl der Dusche tut mir gut.
Ich liebe Wasser. Vor zwei Wochen habe ich ein Schwimmbad in meinem Wohnblock entdeckt. Ich habe vor, mir eine Karte zu besorgen, um dort schwimmen zu können. Vielleicht reicht in ein paar Jahren das Geld, um ein schönes Häuschen mit Pool in einem ruhigen Wohngebiet zu kaufen. Das wäre traumhaft.

Schwimmen mochte ich schon immer. Als ich klein war, sagte mein Vater immer: „Du bist im Wasser wie ein Fisch.“ Das stimmt. Ich fühle mich unter Wasser frei. Frei wie ein Fisch. Unabhängig. Das ist meine Welt.
Wenn ich einmal sterbe, wünsche ich mir, dass meine Asche über dem Ozean verstreut wird. Vielleicht ist es dumm, jetzt schon darüber nachzudenken. Schließlich bin ich erst 28. Doch ich bin mit dem Tod konfrontiert worden. Ich habe gesehen, wie schnell er kommen kann. Laura starb mit 18.

~*~

Ich muss an Anna denken. Ihre Augen. Ihr Lächeln. Einfach alles an ihr ist wunderschön.

Ich verschlage die Gedanken an sie und biege in die Straße ein, in der Alex wohnt.

Ich steige aus dem Auto und drücke auf den Knopf neben dem Namensschild. Alexia Weise.
Alex öffnet mir die Tür. Bekleidet mit einem schwarzen Spitzenhemd und dem dazu passenden Höschen lässt sie mich ein. Sexy.
„Hi, Shane.“

~*~

Ich denke jedem einzelnen Tag an Laura. Ich kann sie nicht vergessen. Sie war meine erste Liebe. Und ich glaube, ich liege richtig, wenn ich sage, dass ich heute noch mit ihr zusammen wäre, wenn uns ihr Tod nicht auseinander gerissen hätte.

Ich steige aus der Dusche, greife nach einem Handtuch. Ich trockne mich nicht ab, will das Wasser noch länger auf meiner Haut spüren. Ich betrachte mein Spiegelbild.

Shane. Ist das, was ich tue, richtig? Kann ich mich mit ihr einlassen?
Ich habe das Gefühl, ich verrate Laura, wenn ich es tue.
Aber vielleicht kann ich nicht ewig alleine bleiben.

Nie habe ich mich jemandem anvertraut. Nie habe ich jemandem erzählt, dass ich eine Freundin hatte. Nie habe ich jemandem erzählt, was mit Laura passiert ist. Nie habe ich mit jemandem über meine Gefühle gesprochen. Nie hatte ich den Drang, jemandem mein gebrochenes Herz auszuschütten. Nie habe ich geweint.

Mit dem Handtuch umschlungen gehe ich ins Wohnzimmer. Zum Bücherregal.
„Das Buch der Farben – Was Farben uns sagen“
Ich nehme es heraus und betrachte es. Man sieht, dass es alt ist. Der Einband ist an einigen Stellen zerrissen.

Dieses Buch hat einen besonderen Wert für mich. Es hat meiner besten Freundin gehört. Sie hat es mir geschenkt, als ich vor sechs Wochen hierher gezogen bin.

Ich lächle. Wie oft hat sie mir daraus vorgelesen. Immer noch frage ich mich, wieso sie es mir gegeben hat, wo es für sie doch so viel bedeutete. Für mich war es immer ein einfaches Buch, in dem nicht einmal die Wahrheit steht.

Auf der Vorderseite ist der Farbkreis abgebildet. Ich erinnere mich daran, dass wir in der Schule im Kunstunterricht einmal einen solchen zeichnen mussten. 12 Farben. Ganz oben gelb, gegenüber die Komplementärfarbe violett, die sich aus magentarot und cyanblau zusammensetzt. Rot auf vier Uhr, blau auf acht Uhr, dazwischen die Mischfarben.
Ich wundere mich darüber, dass ich dies noch weiß. Kunstunterricht. 5. Klasse.

~*~

Alex küsst mich leidenschaftlich. Aber da sind keine Gefühle. Keine Liebe. Und das ist gut so. Genau so soll es sein.
Ich erwidere den Kuss. Sie zieht mich, immer noch küssend, ins Schlafzimmer. Ich meine, mich zu erinnern, dass sie ein sehr bequemes Bett besitzt, schmunzle bei dem Gedanken.

Alex stößt mich sanft auf die weiche Matratze und lächelt. Ich lächle zurück und sie zieht ihr Spitzenhemd aus.
Sie hat wunderschöne Brüste. Groß. Wohl geformt. Ein Leckerbissen.
Ich ziehe meine Jacke aus und sie beugt sich über mich. Wir küssen weiter. Dann setzt sie sich auf meine Oberschenkel und zieht mich zu ihr hoch. Küsst mich. Sie nimmt mein Shirt und zieht es mir über den Kopf. Ich trage keinen BH. Grundsätzlich nicht.

Sie drückt mich wieder nieder und legt sich auf mich. Ich spüre ihre Brüste auf meinen. Ihre Nippel sind hart.
Sie greift mit ihrer Hand in meine Jeans während sie mich küsst.

„Nein!“
Alex starrt mich an. Shit.
Ich habe ihre Hand genommen und mich von ihr weggedreht. Fuck.
Habe ich es laut ausgesprochen? Ja, habe ich.
Wieso? Wieso habe ich sie aufgehalten? Es hat mir schließlich Spaß gemacht.
Ich will mit ihr schlafen. Und trotzdem habe ich sie gestoppt.
„Hab ich irgendwas falsch gemacht?“ Sie sieht mich verwirrt an. Ich hasse diesen Blick. Sie ist nicht böse. Schlimmer, sie fühlt sich schuldig.
„Nein! Es liegt nicht an dir. Ehrlich. Es ist nur …“
„Was?“
„Es tut mir leid.“

Ich stehe auf und ziehe mein T-Shirt wieder an. Dann gehe ich aus dem Zimmer, ohne noch ein Wort zu sagen.

~*~

Ich schlage das Buch auf. Letzte Seite. 228. Ich frage mich, wie man es schafft, so viel nur über Farben zu schreiben.
Ich blättere zurück. Lieblingsfarbe Grün. Ich überfliege die Zeilen.

… oft introvertiert und passiv … fühlt sich stets vom Wasser angezogen … liebt die Natur …

Ich glaube nicht daran. Aber manches stimmt.

Ich schaue auf die Uhr. Schon 7. Ich muss mich beeilen.
Ich gehe zurück ins Bad. Spüre noch immer den Wasserdampf der Dusche.

Ich putze mir die Zähne, föhne mein Haar, trage Make-up auf. Ich gebe mir große Mühe, will hübsch aussehen. Für Shane.
Dann gehe ich ins Schlafzimmer. Zum Kleiderschrank. Ich picke mir mein Lieblingstop heraus, orange-pink. Dazu eine Jeans, die ich schon ewig besitze, an den Knien zerrissen. Abgenutzt, und trotzdem liebe ich sie. Passende Schuhe, Handtasche.
Ich lege meine Brille zur Seite und entscheide mich stattdessen für Kontaktlinsen.
Ringe, Halskette, Ohrstecker.

Ein letztes Mal betrachte ich mich im Spiegel und bin zufrieden.
Nach einer schnellen Zigarette mache ich mich auf den Weg.

~*~

Verdammter Mist. Ich fühle mich schrecklich.
Ich glaube, ich habe Alex gerade sehr verletzt. Dabei wollte ich das gar nicht. Ich beschließe, mich morgen bei ihr zu entschuldigen.
Ich fahre in Richtung Planet.

Anna.
Langsam wird mir bewusst, dass sie der Grund für meinen Aussetzer eben war. Ich konnte nicht aufhören, an sie zu denken. Nicht einmal, als Alex fast nackt vor mir stand. Ich habe immer nur Anna gesehen. Habe mir vorgestellt, wie es wäre, mit ihr zu schlafen.
Warum nur? Warum kann ich mich nicht an meine eigene Regel halten? Die Regel „Nie wieder Beziehung!“. Fuck fuck fuck!

Froh, direkt vor dem Planet einen Parkplatz bekommen zu haben, öffne ich die Tür zum Café und gehe zu unserem Stammtisch, wo Alice und Dana schon sitzen.
Nimm dich zusammen, Shane, sage ich mir selbst und laufe auf die beiden zu.

Wir begrüßen uns und ich setze mich.
Kaum eine Minute später kommt auch Jenny und wir bestellen bei Marina unsere Drinks. Ich nehme nur eine Cola. Wegen dem Auto.
Ich hoffe inständig, dass niemand bemerkt, wie nervös ich bin. Vermutlich ist es wegen Anna. Und die Tatsache, dass ich wegen ihr gerade eben eine andere Frau versetzt habe.

~*~

Ich stehe vor dem Planet, an dessen Eingangstür ein großes Radar-Plakat befestigt ist.
Ich öffne die Tür, trete ein, sehe mich um. Meine Augen suchen Shane. Die Suche war kurz.
Ich sehe sie an einem Tisch sitzen. Mit ein paar anderen Frauen. Sie lachen.

„Hey Anna.“
Ich drehte mich zur Seite.
„Oh. Hi Marina.“
Marina steht neben mir, ein Tablett mit zwei Flaschen Coke und einem undefinierbaren, vermutlich alkoholischen Drink in der Hand.
Sie wünscht mir viel Spaß und geht zu einem Tisch, wo sie die Getränke abstellt.

Ich blicke zurück zu Shane. Anscheinend hat sie mich noch nicht bemerkt.
Ich gehe quer durch den Raum zu dem Tisch, an dem sie saß. Es sind noch nicht allzu viele Leute hier. Ich bin mir aber sicher, dass sich dies bald ändern wird.

Ich bin ungefähr drei Meter von ihrem Tisch entfernt, als sich unsere Blicke treffen. Diese Augen. Wunderschön. Ich merke, dass auch die anderen mich ansehen.
Shane steht auf, packt mich sanft am Arm und zieht mich an den Tisch.
„Hi. Ich freu mich, dass du da bist.“
„Hallo.“ Ich lächle.
Sie wendet sich zu ihren Freundinnen.
„Hey Leute, das hier ist Anna. Ich hab sie gestern hier kennen gelernt. Sie kommt aus Deutschland und ist erst seit kurzer Zeit hier.“
Alle lachen mir zu und begrüßen mich. Sie scheinen nett zu sein.
Shane dreht sich wieder mir zu.
„Anna, das sind Alice, Dana und Jenny. Marina kennst du ja schon. Und da drüben ist Kit. Sie legt die Musik auf.“
Alice hat einen frechen Kurzhaarschnitt. Blond. Ihre Augen sehen asiatisch aus. Zwischen ihr und Dana, die lange braune Haare hat, scheint irgendwas zu laufen. Und Jenny hat sehr lange schwarze Haare. Vielleicht sind sie auch sehr dunkelbraun. Ich weiß nicht.

Ich ziehe meine Jacke aus und setze mich neben Shane. Sie lächelt mir zu. Ich lächle zurück. Diese Frau ist atemberaubend. Merkt sie, dass ich Interesse an ihr habe?

Ich bestelle bei Marina einen Drink namens „Gay Passion“, der mir gestern schon aufgefallen ist.
„Wir können also davon ausgehen, dass du lesbisch bist?“ Alice sieht mich erwartungsvoll an. Sie scheint sehr neugierig zu sein.
Ich nicke. „Ja, das bin ich. Was ist mit euch?“
Shane und Dana bekennen sich als Voll-Lesben, die noch nie mit einem Mann geschlafen haben. Alice sagt, sie sei bisexuell. Und Jenny?

~*~

Jenny erzählt Anna von der Beziehung zwischen ihr, Tim und Marina. Anna ist verwirrt, das sehe ich ihr an.
Kein Wunder. Schließlich ist es ziemlich kompliziert, was da abläuft.
Verdammt. Ich kann meine Augen nicht von Anna wenden. Ich hoffe, sie merkt nicht, dass ich sie die ganze Zeit anstarre.
Doch da ist noch Alice, die schon die ganze Zeit neugierig zu mir herüber lugt. Ich warte immer noch sehnsüchtig auf den Tag, an dem sie aufhört, ihre Nase in Angelegenheiten anderer Leute zu stecken. Wie dem auch sei, ich mag Al.

Wieder sehe ich Anna an. Diese Frau macht mich einfach verrückt.

~*~

Ich habe meine Verwirrung über Jennys Story gerade einigermaßen überwunden, als Marina mit meinem Drink kommt. Ich bedanke mich und sehe mir ihn an. Gelb-orange. Sieht gut aus.
„Gute Wahl“, bestätigt Shane.
Ich koste davon und schmecke Malibu, Ananas und Kirschsirup. Ich denke an Hawaii, Südsee. Lecker.

Ein wenig später kommen noch zwei Freundinnen von Shane. Bette und Tina, ein Paar.
Wir verstehen uns gut. Wir unterhalten uns. Es tut mir gut, mich mit jemandem zu unterhalten, wenn es auch nur Small Talk ist.
Ich mag Shanes Freunde. Ich mag Shane.

Ich gehe zur Toilette, um mich kurz frisch zu machen. Meine Lippen sind trocken. Ich brauche Lipgloss.

~*~

„Sag schon, Shane, was läuft da zwischen euch?“
Ich wusste, dass sich Al nicht zurückhalten kann. Sie muss eben immer alles ganz genau wissen. Aber irgendwie lieben wir sie dafür.
„Ich hab sie gestern hier kennen gelernt. Durch Zufall. Da ist nichts weiter.“
„Komm schon, Shane, das kannst du deinem Teddy erzählen.“
Ich verdrehe meine Augen. „Al, erstens besitze ich keinen Teddy. Und zweitens ist da wirklich nichts am Laufen.“

Ich habe es tatsächlich fertig gebracht, mit einem Luftzug zwei Mal zu lügen. Ich denke nämlich, dass doch irgendetwas zwischen Anna und mir läuft. Was genau, weiß ich noch nicht.
Und außerdem besitze ich tatsächlich einen Teddy. Nur, hätte ich es gesagt, würde mich Alice bis in alle Ewigkeit damit aufziehen.
Alice sieht mich misstrauisch an. Sie glaubt mir nicht. War ja eigentlich klar.

Ich muss wieder an Alex denken. Shit. Sie tut mir so leid. Sie hat es nicht verdient, abserviert zu werden. Ich hoffe, sie kommt nicht auf solche Ideen wie Lacey damals. Aber nein, so ist Alex nicht.
Ich werde mich bei ihr entschuldigen. Und ich weiß, sie wird es verstehen.

~*~

Ich wasche mir die Hände, als eine Frau neben mir auftaucht. Sie starrt mich an. Es stört mich. Doch ich sage nichts.

„Du bist die neue von Shane?“
Ich sehe sie an. „Ich … Was?“
„Du bist die neue von Shane?“, fragt sie erneut.
„Ich … Nein, ich …“.
„Hör mir zu, ich will dich nur warnen.“ Ich schenke ihr einen misstrauischen und zugleich unsicheren Blick. Wovor will sie mich warnen?
„Shane spielt mit den Frauen, sie fickt sie und lässt sie dann fallen. Sie hat das auch mit mir gemacht.“

Ich sehe sie wieder an. Shane hat mit dieser Frau geschlafen. Vielleicht ist es ein kranker, perverser Gedanke, aber ich versuche mir das Bild der beiden vor meinem geistigen Auge vorzustellen.
„Versteh mich nicht falsch. Ich bin Shane nicht böse deswegen. Denn es war das, was ich wollte. Eine Nacht. Aber du siehst nicht so aus, als ob du auf One-Night-Stands aus bist. Also sei vorsichtig.“
Sie geht hinaus. Lässt mich völlig verwirrt zurück. Ich weiß nicht, was ich tun soll, was ich denken soll.

Shane, eine Spielerin. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Bis jetzt wusste ich nicht mal, dass ich Shanes „Neue“ bin. Bin ich das? Ist Shane darauf aus, mich zu ficken? Heute Nacht? Und morgen ist alles vorbei?
Ich sollte Shane nicht vorschnell verurteilen. Ich weiß ja nicht mal, wer diese Frau ist, die gerade hier war. Vielleicht steht sie auf Shane und ist eifersüchtig auf mich. Ich weiß es nicht.

„Shane spielt mit den Frauen, sie fickt sie und lässt sie dann fallen. Sie hat das auch mit mir gemacht … Aber du siehst nicht so aus, als ob du auf One-Night-Stands aus bist. Also sei vorsichtig.“

Ich trete in den mittlerweile überfüllten Partyraum. Die Musik, die Kit auflegt, gefällt mir.
Ich sehe die Frau, deren Namen ich nicht mal weiß. Ich sehe sie und sie sieht mich. Sie nickt mir zu. Ich drehe mich weg und gehe zurück zum Tisch.
Ich setze mich und zünde mir eine Zigarette an.

~*~

Ich sehe Anna an. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.
„Was ist los?“
„Ach, ich hab wohl zu viel getrunken.“ Ich weiß, dass es nicht die Wahrheit ist. Und sie weiß, dass ich ihr nicht glaube.
„Du siehst ganz blass aus. Geht es dir wirklich gut?“, mischt Alice sich ein. Nun starren auch alle anderen Anna an.
„Ja. Ich bin nur müde. Ich werde wohl besser nach Hause gehen.“
Anna drückt die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus, legt Geld auf den Tisch und nimmt ihre Autoschlüssel zur Hand.

Ich glaube für einen Moment, ich sehe nicht recht. Ich blicke sie entgeistert an.
„Du kannst unmöglich fahren.“
„Das geht schon. So weit ist es nicht. Mir geht’s gut.“
„Nein!“ Ich glaube, ich klinge sehr bestimmt. „Ich fahre dich. Das Auto lässt du hier stehen. Du kannst es morgen abholen.“
Sie stützt ihren Kopf in die Hand.

~*~

„Keine Widerrede!“ Ich weiß, sie meint es so. Sie ist besorgt um mich.
Ich denke, das ist trotz allem ein gutes Zeichen.

Es ist halb elf. Ich hatte eigentlich vor, länger zu bleiben. Aber das geht nun nicht mehr. Nicht nach dem, was auf der Toilette passiert ist.

Ich stehe auf, ziehe meine Jacke an. Ich verabschiede mich von den anderen und stelle sicher, dass wir uns wieder sehen. Sie laden mich am Donnerstag in eine Bar namens „Milk“ ein. Vielleicht gehe ich hin.
Shane und ich gehen zur Tür. Da steht sie wieder. Die Frau, die mich vor Shane gewarnt hat.

„Hi, Shane.“
„Hey, Mary.“
Die beiden lächeln sich an. Mary. Sie heißt Mary. Für mich hat Mary einen mitleidigen Blick übrig. Vermutlich denkt sie, Shane schleppt mich gerade ab.

~*~

Wir gehen nach draußen auf die Straße. Ich glaube, die frische Luft tut Anna gut.
„Wer war das eben?“, fragt sie.
„Das war Mary. Wir haben vor ein paar Monaten eine Nacht zusammen verbracht.“
Sie sieht zu Boden. Ich frage mich, was plötzlich mit ihr los ist.

~*~

„Wir haben vor ein paar Monaten eine Nacht zusammen verbracht.“
Sie hat das gesagt, als wäre es das Normalste der Welt.

Shane fährt einen Jeep. Toyota. Der Wagen passt zu ihr. Ich setze mich auf den Beifahrersitz und sage ihr, wie sie fahren muss. Irgendwie ist es mir peinlich, dass sie mich nach Hause fährt. Ich glaube, sie wäre gern noch ein paar Stunden auf der Party geblieben. Ich spreche das Thema nicht an.

Irgendwas muss ich sagen. Irgendetwas.
„Danke für den schönen Abend.“
Sie schaut mich an. „Dafür musst du mir nicht danken.“
„Ich bin froh, dass ich hier ein paar Leute kennen gelernt habe.“
Sie lächelt kurz, dann wird ihr Gesichtsausdruck ernst. „Ich mach mir Sorgen um dich. Du siehst gar nicht gut aus.“
„Mir geht es aber gut. Ich vertrage nur nicht viel Alkohol.“
„Okay.“

Ich glaube, es ist nicht okay. Sie merkt, dass etwas nicht stimmt. Und sie weiß, dass es nicht am Alkohol liegt. Obwohl ich wirklich viel getrunken habe.

~*~

Sie zeigt auf ein Haus und ich halte an. Es ist hübsch. Klein, aber wirklich hübsch.

Verdammt, irgendetwas muss ich sagen.
„Also, soll ich dich morgen irgendwann abholen, damit du dein Auto zurückbekommst?“
„Oh, nein, das ist nicht nötig. Ich kann laufen.“
Sie sieht mich an. Ich lächle. „Ich mache das gern.“
Sie seufzt. Und sie weiß, dass sie gegen mich keine Chance hat.
„Okay.“ Ich spüre, dass sie dies eigentlich nicht sagen wollte. Jetzt ist es passiert.

~*~

Wir sehen uns an. Einen Moment lang denke ich, sie will mich küssen. Vielleicht wollte ich sie einen Moment lang küssen?

„Darf ich dich etwas fragen?“
Shane grinst. Es ist ein jungenhaftes, einseitiges Grinsen. „Nur zu.“
Ich zögere. Vermutlich findet sie die Frage blöd. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“

Zu meiner Erleichterung lächelt sie und antwortet fast sofort. „Orange.“
Es überrascht mich, dass gerade orange ihre Lieblingsfarbe ist. Ich habe auf schwarz oder blau getippt. Ich lächle und steige aus dem Wagen. Wir verabreden uns für morgen Mittag und verabschieden uns.

~*~

Sie schlägt die Autotür zu und ich fahre weg.
Einen kurzen Augenblick habe ich mir überlegt, ob ich warten sollte. Ich weiß, sie wird sich noch einmal umdrehen.
Aber dieses Risiko kann ich nicht eingehen. Ich weiß, was ich tun würde, wenn sie noch einmal zum Auto käme.

~*~

Langsam gehe ich zum Haus und nehme währenddessen den Schlüssel aus der Tasche. Ich drehe mich noch einmal um. Was habe ich erwartet? Dass sie da steht, mit offenen Armen, die mich auffangen?
Ich schüttle den Kopf und seufze.

Ich stecke den Schlüssel ins Schloss. Dann ziehe ich ihn wieder heraus und setze mich auf die Treppe, rauche.

Ich zerbreche mir den Kopf über Shane. Was macht diese Frau nur mit mir? Ich kenne sie doch gerade mal einen Tag. Und trotzdem bin ich gefangen. Gefangen in dem Bann, in den sie mich gezogen hat.

Nach dieser letzten Zigarette gehe ich ins Haus und schalte das Licht an. Niemand da. Natürlich nicht. Ich denke an Laura. Wäre sie hier, wenn sie noch leben würde? Ich weiß es nicht.


Kapitel 3

Ich fahre nicht nach Hause. Stattdessen stelle ich mein Auto auf einem Parkplatz ab und gehe zum Strand. Ich brauche Zeit zum Nachdenken und das kann ich am Besten am Strand. Auf meine durchgeknallten Mitbewohner kann ich im Moment gut verzichten. Wird ohnehin Zeit, mir etwas anderes zu suchen.

Es ist nach elf. Eigentlich dürfte ich nicht mehr hier sein. Der Strand ist ab elf sozusagen ´geschlossen`. Es ist mir egal. Ich komme oft hierher.

Ich ziehe meine Chucks aus und nehme sie in die Hand, um den Sand unter meinen Füßen zu spüren. Er ist immer noch erstaunlich warm.
Ich laufe weiter und schließe die Augen. Atme tief ein. Der Wind trägt den Geruch des Meeres. Wirbelt mir die Haare durcheinander. Ich fühle mich frei.

Oft komme ich nur hier her, um das Gefühl der Freiheit zu spüren. Es tut mir gut.

Ich glaube, ich habe heute dieses ausgeprägte Verlangen nach Freiheit und Unabhängigkeit, weil ich früher nie frei und unabhängig war. Konnte es nicht sein.
Ich habe meine Eltern nie kennen gelernt.
Meine Mum habe ich nur ein einziges Mal gesehen. Nun ja, vermutlich habe ich sie öfter gesehen. Vielleicht bei meiner Geburt. Aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern.
Und meinem Dad habe ich, soweit ich weiß, nie begegnet. Ich kenne ja nicht mal seinen Namen. Habe nicht das Bedürfnis, ihn zu kennen. Schließlich hat er mich im Stich gelassen.

-----

Ich war ein ´Foster Kid`. Bin in Pflegefamilien aufgewachsen. Fast jedes Jahr bin ich in eine andere Familie gekommen, wurde immer wieder herum geschoben.
Die meisten meiner Pflegeeltern und deren Kinder waren nett, aber es war nicht immer einfach.
Ich hatte schon immer ein Problem, Sachen von anderen Leuten zu nehmen, ohne dafür zu bezahlen. Immer, wenn meine Pflegemütter mir Klamotten oder andere Sachen gekauft haben, fühlte ich mich so unnütz und schlecht. Ich weiß, dass sie es gut meinten und ich brauchte schließlich Kleidung. Kleidung, die ich mir nie hätte selber kaufen können. Aber es passte mir nicht, dass fremde Leute für mich Geld ausgeben mussten.

Ich habe nie viel gegessen, um ihnen nicht auf der Tasche zu liegen. Vielleicht bin ich deswegen heute so dünn.
Mein Taschengeld habe ich oft unbemerkt zurück in die Brieftasche meiner Pflegeväter gesteckt. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum. Schließlich haben sie es nur gut gemeint.

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Eigentlich kann ich mich nicht mehr an viele Dinge erinnern, die ich als Foster Kid erlebt habe, wahrscheinlich will ich gar nicht daran denken. Aber da ist eine Sache, die ich nie vergessen werde. Nie.

Ich setze mich in den Sand und blicke hinaus auf das dunkle Meer. Ganz klein kann ich am Horizont ein Schiff erkennen. Das Rauschen des Wassers gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Dennoch erstarre ich, als ich an das denke, was vielen Jahren passiert ist.

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Ich war 14. In der Nachbarschaft meiner letzten Pflegefamilie gab es einen Jungen. Marcus. Eigentlich dachte ich immer, er sei nett. Er war ja auch nett. Aber er wollte mehr als nur Freundschaft. Er wollte Liebe. Liebe, die ich ihm nicht geben konnte. Ich wusste zu dieser Zeit schließlich schon, dass ich lesbisch bin.

Marcus und ich gingen eines Tages zu unserer Scheune im Hinterhof von Marcus` Haus und wir redeten. Das taten wir sonst nie. Sonst tollten wir immer herum und stellten irgendetwas an.
Aber dieses Mal redeten wir nur.

Irgendwann gestand er mir, dass er in mich verliebt war. Ich schaute ihn einfach nur an.

„Hörst du, Shane, ich liebe dich.“

Immer noch schaute ich ihn an. Dann fand ich meine Stimme wieder.
„Ma, ich … ich kann nicht, ich …“. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Jetzt war er es, der mich anstarrte und ich wollte ihn nicht verletzen.
„Ich kann nicht mit dir zusammen sein, versteh das doch.“
„Wieso denn nicht? Shane, ich liebe dich.“
„Marcus, ich bin aber nicht in dich verliebt. Ich bin lesbisch.“


Ich schließe die Augen. Jedes einzelne Wort ist mir in Erinnerung geblieben. Alles. Dieser Tag war zu schrecklich, um ihn je zu vergessen.

Ich öffnete meine Augen und blickte in seine. Ich sah nun Kälte. Hass vielmehr.
Ohne ein Wort zu sagen, schlug er mir zwei Mal ins Gesicht. Ich kam mit dem Hinterkopf auf dem harten Steinboden auf und mir war schwindlig.

„Marcus, was tust du denn da? Hör auf damit, du tust mir weh!“

Er schlug ein drittes Mal zu und öffnete meine Hose. Riss meine Bluse auf. Entblößte mich.
Ich hatte Angst. Unsägliche Angst. Ich wusste, was er vorhatte und ich konnte mich nicht dagegen wehren. Mir war kalt. Ich fing an zu weinen, zu schreien.

„Halt dein verdammtes Maul, du Hure!“
„Bitte Ma, hör auf. Bitte, hör auf.“

Nach einem weiteren Schlag auf mein Gesicht, öffnete er seine Hose. Meine Nase blutete, mein linkes Auge schwoll an. Ich weinte bitterlich, nicht nur wegen der Schmerzen.
Ich war zu schwach, um mich zu wehren. Wusste, dass mich niemand hören würde.

„Hör auf!“

Er hörte nicht auf. Er drang in mich ein. Ich schrie auf. Er stieß und stieß, immer wieder. Fügte mir unglaubliche Schmerzen zu. Schmerzen, die ich nie wieder zu spüren bekommen will. Dann wurde um mich herum alles schwarz.

-----

Immer noch blicke ich hinaus auf das unendlich weite Meer.
Tränen auf meiner Wange. Ich mache mir keine Mühe, sie abzuwischen. Es ist mir egal, schließlich sieht mich niemand.
Die Erinnerungen machen mir immer noch schwer zu schaffen. Nie werde ich diesen Tag vergessen.

-----

Als ich damals in diesem Schuppen aufwachte, nackt, vergewaltigt, stand ich auf und konnte kaum gehen.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hätte Marcus verklagen können, doch das wollte ich nicht.
Ich wusste aber eins. Ich konnte nie wieder zurück zu meinen Pflegeeltern. Ich konnte ihnen nicht sagen, was passiert war. Dazu war mein Vertrauen zu ihnen zu gering. Diese Leute waren Fremde für mich.
Und es war mir peinlich. Es war mir peinlich, dass ich vergewaltigt wurde. Es ist mir immer noch peinlich. Warum, weiß ich nicht. Ich könnte nie mit jemandem darüber reden.

In dieser Nacht packte ich meine Sachen. Viele waren es nicht. Es passte alles in meinen größten Rucksack. Das bisschen Geld, das ich mir über die Jahre mit verschiedenen illegalen kleinen Jobs verdient habe, sowie einen Teil meines Taschengeldes, nahm ich mit. Eigentlich wollte ich das Geld meiner Pflegeeltern nicht mitnehmen, aber ich wusste, ich brauchte es, um wegzukommen. Ich war 14.

An irgendeinem Bahnhof lernte ich Clive kennen. Mit ihm bin ich von dort an anschaffen gegangen. Es war eine schlimme Zeit. Alles erinnerte mich an die Nacht im Schuppen. Oft habe ich geweint, während ich Sex hatte. Innerlich.

Bis ich 19 war, ging es so weiter. Jede Nacht.

Dann wurde mir ein Job in einem Friseursalon angeboten. Das habe ich Clive zu verdanken.
Ich lernte Haare schneiden, verdiente gutes Geld, baute mir mein eigenes Leben auf. Endlich war ich frei, unabhängig.

Bis ich Cherie kennen lernte, hatte ich weiterhin fast jede Nacht Sex mit irgendwelchen Frauen. Doch es war nicht wie in den schlimmen Zeiten. Ich machte das freiwillig. Ohne Liebe.
Doch dann kam Cherie. Eine Hollywood-Hausfrau. Sie ließ sich von mir die Haare schneiden. Und sie wollte Sex. Suchte Abwechslung.
Ich habe mich in sie verliebt. Unsterblich verliebt.
Und ihre Tochter Clea hat sich unsterblich in mich verliebt. Steve, Cheries Mann, bat mich, Zeit mit Clea zu verbringen. Er vermutete, dass sie lesbisch ist. Sie tischte ihren Eltern die Lüge auf, wir wären zusammen.
Cherie glaubte mir zwar, dass es nicht die Wahrheit war, aber dann erwischte uns Clea. So erfuhr es auch Steve.
Er drohte mir, mich zu töten, käme ich noch einmal in die Nähe seiner Frau oder Tochter.
Ich war am Boden zerstört.

Einmal habe ich mich fallen gelassen, meine Gefühle zugelassen. Und ich wurde so enttäuscht.
Ich wollte nie eine Beziehung. Ein einziges Mal habe ich mich darauf eingelassen und es hätte mich fast umgebracht.

Ich fand Trost in Heroin. Schon in der Zeit mit Clive habe ich es öfter konsumiert. Es half mir zu schlafen, mir tat nichts mehr weh, ich fühlte mich frei.

-----

Lange war ich total down. Dann habe ich gestern plötzlich Anna kennen gelernt. Anna mit ihrer warmen Ausstrahlung, mit ihrer liebenswerten Art, mit ihren schönen Augen.
Vielleicht kann sie mir helfen, aus diesem Teufelskreis wieder herauszukommen. Nur dadurch, dass sie da ist.

Ich lege mich in den Sand. Spüre den kalten Wind auf meiner Haut. Höre das Rauschen des Meeres. Fühle mich frei. Mit diesem Gefühl der Freiheit schlafe ich ein.

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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 Betreff des Beitrags: Re: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:20 
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Kapitel 4


Ich wache auf. In meinem Schlafzimmer.
Seltsam. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich nachts hier her gegangen bin. Das Letzte, das ich weiß, ist, dass Shane mich nach Hause gebracht hat und ich auf der Treppe geraucht habe.

Liegt es am Alkohol, dass mein Erinnerungsvermögen schwächelt? Nein, so viel habe ich nicht getrunken.
Ich nehme an, dass ich zu intensiv über Shane nachgedacht habe und mich dabei nicht mehr darauf konzentriert habe, was ich tat.

Orange. Shanes Lieblingsfarbe ist orange. Darauf wäre ich wirklich nicht gekommen. Ich hätte auf eine dunkle Farbe getippt. Schwarz. Oder blau.

Ich steige aus dem Bett und gehe hinunter ins Wohnzimmer, zum Bücherregal. Ich nehme Lisas Farbenbuch heraus und blättere darin.
Seite 61. Lieblingsfarbe orange.

„positive Eigenschaften: Spontaneität, Geltungsstreben, Selbstherrlichkeit, Kontaktstreben; lieben Geselligkeit; Feinschmecker; redegewandte Bonvivants, Charmeure, Stimmungsmacher, Antreiber, risikofreudig, aber ohne feste Bindung

negative Eigenschaften: Herrisch, destruktiv; ungeduldig, unüberlegt; übereiltes Handeln; zu gefühlsbetontes Durchsetzten; genusssüchtig, zu geringes Anpassungsvermögen; Single aus Liebe zu sich selbst; Interesselosigkeit; schwächliches, schüchternes Verhalten; gesundheitlich: Appetitmangel (daraus resultierend Schwäche und Vitalitätsverlust)

Orange-liebende Menschen folgen ihren eigenen Empfindungen, sind kreativ, kommunikativ und haben künstlerisches Interesse.
Als geborene Genießer und schätzen sie die schönen Seiten des Lebens. Durch ihren offensichtlichen Optimismus werden sie von anderen positiv wahrgenommen Ihre Lebensenergie und ihren Sinn für Lebensqualität schöpfen sie aus einer erfolgreichen Sinnfindung.

Orange-Liebhaber leben sozusagen aus dem Bauch, und in der echten Überzeugung, dass sie sich alles erlauben können. Sie leben aus der Macht des Möglichen.“

Ich lese über die Zeilen. Ich klappe das Buch wieder zu und seufze. Hatte ich wirklich gedacht, dass das, was in dem Buch steht, auf Shane zutrifft? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich stelle das Buch zurück ins Regal und mache Frühstück.

~*~

Hinter mir fällt die Tür ins Schloss.
Die ganze Nacht war ich am Strand. Doch bevor es richtig hell wurde und bevor die ersten Leute auftauchten, bin ich von dort verschwunden.

Ich lehne mich gegen meine Wohnungstür und schließe die Augen. Die Erinnerungen von letzter Nacht bereiten mir Kopfschmerzen. Noch immer brennen die Tränen in meinen Augen.

Ich gehe in die Küche und setze mich an den Tisch. Dann öffne ich eine Flasche Wasser und trinke. Die Flüssigkeit tut mir gut. Ich lehne mich nach vorne und stütze den Kopf in meine Handflächen.

Ich fühle mich schrecklich. Mir ist schwindelig. Ich habe Kopfschmerzen.
Ich kenne dieses Gefühl. Es ist wie damals. Es ist, als wäre es gestern gewesen. Als wäre ich noch einmal 14, noch einmal in dieser Scheune.
Denk nicht mehr daran, ermahne ich mich selbst.

„Was ist denn mit dir los?“
Erschrocken blicke ich auf. Kim, meine Mitbewohnerin.
„Ich bin nur müde.“
Kim lacht. „Ja, das kann ich mir vorstellen. Bist du erst jetzt nach Hause gekommen?“
„Ja.“
„Meine Güte, hast du die ganze Nacht durchgefickt?“
„Ähm … ja!“ Ich sehe ihr dabei nicht in die Augen.

Ich lüge, da ich keine Lust habe, mit ihr darüber zu diskutieren, wo ich war oder was ich gemacht habe. Schließlich geht sie das auch überhaupt nichts an. Normalerweise ist es nicht meine Art zu lügen. Normalerweise laufe ich eher davon als zu lügen.

„Na, du bist ja heute sehr gesprächig.“ Sie hält inne und nimmt die Wasserflasche vom Tisch. Meine Wasserflasche, um genau zu sein. „Ich leg mich noch mal aufs Ohr. Das täte dir im Übrigen auch gut, du siehst schrecklich aus, Shane.“
Ich antworte nicht. Sie geht.

~*~

Satt und frisch geduscht, gehe ich hinaus und setze mich auf die Treppe.
Es ist schön warm. Ein Grund, warum ich in die USA gezogen bin, ist sicherlich das Wetter. Ich habe den Winter, die Kälte in Deutschland immer gehasst. Morgens war es da nie so warm wie hier. Ich schließe die Augen und bade mich in den Sonnenstrahlen.

Ich greife nach meiner Zigarettenschachtel und dem Aschenbecher und rauche. Ich mag nicht im Haus rauchen. Eigentlich mag ich gar nicht rauchen. Aber gleichzeitig schaffe ich es nicht, aufzuhören. Ich versuche, mich zu erinnern, warum ich angefangen habe, scheitere aber.

Ich beobachte die Kinder in der Nachbarschaft beim Spielen. Ich muss lächeln. Sie rennen herum, verstecken sich, spielen mit dem Ball. So unbeschwert, so niedlich.
Ich will später auch Kinder. Unbedingt.

~*~

Immer noch sitze ich am Küchentisch. Schlafen kann ich jetzt nicht.

Ich sehe auf die Uhr. Halb 10. In zwei Stunden werde ich Anna abholen. Vielleicht kann ich sie überreden, mit mir im Planet noch etwas zu essen.

Ich rufe im Salon an und melde mich für heute krank. Ich hätte heute ohnehin nur nachmittags arbeiten müssen. Außerdem stehen keine wichtigen Termine an.
Mein Chef hat nichts dagegen, dass ich einen Tag aussetze. Schließlich fühle ich mich wirklich nicht so gut.

Ich beschließe, zu duschen. Den Sand in meinem Haar wegzuspülen. Vielleicht kann ich die Kopfschmerzen auch einfach so wegspülen.

Ich blicke mich im Spiegel an. Kim hatte Recht, ich sehe wirklich schlimm aus. Die Augen immer noch rot vom vielen Weinen.
Ich ziehe mich aus und steige in die Dusche.

~*~

Gleich halb 12. Lange kann es nicht mehr dauern, bis Shane kommt.
Wieso habe ich nur eingewilligt, dass sie mich abholt? Ich konnte nicht widerstehen. Freue mich sogar auf sie.

Ich muss wieder an die Sätze dieser Mary denken.

„Shane spielt mit den Frauen, sie fickt sie und lässt sie dann fallen.“

Es ist seltsam, aber eigentlich macht es mir nichts aus. Gestern war ich vielleicht etwas geschockt, aber heute sieht alles schon ganz anders aus.

Vielleicht ist Shane so. Vielleicht schläft sie mit den Frauen und verlässt sie dann.
Aber vielleicht gibt es Gründe dafür. Vielleicht wäre es bei mir anders. Vielleicht ist es Schicksal, dass wir uns trafen. Vielleicht gehören wir zusammen.
Vielleicht.

Ich sitze wieder auf der Treppe und rauche. Ich bin so in Gedanken vertieft, dass ich nicht merke, wie Shane vorfährt. Als sie hupt, schrecke ich auf. Ich lächle ihr zu, drücke meine Zigarette in den Aschenbecher und gehe zu ihren Jeep.

Ich steige ein und sehe sie an. Bei ihrem Anblick zucke ich kaum merklich zusammen. Sie sieht schrecklich aus.
„Hi Ann.“ Sie klingt irgendwie schwach.
„Hallo Shane. Danke, dass du mich abholst.“
„Ist doch kein Problem.“ Sie lächelt jetzt, aber das macht fast keinen Unterschied.
„Wie geht`s dir? Du siehst … müde aus.“
Verdammt. Vielleicht hatte Mary Recht. Vielleicht hat sich Shane tatsächlich heute Nacht durch sämtliche Betten der Stadt gefickt.

~*~

Fuck. Das Duschen hat wohl nichts gebracht. Sie hat doch etwas mitbekommen.
Was mach ich jetzt? Ich bin nicht im Stande, zu lügen.
„Ja … ich war am Strand.“
„Nachts?“
Die Situation ist seltsam. Ann sieht besorgt aus. Unwillkürlich schmunzle ich. Sie ist besorgt um mich.
„Ich musste nachdenken. Das kann ich am besten am Strand.“

Sie stellt keine weiteren Fragen und das ist vermutlich gut so. Ich will nicht weiter darüber reden.

Themawechsel.

„Sag mal, hast du vielleicht Lust, im Planet etwas zu essen? Es ist gleich Mittag.“
Ich hoffe inständig, sie sagt ja. Wieso, weiß ich nicht. Ich möchte Zeit mit ihr verbringen.
„Ja, warum nicht. Gute Idee.“
„Cool.“

~*~

Ich habe wirklich Hunger. Da kommt mir Shanes Idee gerade recht.
Sie parkt vor dem Planet und wir steigen aus. Mein Auto steht noch da. Hatte ich etwas anderes erwartet?

Wir betreten das Café und Shane sieht sich um. Von Alice und den anderen keine Spur. Shane steuert auf ihren Stammplatz zu. Ich gehe hinterher.
Wir setzen uns. Ich werfe einen Blick auf die Karte und entscheide mich schließlich für ein Sandwich.
Marina kommt an den Tisch. Sie begrüßt uns herzlich und nimmt unsere Bestellung auf.

„Wo arbeitest du eigentlich?“
„Die Straße runter in einer Eventagentur. Ich bin Eventmanagerin.“
„Cool. Du planst also Partys?“
„Sozusagen, ja. Ich liebe meinen Job.“ Das tue ich tatsächlich.
„Warum arbeitest du heute nicht?“ Ich schmunzle. Dieselbe Frage könnte ich ihr stellen.
„Meine Arbeitszeiten sind sehr flexibel. Da ich viel am Wochenende arbeite, habe ich am montags vormittags frei. Und Mittwoch ist mein freier Tag.“
„Hm.“

Anscheinend interessiert sie mein Berufsleben nicht sonderlich. Jedenfalls sieht es jetzt so aus, als würde sie angestrengt nachdenken.
„Montag ist also dein freier Vormittag?“
„Ähm, ja.“
Ich frage mich, worauf sie hinaus will und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Verdammt.
„Erinnerst du dich an vorgestern, als wir uns hier kennen gelernt haben?“
Sie wartet meine Antwort nicht ab.
„Du sagtest, deine Mittagspause ist gleich zu Ende.“

Shit shit shit. Jetzt denkt sie bestimmt, ich bin wegen ihr gegangen. Und das Schlimme dabei ist, dass sie auch noch Recht hat.
Ich bin am Montag zwar vormittags kurz im Büro gewesen, um meine Sachen abzustellen, habe vormittags aber nicht gearbeitet.
Habe ich das etwa gesagt?
Jedenfalls bin ich wieder gegangen, um mir noch einen Kaffee zu genehmigen. Dann habe ich Shane getroffen.

„Ja … ich war am Montag früh eine Stunde im Büro, um etwas zu klären. Wegen einer … Kollegin, die mit mir den Ablauf einer Fete am Abend abklären wollte.“
Fuck. Wieso habe ich gelogen?

~*~

„Ach so.“
Ich dachte wirklich, sie ist wegen mir gegangen. Vielleicht bin ich etwas zu voreilig mit meinen Gedanken.

Marina kommt mit unserem Essen und wünscht uns guten Appetit.

Ich wende mich wieder Shane zu.
„Du bist Hairstylistin, richtig?“
Ich blicke auf. „Woher weißt du das?“
„Alice hat es mir gestern Abend erzählt.“
„Al. Das hätte ich mir auch denken können. Pass gut auf. Al ist die neugierigste Person der Welt und sie weiß mehr als wir alle zusammen. Manchmal scheint es mir so, als ob sie Spione in ganz L. A. hätte, die ihr jeden Tag Bericht erstatten.“
Anna lacht. Doch plötzlich hält sie inne und sieht mich an.

„Shane, deine Nase.“
Ich fasse mir ins Gesicht und spüre die warme Flüssigkeit an meiner Hand herunter laufen. Ich blicke meine Hand an. Blut.
„Fuck.“

Ich stehe auf und laufe zur Toilette. Beide Hände vor dem Gesicht. Anna folgt mir.
Ich stehe vor dem Waschbecken und greife nach Tüchern, um das Blut abzuwischen.
„Nein, nicht so.“ Ann scheint sich damit auszukennen.
Sie zieht mich in eine Toilettenkabine, schließt den Deckel und bedeutet mir, mich zu setzen. Sie nimmt meinen Kopf in beide Hände und legt ihn behutsam hinter mir aufs Fensterbrett.
„Bleib so“, sagt sie und geht weg.
Kurz darauf kommt sie wieder. Sie legt mir ein nasses Handtuch in den Nacken und gibt mir ein weiteres für das Blut. Eine Weile sitze ich so da und warte darauf, dass es aufhört.
„Woher kommt das?“
„Ich weiß nicht, es passiert öfter.“
„Du solltest mal zum Arzt gehen.“
Wieder rührt mich ihre Besorgnis. Ich hasse Ärzte. Ich antworte nicht.

~*~

Shanes Nasenbluten hört nach 10 Minuten auf. Sie steht auf und schließt die Augen, hält sich an der Wand fest.
„Ist dir schwindelig?“
„Ja, ein wenig. Aber das gibt sich.“
Ich helfe ihr zurück zu unserem Tisch. Sie sieht noch blasser aus als zuvor. Ihre beige Bluse blutbefleckt.

„Was hältst du davon, wenn wir in dem Park am Straßenende etwas spazieren gehen, uns auf eine Bank setzen oder so?“
„Ja, gerne.“ Shane lächelt, ihr scheint es sehr recht zu sein.
Wir bezahlen. Das heißt, ich bezahle. Nach einer kurzen Diskussion war Shane damit einverstanden, dass ich sie einlade. Dafür, dass sie mich abgeholt und hierher gebracht hat.
Marina wünscht uns einen guten Tag und wir gehen hinaus.

Shane atmet tief ein. Es scheint ihr gut zu tun. Wir überqueren die Straße, laufen etwas bergauf und betreten den Park.

Nach einem kurzen Spaziergang setzen wir uns auf eine Bank unter einem großen Baum.
Es ist wundervoll hier. Saftig grüne Wiesen. Blumen. Sträucher. Große Bäume. Dazu der blaue Himmel und der Sonnenschein.
Schon immer bin ich gern in der Natur gewesen.
Manchmal gehe ich in meiner Mittagspause hierher und lese, beobachte die Leute oder sitze einfach nur so da und genieße die Natur.
Mit Shane ist es tausendmal schöner.

Wir sitzen nahe beieinander. Diese Nähe macht mich verrückt und trotzdem gefällt sie mir.
„Geht es dir besser?“
„Ja.“
„Shane, du bist eine verdammte Lügnerin.“ Ich lache und auch sie bringt ein kleines Lächeln zu Stande. Ich sehe ihr an, dass es ihr nicht gut geht.
Ich lege meinen Arm um sie und ziehe sie noch näher an mich heran.
Warum tue ich das? Ich kann es mir nicht erklären.
Sie stützt ihren Kopf an meinen und so verweilen wir ein paar Minuten.

Dann, ganz plötzlich, dreht sie sich zu mir und sieht mir tief in die Augen. Ich weiß längst, was kommt, und ich will es.
Unsere Lippen berühren sich und verschmelzen zu einem leidenschaftlichen Kuss.


Kapitel 5


Ich sitze auf dieser Bank. In diesem Park. An diesem warmen Sommertag. Mit dieser wunderschönen Frau, die mir den Atem raubt.
Noch immer küssen wir uns. Leidenschaftlich. Eng umschlungen.
Wie lange ist es her, dass mich eine Frau so geküsst hat? Dass ich eine Frau so geküsst habe?

Es ist, als ob wir uns schon eine Ewigkeit kennen. So vertraut. So schön. Ich fühle mich so sicher. Geborgen.
Und doch ist mir Shane fremd. Immer wieder stelle ich mir die Frage: Bin ich nur eine von vielen? Selbst jetzt, als sie mich so leidenschaftlich küsst, kann ich diesen Gedanken nicht aus meinem Kopf verbannen.
Bin ich nur eine von vielen?

Shane nimmt meinen Kopf in beide Hände und löst ihre Lippen von meinen. Sie sieht mich an.

Verflucht. Sie hat so viel Ähnlichkeit mit Laura. Nicht äußerlich, sondern von der Art her. Wie sie meinen Kopf in ihre Hände nimmt. Wie sie mich küsst. Wie sie mich ansieht. Ihre smaragdgrünen Augen.
Ich denke an Laura. Wieder dieses Gefühl. Dieses Gefühl, sie zu verraten, wenn ich mich mit Shane einlasse. Und gleichzeitig weiß ich, dass es Schwachsinn ist. Ich versuche mir Lauras Stimme vorzustellen.
Ich will, dass du glücklich bist.
Dies hat sie nie wörtlich gesagt. Aber ich weiß, sie würde. Ich weiß, dass sie mich glücklich sehen wollte. Mit einer Frau, die ich liebe.
Doch kann ich je wieder eine Frau so lieben wie Laura?

~*~

„Ann, was ist los?“ Mir scheint, ich reiße sie aus ihren Gedanken. Ich frage mich, an was sie gerade gedacht hat.
„Nichts.“

Fuck. Habe ich ihr wehgetan? Habe ich etwas falsch gemacht?
„Shane, ich … es tut mir leid, ich … ich muss gehen.“
Ihre Worte brennen. Auf meiner Seele. Das Feuer breitet sich in meinem Körper aus.
„Was ist los?“, frage ich noch einmal.
„Es hat nichts mit dir zu tun, wirklich. Ich … ich muss nach Hause … arbeiten.“
„Ann …“.
„Ich rufe dich an, okay?“

Ich antworte nicht. Kann nicht.
Sie nimmt ihre Handtasche, die während dem Kuss zu Boden gefallen ist und geht weg. Sie dreht sich nicht um.
Sie läuft davon. Flieht. Vor mir.

Ich sehe ihr nach. Fühle mich allein.
Das erste, an das ich denke, ist Alexia. Nun weiß ich, wie sie sich gefühlt haben muss, als ich gestern einfach so davon gerannt bin. Ich werde mich später bei ihr entschuldigen.

~*~

Was habe ich nur getan? Ich bin davongelaufen. Geflohen. Habe mich aus der Verantwortung gezogen.

Ich steige in mein Auto. Den Kopf aufs Lenkrad gestützt, spüre ich die Tränen, die entrinnen wollen. Ich blicke auf, sehe mich im Rückspiegel an. Verbiete mir, zu weinen. Ich habe nie geweint. Und ich werde auch jetzt nicht weinen. Ich betrachte mein Spiegelbild und halte die Tränen zurück.
Ich werde nicht mit dieser Heulerei anfangen. Nicht jetzt. Nicht nach so vielen Jahren.

Nicht einmal um Laura habe ich geweint. Ich konnte nicht. Es hätte mich verraten. Hätte meine Beziehung zu ihr verraten.
Ich konnte nicht um Laura weinen. Und wenn ich nicht um sie weinen konnte, dann um niemanden.

Shane. Was habe ich ihr nur angetan? Ihr ging es ohnehin nicht gut und ich habe alles noch viel schlimmer gemacht. Ich schäme mich dafür.

Ich seufze leise und lasse den Motor an.

-----

Zu Hause angekommen, setze ich mich auf das Sofa und lege den Kopf zurück. Starre an die Decke. Leide mit Shane.
Ich hoffe, es geht ihr gut.

Mein Blick schweift hinüber zum Kamin. Auf dem Sims steht das Foto. Das Foto von Laura und mir. Das einzige, das ich besitze.
Alle anderen habe ich verbrannt. Es war eine Kurzschlussreaktion. Ich war so verzweifelt, wollte in diesem Moment alle Gedanken an Laura aus meinem Kopf verbannen. Verbrennen.
Das Foto, das auf dem Kamin steht, habe ich erst später gefunden. Ich konnte es nicht verbrennen. Selbst dann nicht, wenn ich gewollt hätte. Es ist die einzige materielle Erinnerung, die ich an Laura habe. Alles andere existiert nur in meinen Gedanken.
Vielleicht ist es gut so.

Ich stehe auf und gehe hinüber zum Kamin. Ich nehme den Bilderrahmen in die Hand und sehe mir das Foto an. Sehe mir Laura an. Sie lacht mir zu. Ich streichle über das Glas des Rahmens. Über ihr Gesicht. Versuche mich zu erinnern, wie glücklich wir beide damals waren.
Ich verbiete mir zu weinen. Wie so oft.

~*~

Ich saß noch lange auf der Bank im Park.
Wieso hat sie das getan? Ich finde keine Antwort. Ich habe gespürt, dass es ihr gefallen hat.
Warum ist sie davongelaufen?

Nun stehe ich vor dem Planet. Ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll, was ich sonst tun soll.
Ich sehe sie an unserem Stammtisch sitzen. Alice und Dana.
Verdammt. Ich habe keine Lust auf die beiden. Weiß bereits jetzt, dass sie mich mit Fragen löchern werden. Insbesondere Al.
Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sie haben mich schon gesehen. Alice winkt und ich gehe auf den Tisch zu.

„Hey, ihr zwei.“ Ich versuche, so lässig wie möglich zu klingen.
„Shane, du siehst scheiße aus.“ Fuck. Das mit der Lässigkeit hat wohl nicht geklappt. Wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn mich Al einfach mal in Ruhe gelassen hätte.
„Danke.“
„Shane, ich meine es ernst. Bist du krank?“ Al sieht irgendwie besorgt aus. So schlimm kann es nicht sein. Oder doch?
„Nein, nur müde.“ Ich nehme mir einen Stuhl und setze mich.

„Hey Shane. Geht`s dir wieder besser?“ Marina. Na toll, das hat mir noch gefehlt.
Im Augenwinkel sehe ich, wie Al und Dane besorgte Blicke austauschen.
„Ja, ja. Geht schon. Alles klar“, entgegne ich. Etwas genervt, denke ich.
Marina geht zurück zum Tresen. Ich weiß, was gleich kommt.

„Shane, was war denn los?“ Dana sieht sehr erschrocken aus.
„Es war nichts weiter. Ich hatte nur Nasenbluten.“ Wie um es ihnen zu beweisen, knöpfe ich meine Jeansjacke auf und zeige ihnen die roten Flecken auf meinem Shirt.
„Schon wieder?“
„Shane, du solltest deswegen wirklich mal zum Arzt gehen.“
Ich hasse es, wenn mir jeder sagt, was ich zu tun oder zu lassen habe. Ich weiß selbst, was gut für mich ist und was nicht.
„Ich lebe noch, okay? Und jetzt entschuldigt mich, ich hab noch was zu tun.“

Ich stehe auf und gehe hinaus. Wieder einmal tut mir leid, was ich gerade getan habe. Schließlich waren sie tatsächlich nur besorgt. Selbst Al sah ziemlich beunruhigt aus.
Ich steige in mein Auto und schlage die Richtung zu Alexias Wohnung ein.

~*~

Ich liege auf dem Sofa. Habe ich geschlafen?
Ich sehe auf die Uhr. Viertel vor 6. Shit. Mein freier Tag und ich verschlafe die Hälfte davon. Gut, ich habe ohnehin keine große Lust, etwas zu unternehmen.
Ich denke an Shane und schäme mich. Verfluche mich selbst.

Meine Augen schmerzen. Ich gehe ins Bad und nehme die Kontaktlinsen heraus. Greife nach meiner Brille.

~*~

Ich parke meinen Wagen vor ihrem Haus. Steige aus.

Ich bin sehr froh, dass mir Alex nicht böse ist. Sie hat natürlich sofort gerafft, dass es um eine andere Frau geht.
Noch immer höre ich ihre Stimme in meinem Kopf.
„Shane, Shane, Shane. Du hast dich verliebt? Es geschehen noch Zeichen und Wunder.“
Bin ich tatsächlich in Anna verliebt?

Ich gehe die Stufen zur Tür hinauf.
Ann sollte ihren Aschenbecher wieder einmal ausleeren.
Ich zögere kurz und betätige dann die Klingel.
Ich bin nervös.

~*~

Es hat geklingelt. Wer kann das sein?
Ich höre auf, meine Haare zu kämmen, werfe einen Blick in den Spiegel und gehe hinunter.

Ich öffne die Tür. Shane. Fuck.
Ich spüre die Scham in mir hochsteigen.
„Ann, bevor du irgendetwas sagst: Egal, was ich falsch gemacht habe, es tut mir leid. Es tut mir unendlich leid.“

Ein paar Sekunden stehe ich nur so da und sehe sie an.
„Shane, du … du hast überhaupt nichts falsch gemacht. Es … ich, ich war nur überrumpelt. Es ist schon so lange her, dass ich eine Frau geküsst habe.“
Ich halte inne und wundere mich über meine Ehrlichkeit.
„Trotzdem, ich …“
„Shane, du musst dich nicht entschuldigen.“

Wieder ein paar Sekunden Stille.
„Willst du vielleicht reinkommen?“
Ich kann die Erleichterung auf ihrem Gesicht sehen. Sie lächelt.
„Gerne.“
Sie steigt über die Schwelle und ich schließe die Tür hinter ihr.
Ich bitte sie, sich zu setzen und biete ihr etwas zu trinken an.
„Cola wäre super.“
Ich laufe hinüber in die Küche und nehme ein Glas aus dem Schrank.

„Wer ist das?“
Erschrocken drehe ich mich zu ihr um.
„Da auf dem Foto. Wer ist das?“ Sie ist von der Couch aufgestanden und hat nun das Bild von mir und Laura in der Hand. Fuck.
Was soll ich nun sagen?
„Ann?“
„Ja?“
„Alles in Ordnung?“
„Ja.“
„Also, wer ist das?“
Fuck fuck fuck. Irgendetwas muss ich sagen.

„Das … das ist meine erste Freundin.“ Verflucht, warum bin ich nicht in der Lage zu lügen?
„Oh. Wie lange ist das her?“
„12 Jahre.“
„Du liebst sie immer noch?“
Verdammt, Shane, hör auf mit der Fragerei. Ich halte das nicht aus.
„Nein.“
„Nein? Warum steht dann das Foto in deinem Wohnzimmer?“
Ich merke, wie die Wut in mir hochsteigt. Kann sie nicht mehr kontrollieren.
„Das geht dich nichts an, okay?“
„Okay, sorry.“
„Schon gut.“ Ich glaube, ich klinge immer noch ziemlich verärgert.

Ich gehe hinüber zum Kamin und nehme ihr den Rahmen aus der Hand. Stelle ihn zurück auf den Sims.

Mein Blick wandert zu Shane. Diese Augen machen mich wahnsinnig. Ich versinke in ihnen. Sie ziehen mich in ihren Bann. Lassen mich nicht mehr los.
Ich beuge mich vor und ehe ich mich versehe, berühren sich unsere Lippen erneut.

~*~

Wir küssen uns heftig. Ich mag die Art und Weise wie sie mich küsst.
Ich spüre, dass sie es auch will.
Anna nimmt mich an beiden Händen und führt mich hinter ihr her. Die Treppe hoch. Ins Schlafzimmer.
Ich habe keine Zeit, mich umzusehen, denn sofort zieht sie mich wieder in einen leidenschaftlichen Kuss.
Ich frage mich, was ihre Meinung so plötzlich geändert hat.

Wir lassen uns aufs Bett fallen. Sie knöpft meine Bluse auf und streift sie von meinen Armen. Ich trage keinen BH.
Ich ziehe ihr Shirt aus. Sie legt die Arme um mich, so dass ich ihren BH öffnen kann.
Sie hat wunderschöne Brüste.

Sie legt sich auf mich und wir küssen uns weiter. Währenddessen öffnet sie die Schnalle meines Gürtels und meine Hose. Ich helfe mit, sie auszuziehen. Wir tun das gleiche mit ihrer eigenen Hose und küssen uns, beide nur mit einem Höschen bekleidet.

Anna küsst nun meinen Hals und streicht mit zwei Fingern an meinem Wangenknochen entlang. Ihre Hände gleiten an meinem Hals entlang, umrunden meine Brüste, die erhärteten Nippel, bis hinunter zu meinem Bauchnabel.
Sie saugt an meinen Nippeln wie ein Baby und streicht mit ihrer Hand oberhalb des Bundes meiner Unterhose entlang. Sie fährt hinein und ihre Finger bahnen sich den Weg weiter hinunter zu meinem Venushügel.
Ich stöhne kurz auf, während ich mit meinen Händen ihr Haar durchwühle und sie weiter küsse.
Die Hitze zwischen uns steigt ins Unerträgliche. Ich atme schwer.

Ann setzt sich auf. Blickt mir tief in die Augen. Zieht ihr Höschen aus. Ich tue es ihr nach.
Wir sitzen uns nackt gegenüber. Sie nimmt ihren rechten Zeigefinger in den Mund und leckt ihn ab. Legt ihn zwischen meine Brüste und gleitet hinunter, während sie mich zurück in die Kissen drückt.

~*~

Ich liege auf ihr. Presse meine Hand zwischen ihre Oberschenkel.

Ich stürze in einen Gefühlsrausch. Und zur gleichen Zeit weiß ich, dass das, was ich tue, falsch ist.

Unser Stöhnen häuft sich und wird lauter. Shane nimmt nun ihre Hände und führt sie zwischen meine Oberschenkel.
Ich spüre, dass meine Grenze fast erreicht ist und stöhne laut.

Ich finde mit meinen Fingern ihren G-Punkt und damit kommt Shane zu ihrem Höhepunkt. Allein durch ihr Stöhnen erreiche auch ich meinen Orgasmus.
Wir atmen beide schwer. Ich liege immer noch auf ihr. Erschöpft rolle ich mich zur Seite und lege mich neben sie. In ihre Arme.
So schlafen wir ein.

~*~

Ich wache auf und sehe auf die Uhr neben mir auf dem Nachttisch. Kurz nach halb 9. Schon so spät?

Anna liegt in meinen Armen. Ich lächle. Kann nicht glauben, dass es tatsächlich passiert ist. Wir haben tatsächlich miteinander geschlafen.
Und es war so gut. Lange habe ich mich beim Sex nicht mehr so wohl gefühlt. Ann war so sanft. Ich habe alles zugelassen. Habe mich nicht gewehrt. Es war wunderschön.

Sie bewegt sich leicht neben mir und öffnet langsam die Augen. Sieht mich an. Ich sehe Wärme in ihrem Blick, doch gleichzeitig Erschrockenheit.
Ich erkenne, dass es Zeit für mich ist, zu gehen. Spüre, dass sie vielleicht nicht damit umgehen kann. Will ihr Zeit geben.

Ich will aufstehen. Doch sie greift nach meinem Arm. Hält mich fest.
„Shane … bitte bleib.“

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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 Betreff des Beitrags: Re: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:21 
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Kapitel 6


Ich werde von den warmen Sonnenstrahlen geweckt, die auf mein Gesicht fallen. Ich liege noch immer neben Anna im Bett.

Ich sehe sie an, während sie schläft.
Wer bist du? Was hast du erlebt, was ist deine Geschichte?
Sie ist ein Mensch mit sieben Siegeln. Vielleicht noch mehr.

Sie sieht so süß aus, wenn sie schläft, so friedlich. Ich streiche ihr durch die Haare. So weich.

Ich drehe mich um und blicke auf die Uhr, die auf dem Nachttisch steht. Halb 7. In 2 Stunden muss ich im Salon sein.

Anna bewegt sich neben mir. Sie gähnt und streckt sich, die Augen noch geschlossen.
Ich beuge mich über sie und küsse sie auf die Schulter. Ich merke, wie sie kurz zusammenzuckt, es letztendlich aber doch zulässt.
„Guten Morgen“, murmle ich zwischen Dutzenden von Küsschen.
„Morgen.“ Ann gähnt erneut und küsst mich nun ebenfalls.

Ich lasse mich zurück in die Kissen fallen und sehe sie an. Sie lächelt.

~*~

Wir lächeln uns an.
„Kann ich deine Dusche benutzen?“
Wow. Ich liebe Shanes Stimme. So tief und rau.
„Klar. Wann musst du zur Arbeit?“
„So um halb 9.“
„Gut, dann geh ich erst duschen. Ich muss um 8 im Büro sein. Und während du duschst, mach ich uns ein leckeres Frühstück.“
„Einverstanden.“ Shane beugt sich zu mir und küsst mich zärtlich auf den Mund.

Ich lache. „Schluss jetzt!“ Und damit stehe ich auf und gehe ins Badezimmer.

~*~

Ich bin total verwirrt. Was macht diese Frau nur mit mir?
Die Nacht war einfach so wunderschön. Es war nicht einfach nur Sex. Nein. Es war Leidenschaft. Das Feuer zwischen uns war deutlich zu spüren. War es vielleicht Liebe?

Meine Verwirrung wandelt sich zu Angst. Was, wenn sie wieder einen Rückzieher macht?
Ich muss an Cherie denken. Ich habe sie geliebt. Das glaube ich zumindest. Und was tat sie? Sie hat mich benutzt, um ihrem kargen Alltag zu entfliehen.
Was, wenn Ann das Gleiche macht?

~*~

Fuck. Was habe ich nur getan? Ich verfluche mich selbst dafür.
Ich muss zugeben, dass diese Nacht wunderbar war. Shane war so einfühlsam und zärtlich. Ich habe mich ehrlich wohl gefühlt.
Und doch war es nicht richtig.

Ich steige unter die Dusche und fühle, wie das Wasser meinen Körper bedeckt. Es tut mir gut.
Ich denke an Laura. Und ich fühle mich, als hätte ich sie verraten. Ich habe mir einst geschworen, nur Laura zu lieben. Aber ich weiß, dass letzte Nacht Gefühle im Spiel waren. Ich kann es nicht verleugnen.

Vielleicht sollte ich es versuchen. Mit Shane. Vielleicht sollte ich versuchen, endlich über Laura hinweg zu kommen und mit Shane ein neues Leben aufzubauen.
Nicht, dass ich Laura vergessen möchte. Nein, das könnte ich niemals. Es wäre nicht möglich. Aber ich muss aufhören, jede Frau mit Laura zu vergleichen. Ich muss aufhören, mir die Schuld an ihrem Tod zu geben. Und ich muss aufhören, mir einzureden, ich könnte nie wieder eine Frau lieben.
Doch kann ich das?

-----

Ich komme zurück ins Schlafzimmer. Eingewickelt in ein Handtuch. Die Haare nach oben gesteckt.
Es scheint, als ob Shane wieder eingeschlafen ist. Ich sehe sie an. So süß. So wunderschön.

Ich schleiche mich ans Bett. Beuge mich über sie. Küsse sie auf ihre Schulter.
„Aufwachen, du Schlafmütze. Die Dusche ist frei.“
Verschlafen öffnet sie die Augen und lächelt.

~*~

Meine Ängste sind wie verflogen. Wie konnte ich nur denken, sie würde mich nach dieser Nacht wieder verlassen?

Ich gähne und strecke mich. Rolle mich schläfrig aus dem Bett.
Anna sammelt ihre Klamotten zusammen, die verstreut auf dem Boden liegen. Ich hebe meine ebenfalls auf, gebe ihr noch einen Kuss auf die Stirn und gehe ins Badezimmer.

-----

Frisch geduscht mache ich mich auf den Weg in die Küche. Es duftet köstlich.
Anna steht am Herd und bereitet Eier zu. Ich blicke zum Tisch. Wahnsinn. Wie hat sie das so schnell hinbekommen? Ich war kaum 20 Minuten weg. Bagels, Kaffee, Brötchen, Croissants. Eben alles, was das Herz zum Frühstück begehrt.
„Oh, hi. Ich habe dich gar nicht kommen hören.“
Ich starre immer noch zum Tisch. „Wie hast du das in so kurzer Zeit gemacht?“
Sie lacht. „In der Straße ist gleich um die Ecke eine Bäckerei. Dort hab ich die ganzen Sachen geholt. Na gut, Kaffee und Eier hab ich selbst gemacht.“
„Wow.“
„Komm schon, setz dich.“
Ich setze mich an den Tisch. Sie küsst mich leidenschaftlich und schaufelt lecker aussehende Eier auf meinen Teller.
„Stopp! So viel kann ich gar nicht essen.“
„Solltest du aber. Du musst mal richtig durchgefüttert werden.“
Nein, bitte nicht. Jetzt fängt sie auch schon damit an. Wie Alice.
„Shane, du musst was essen. Du bist so dünn, so kann das nicht weitergehen…“
Als wäre ich ein kleines Kind. Als könnte ich nicht selbst auf mich aufpassen.
Ich antworte ihr nicht und fange an zu essen. Es schmeckt wirklich gut.

~*~

„Hast du noch Hunger oder bist du fertig?“
„Danke, ich bin satt. Das war lecker.“
Ich nehme ihren Teller und stelle ihn auf die Arbeitsplatte. Es freut mich wirklich, dass es ihr geschmeckt hat. Ich hoffe, dass ich noch oft für sie kochen kann. Scheinbar hat sich der Kochkurs, den ich in der 6. und 7. Klasse mitgemacht habe, tatsächlich gelohnt.

„Ich muss gleich los.“ Es war kurz nach halb 8 und bis ins Büro brauche ich mit dem Auto mindestens 15 Minuten. 20, wenn der Verkehr zähfließend ist.
Ich gehe zu Shane und setze mich auf ihren Schoß.
„Musst du heute wirklich arbeiten?“ Sie streicht mir die Haare aus dem Gesicht und sieht mich mit ihrem Dackelblick an.
Ich lache. „Ja, leider. Ich habe am Wochenende zwei Hochzeiten, denen ich noch den letzten Schliff verpassen muss.“
„Hm.“
„Du musst doch auch arbeiten.“
„Ja, aber ich würde den Tag lieber mit dir verbringen.“
„Geht mir genauso.“ Ich beuge mich zu ihr hinunter und küsse sie.

Dann sieht sie mich an und lächelt.
„Wir gehen heute Abend ins Milk. Möchtest du nicht mitkommen?“
Ich überlege kurz. Eigentlich müsste ich arbeiten.
Ich schmunzle. „Also, wenn du mich jetzt gehen und arbeiten lässt, dann werde ich vielleicht bis dahin fertig.“
„Okay, ich freue mich.“

Wir räumen den Tisch zusammen ab und gehen aus dem Haus, zu den Autos.
„Ach, Shane? Ich habe da noch eine Bitte.“
Sie sieht mich erwartungsvoll an.
„Ähm … könntest du vielleicht deinen Freundinnen noch nichts verraten, von uns?“
„Klar. Hätte ich ohnehin nicht getan. Also, bis später.“
Nach einem Abschiedskuss steigen wir ein und fahren los.

~*~

Mittagspause. Eine Stunde.
Ich bin in meine Wohnung gefahren. Sie liegt nicht weit vom Salon entfernt. Meine Mitbewohnerinnen sind nicht da, und ehrlich gesagt, will ich gar nicht wissen, wo sie sind.

Meine Nase blutet wieder. Gut, dass ich allein bin. Alice oder die anderen würden durchdrehen und mir zum tausendsten Mal raten, zum Arzt zu gehen.
Ich brauche keinen Arzt. Ich weiß, woher es kommt.

Ich lehne mich zurück und starre an die Decke. Denke an Anna und muss lächeln. Sie ist so hübsch. So nett. Ich fühle mich wirklich wohl bei ihr. Vielleicht haben wir tatsächlich eine Chance.

Ich weiß, woher es kommt. Die vielen Drogen. Das Heroin, das ich mir in der letzten Zeit eingeflößt habe, macht mich kaputt.
Und doch kann ich nicht damit aufhören, ich brauche es.
Die Alpträume, die mich quälen, lassen mich nicht schlafen. Die Droge hilft mir, die Träume zu unterdrücken. Oder zumindest dabei, danach wieder einzuschlafen.
Es geht nicht anders.

Ich denke wieder an Anna. Ihr Lächeln. Bei ihr habe ich mich wohl gefühlt. Geschlafen. Ohne Drogen. Ohne Alpträume.

Es hat aufgehört.

~*~

Ich liebe meine Arbeit. Aber es gibt Tage, an denen ich alles hinwerfen möchte. Wenn nichts klappt. Wenn jeder irgendetwas von mir verlangt. Wenn mir einfach alles über den Kopf wächst.
Heute ist so ein Tag.

Ich sitze an meinem Schreibtisch. Den Kopf in die Handflächen gestützt. Kopfschmerzen.
Ich wünschte, Shane wäre hier. Wie gern würde ich wieder in ihren Armen liegen.

Ich höre jemanden kommen. Wahrscheinlich Andy.
„Anna, der Juwelier hat gerade angerufen. Die Trauringe der Sandners sind fertig, du kannst sie abholen. Und Adalyn fragt, ob du dir die Tracklist für die Miller-Hochzeit noch mal ansehen könntest.“
Ich seufze. Blicke nicht auf. „Ja, gut. Mach ich gleich.“
„Anna?“
Ich hebe meinen Kopf. Andy steht immer noch da. Mit einer Tasse in der Hand.
„Kaffee?“
„Andy, du bist meine Rettung. Vielen Dank.“ Ich stehe vom Schreibtisch auf und gehe zur Tür. Ich nehme ihm die Tasse aus der Hand und trinke eilig.
Andy lächelt und geht. Der Kaffee tut gut.

~*~

„Shane.“
Ich sehe Alice winken. Sie und die anderen sitzen an einem Tisch am anderen Ende des Raumes. Es war noch ziemlich früh, deswegen war die Musik noch nicht so laut und man konnte sich fast normal unterhalten.
Ich gehe zu ihnen rüber. „Hey.“
Nach der üblichen großen Begrüßung mit Umarmungen und Küsschen setze ich mich zu ihnen.

„Kommt Anna auch?“ Alice. Ich hätte es wissen müssen.
„Ja, vielleicht.“ Ich versuche, so unschuldig wie möglich rüber zu kommen.
„Was läuft da zwischen euch?“
Ich schenke ihr einen viel sagenden Blick und stehe auf, um mir etwas zu trinken zu holen. Ich bin nicht zum Lügen geboren.

Während ich weg war, haben die anderen Alice anscheinend den Kopf gewaschen, denn sie hält sich jetzt auffällig zurück.

„Hi.“
Ich drehe mich um. Anna. Ich lächle.

~*~

Wir lächeln uns an. Und ich spüre deutlich das Feuer, das zwischen uns entfacht. Ich sehe ihr tief in die Augen und bin nicht fähig, meinen Blick von ihr zu wenden. Ihre wunderschönen großen grünen Augen.
Das Feuer in mir lodert und ich fühle die Blicke der anderen. Ich weiß, dass sie es wissen. Sie wissen es, auch ohne Worte.

„Anna, setz dich doch.“
Ich schrecke aus meinen Gedanken. „Was?“
„Wir beißen dich nicht. Du kannst dich also ruhig setzen.“
„Ach so, ja.“
Ich blicke in die Runde. Alle lächeln. Eigentlich ist es mehr ein Grinsen. Ein Grinsen, das mir verrät, dass sie alle Bescheid wissen.

Ich setze mich neben Shane und die Bombe der Leidenschaft droht zu explodieren.
„Wie geht`s dir, Anna?“, fragt Alice und ich habe das ungute Gefühl, dass es nicht bei dieser einen Frage bleiben wird.
„Ähm, gut. Danke.“ Ich bemühe mich, ganz normal zu wirken. Und weiß zugleich, dass es mir nicht gelingt.
„Was macht die Arbeit?“
„Fürs Wochenende sind zwei Hochzeiten angesetzt. Das Meiste ist getan, aber morgen muss ich noch all die Details vorbereiten.“
Wir gehen in Small Talk über.

~*~

„Ich bin gleich wieder da.“ Ann steht auf und geht auf die Toiletten zu.
Ich beiße mich auf die Unterlippe. Halte es nicht mehr aus.

„Ähm, ich muss auch mal.“ Ich mache mich auf den Weg, meine Sehnsucht zu stillen und spüre ihre Blicke in meinem Nacken. Höre ihr Gekicher, das sich anhört wie das von kleinen Mädchen.
Es ist mir egal. Sie wissen ohnehin Bescheid.

Ich öffne die Tür. Anna ist nirgends zu sehen. Ich gehe ein Stück weiter. Nur eine Kabine ist geschlossen. Nicht verriegelt.
Ich gehe hinein. Sie steht direkt vor mir. Ihre schönen Augen. Ihr hungriger Blick.
Das Feuer zwischen uns nimmt ungeahnte Dimensionen an. Die Hitze wird unerträglich.
Als sich unsere Lippen berühren, fühlen wir beide uns befreit. Befreit von Sehnsucht.

~*~

Sie schließt die Tür und wir fallen übereinander her.
Wir treiben es sehr heftig und trotz der Musik, die auch hier drin sehr laut zu hören ist, habe ich Angst, dass uns jemand hört.
Aber eigentlich ist es mir egal. Im Moment ist mir nur wichtig. Mit Shane zusammen zu sein. Sie zu spüren. Mit ihr zu ficken.

Mein Stöhnen wird lauter und ich verliere den Halt, als ich zu meinem Höhepunkt bekomme. Doch Shane hält mich fest. Sie gibt mir meinen Halt zurück. Bei ihr fühle ich mich so sicher. Ich will, dass sie mich nie wieder los lässt.

Wir küssen uns leidenschaftlich. Dann nimmt sie meinen Kopf in beide Hände. Bei dieser Geste muss ich wieder an Laura denken, Sie tat das Gleiche.
Sie zieht meinen Kopf zu sich heran und flüstert mir ins Ohr.
„Wir sollten gehen.“
„Die anderen wissen es, oder?“
Sie grinst. „Ja, aber das meinte ich nicht.“
Ich sehe sie verständnislos an.
„Ich meinte, wir sollten gehen. Am besten zu dir, meine Mitbewohnerinnen könnten uns stören.“

~*~

Sie blickt mir in die Augen. Sie fängt an zu grinsen und nickt.
Ich nehme Anna an die Hand und führe sie zurück an den Tisch. Die anderen scheinen die ganze Zeit erwartungsvoll zur Tür gestarrt haben. Jetzt kichern sie wieder.

Ich sehe zu Anna. Sie scheint etwas verlegen zu sein.

„Ähm, Leute, würde es euch was ausmachen, wenn …“
Weiter komme ich nicht. „Geht nur! Wir sehn uns.“
Wir verabschieden uns und gehen in Richtung Ausgang davon. Hand in Hand.


Kapitel 7


Sie liegt auf dem Boden. Nackt. Gefangen in Angst. Starr.
Der Junge, der auf ihr liegt, fügt ihr unvorstellbare Schmerzen zu. Ihr bester Freund. Marcus.

Ihre Nase blutet, ihr linkes Auge schwillt an. Ihr Hinterkopf schmerzt.

Sie versucht, sich zu wehren. Immer wieder. Doch die Schwäche, die sich in ihrem Körper ausbreitet, macht sie unfähig, sich zu bewegen.

Sie hat die Augen geschlossen. Will nicht sehen, was er ihr antut. Tränen auf ihrem Gesicht. Die Verkörperung der Angst.

„Bitte, Marcus, hör auf!“ Immer wieder sagt sie diese Worte. Anfangs leise. Später ruft sie aus vollem Halse, aus Verzweiflung.

---

„Nein! Bitte, hör auf damit!“

Ich stehe in der Küche und bereite das Frühstück vor, als ich Shane schreien höre. Ich renne ins Schlafzimmer und sehe, wie sie sich windet und um sich schlägt.
Ich gehe ans Bett. Sie ist bleich. Überall Schweiß.

„Shane! Shane, beruhige dich!“ Ich setze mich auf die Bettkante und halte sie fest.

„Marcus, nein!“
Wer ist Marcus? Ich denke nicht länger darüber nach. Stattdessen nehme ich Shane in die Arme und versuche, sie zu beruhigen.
Was ist nur los mit ihr?

„Shane, es ist alles gut, hörst du? Alles ist gut.“ Ich merke, wie sie sich in meinen Armen entspannt. Ich löse die Umarmung etwas und schaue sie an.
Sie öffnet die Augen und ich sehe Angst. Nichts als Angst. Eine einzelne Träne huscht über ihre Wange.
„Ann.“
„Keine Angst, ich bin hier. Das war nur ein Traum.“

~*~

Ich hatte schon viele Alpträume. Doch dieser war anders. Bis jetzt habe ich mich in meinen Träumen immer in meinem eigenen Körper befunden. Ich hatte die Augen geschlossen. Habe nichts gesehen, nur gewusst, dass es passiert, nur seine Stimme gehört. Doch dieses Mal stand ich daneben. Ich stand da und konnte nichts tun. Habe gesehen, wie ich vergewaltigt wurde. Sein Gesicht, während er es tat. Und es schien so real.

Ich zittere. Habe Angst. Bin froh, dass Ann bei mir ist. Ich schmiege mich an sie und fühle die Wärme und die Geborgenheit, die von ihr ausgeht. Ich schließe die Augen. Fühle die warme Flüssigkeit, die aus meiner Nase auf Annas Shirt tröpfelt. Sie merkt es nicht. Und ich bin nicht fähig, irgendetwas zu sagen.

„Willst du drüber reden?“ Sie hält mich fest.
Ich schüttle kaum merklich mit dem Kopf.
„Okay.“ Ich bin froh, dass sie mich versteht.
Anna beugt sich nach hinten, um mir in die Augen zu sehen.
„Meine Güte, Shane. Deine Nase blutet schon wieder.“
Ich fühle mich zu schwach, irgendetwas zu tun oder zu sagen. Mein Körper ist erstarrt. Der Traum hat mich mehr mitgenommen als alle anderen.

Sie drückt mich wieder an sich.
„Shane, hab keine Angst, ich bin da.“ Ich fühle mich wie ein Kind, wenn sie so mit mir spricht. Es tut mir gut. Ich hätte jemanden wie sie damals gebraucht.

Ich fühle mich schrecklich. Schwitze.

~*~

Ich fasse ihr an die Stirn. Feuerheiß.
„Shane, du hast Fieber.“
Verdammt. Was ist nur mit ihr los? Was hat sie geträumt? Ich wünsche mir so sehr, dass sie mit mir darüber spricht. Und trotzdem will ich sie nicht dazu drängen. Ich bin mir sicher, wenn sie mir vertraut, wird sie sich mir irgendwann öffnen. Es braucht Zeit, jemandem zu vertrauen. Ich weiß dies aus eigener Erfahrung.

Ich fasse einen Beschluss. „Honey, du wirst heute nicht arbeiten.“
Sie sieht mich entgeistert an. Ich lasse nicht locker.
„Du hast Fieber, du bist krank. Du gehörst absolut ins Bett. Während ich im Büro bin, wirst du dich hier ausruhen. Ich komm in meiner Mittagspause und sehe, wie es dir geht. Wenn es schlimmer wird, fahr ich dich zum Arzt.“

Shane ist schockiert, das sehe ich ihr an. Doch anscheinend weiß sie nichts dagegen zu sagen.
Ich realisiere, dass ihre Nase immer noch blutet. Ich lege sie zurück in die Kissen und nehme ein Taschentuch aus dem Nachttisch neben dem Bett.

Nachdem ich eine Schale Wasser und ein Tuch aus dem Badezimmer geholt habe und mich versichert habe, dass es ihr einigermaßen gut geht, küsse ich sie auf die Stirn. Immer noch so heiß.
„Hon, ich muss jetzt gehen. Wenn du Hunger hast, bedien dich einfach in der Küche. Wenn irgendetwas ist, ruf mich an, okay? Und ich werde deinem Chef Bescheid sagen, dass du nicht kommst. Bis nachher.“
Keine Antwort.
Nach einem weiteren Kuss, lege ich das kalte, mit Wasser getränkte Tuch auf ihre Stirn und gehe hinaus.

~*~

Das Nasenbluten hat schon wieder aufgehört. Es war nicht so stark wie sonst.
Ich zittere immer noch. Fühle mich beschissen.

Ich höre die Haustüre ins Schloss fallen und stehe auf. Werfe das nasse Tuch in die Schüssel. Mir ist schwindelig.
Ich gehe hinüber zu meinem Rucksack und nehme einen kleinen Plastikbeutel aus dem hinteren Fach. Ich setze mich an den kleinen Tisch am Fenster und bereite zwei Streifen mit dem weißen Pulver vor. Rolle einen $ 10-Schein und fange an zu sniefen.

Ich verstaue das Päckchen wieder in meinem Backbag und lege mich zurück ins Bett. Ich spüre förmlich, wie das Heroin in die Blutbahn übergeht und seine Wirkung entfaltet.
Ich kenne die Risiken und Gefahren des Heroinkonsums. Und doch brauche ich es. Ich brauche es zum Schlafen. Dazu, meine Angst zu bewältigen. Meine Angst vor den Träumen.

Plötzlich fühle ich mich frei. Ich spüre, wie ich zurück in den Schlaf drifte.

~*~

„Anna.“
Ich schrecke aus meinen Gedanken. Hebe meinen Kopf, den ich in die Hände gestützt hatte. Vor mir steht meine Kollegin. Adalyn.
„Was?“
„Anna, geht`s dir gut?“
Um ehrlich zu sein, mir geht`s beschissen.
„Ja. Ja, alles okay. Ich hab nur darüber gebrütet, ob die Anbringung der Lichter bei der Hochzeit der Millers wirklich …“. Weiter komme ich nicht.
„Ann, ich kenne dich jetzt schon eine Weile, du kannst mir nichts mehr vormachen. Ich sehe, das was nicht stimmt.“

Adalyn und ich haben uns von Anfang an gut verstanden, ich mag sie. Sie weiß einiges über mich und unsere Beziehung hat sich im Laufe der wenigen Wochen, die ich hier bin, tatsächlich zu einer Freundschaft entwickelt.

„Es geht um Shane.“
„Deine Freundin?“
„Ja. Es geht ihr nicht so gut.“
Ich erzähle ihr die ganze Geschichte. Und ich weiß, Shane würde mich umbringen, wenn sie es wüsste. Doch ich muss jetzt einfach mit jemandem reden.

„Wie wärs, wenn du wieder nach Hause gehst und ich das hier für dich erledige?“
„Adalyn, nein. Das kann ich nicht machen.“
„Ann, jetzt pass mal auf. Du würdest dasselbe für mich tun, oder? Es ist nicht viel zusätzliche Arbeit. Abgesehen davon, bringst du im Moment ohnehin nicht viel zu Stande.“

Eigentlich hat sie ja Recht. Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn ich nach Hause gehen würde.
Ich nicke. „Danke.“
Wir umarmen uns und ich packe meine Sachen zusammen.

~*~

Insekten. Überall Insekten. In meinem ganzen Körper. Ich kann sie spüren, wie sie sich bewegen. Unter meiner Haut. Und es macht mich verrückt.
Ich spüre, wie sie durch Arme und Beine huschen. Bis zu den Zehen. Bis in die Fingerspitzen. Es fühlt sich an wie tausend kleine Nadelstiche.
Vielleicht verspeisen sie mich. Stück für Stück. Jede einzelne meiner Zellen.

Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Öffne die Augen.
„Shane, was ist denn los mit dir? Geht es dir … Shane?“
Oh mein Gott. Sie weiß es. Sie weiß alles. Ich spüre es. Sehe es in ihrem Gesichtsausdruck.
„Shane, deine Augen … hast du … bitte, sag nicht, dass ….“
„Ann, ich ….“. Verdammt, was soll ich ihr nur sagen?

Ich erwarte, dass sie weint. Doch das tut sie nicht. Stattdessen sitzt sie auf der Bettkante und starrt mich an. Ihr Blick verrät mir ihre Enttäuschung. Und gleichzeitig die Besorgnis. Um mich.

Lange verbleiben wir so. Lange sieht sie mich so enttäuscht an. Dann fasst sie mir an die Stirn.
„Shane, du glühst.“
Mir geht`s beschissen. Doch das muss sie nicht wissen.
„Es ist alles okay, es geht schon.“
Sie merkt mir an, dass mir die ganze Drogen-Sache peinlich ist.
„Shane, hör mir zu. Wir reden ein anderes Mal darüber. Jetzt lass mich dir helfen, du bist krank.“

~*~

„Nein. Es geht mir gut, okay?“
Verdammt, Shane, ich will dir doch nur helfen.
Sie kann sich nicht vorstellen, wie enttäuscht ich von ihr bin. Und normalerweise würde ich ihr das auch deutlich zeigen. Aber ihre Gesundheit hat Vorrang und die Temperatur scheint ziemlich hoch zu sein.
„Warte hier, ich hole ein Fieberthermometer.“

Ich stehe auf und gehe in die Küche zu dem Schrank, in dem ich verschiedene Medikamente verstaut habe. Ich nehme das Thermometer heraus und fülle ein Glas mit Wasser. Dann gehe ich zurück ins Schlafzimmer.
Ich bleibe in der Tür stehen.
„Shane, was ….“
Sie ist dabei, ihr Shirt anzuziehen und ihre restlichen Sachen vom Boden aufzuheben. Ich sehe, dass sie immer wieder die Augen schließt, um dem Schwindelgefühl auszuweichen.

„Ann, ich habe zu arbeiten. Danke, dass du mir helfen willst, aber ich komme schon zurecht. Sehn wir uns heute Abend?“
Was ist nur mit ihr los?

~*~

Sie gibt mir keine Antwort. Schon wieder dieser Blick.
Alles dreht sich, mir wird immer schwindeliger. Ich muss an die frische Luft.
Den Rucksack aufgesetzt gehe ich an ihr vorbei.

„Shane, bitte sei doch vernünftig.“

Ich höre nicht auf sie.
Laufe weiter. Mit den Beinen, die mich kaum mehr tragen. In dem Körper, der nicht mehr meiner ist.

„Du kannst nicht fahren. Nicht in deinem Zustand.“

Ich höre sie sprechen. Wie aus weiter Ferne. Es ist, als ob ich Karussell fahre. Alles dreht sich. Dann denke ich daran, dass ich noch nie Karussell gefahren bin, bevor alles um mich herum schwarz wird.

~*~

„Shane.“
Sie wurde immer langsamer und kollabierte neben dem Sofa. Mit dem Kopf knapp an der Tischkante vorbei.

Ich renne zu ihr. Sie liegt da, mit dem Gesicht nach unten. Vorsichtig drehe ich sie um. Räume den Rucksack aus dem Weg.
„Shane, sag doch etwas. Kannst du mich hören?“
Ich klapse ihr ein paar Mal fest auf die Wange. Keine Reaktion.

Ich stürme ins Schlafzimmer und hole das Handy aus meiner Tasche. Wähle die Nummer des Notarztes. Erkläre die Sachlage. Versuche, möglichst ruhig zu bleiben.
Dann laufe ich zurück ins Wohnzimmer. Sie liegt noch genauso da. Schweißtropfen auf ihrer Stirn. Die rote Flüssigkeit, die aus ihrer Nase strömt. Nicht schon wieder. Mittlerweile weiß ich ja, woher es kommt. Aus der Küche hole ich Tücher.

Ich greife sie unter den Armen und ziehe sie hoch auf die Couch. Es ist nicht schwer, denn sie ist federleicht. Zu leicht, meiner Meinung nach.
Dann bewegt sie sich und stöhnt. Öffnet die Augen.
„Ann.“
„Shane.“ Was soll ich jetzt sagen? „Shane, lässt du mich dir bitte helfen. Es geht dir nicht gut und das weißt du.“
Sie nickt, immer noch verwirrt.
„Ich habe den Arzt gerufen.“
Plötzlich sieht sie mich erschrocken an.
„Nein, bitte nicht. Ich will keinen Arzt. Es geht schon, wirklich.“
„Ja, das habe ich gerade gesehen.“

Sie kämpft gegen meine Arme an, die sie niederdrücken. Doch sie ist zu schwach. Ihre Nase blutet noch immer und ich greife nach einem Tuch, dass ich ihr in die Hand gebe.

Es klingelt an der Tür. Ein Blick zu Shane, die immer noch schockiert scheint und ich mache auf.
„Guten Tag, Herr Doktor.“ Ich strecke meine Hand aus, er schüttelt sie kurz.
„Hallo. Ist das die Patientin?“ Er deutet zu Shane.
Sie gibt sich locker. „Hey, Doc.“

~*~

Er kommt zu mir ans Sofa und ich gebe ihm die Hand, die blutverschmiert ist.
Er kniet sich neben mich und schaut mich eindringlich an. Merkt er ebenfalls, dass ich H genommen habe? Er sieht nett aus.
„Wie geht es Ihnen denn?“

Ich überlege kurz und entscheide mich für die Wahrheit. Ich kann ihm ohnehin nichts vormachen.
„Scheiße.“ Irgendwie scheint er amüsiert zu sein von meiner Ausdrucksweise.
„Wie heißen sie?“
„Shane McCutcheon.“

Er misst meine Temperatur, meinen Blutdruck. Fühlt meinen Puls.
Er nimmt eine Spritze mit was auch immer und sticht sie mir in den Arm. Sofort fühle ich mich besser. Mit den Drogen, die er mir gespritzt hat. Merke, wie meine Glieder müde werden.

~*~

Ich gehe auf den Arzt zu.
„Vielleicht wäre es besser, wenn wir sie ins Schlafzimmer bringen? Dort kann sie sich besser ausruhen.“
Er stimmt mir zu. Dann dreht er sich wieder Shane zu.
„Miss McCutcheon?“
Shane murmelt irgendetwas Unverständliches. Die Medikamente fangen anscheinend schon an zu wirken. Ihr Nasenbluten hat aufgehört.
„Miss McCutcheon, wir werden sie jetzt zurück ins Bett bringen, aber sie müssen uns dabei helfen, okay?“
„Ja.“

Sie ist schon im Halbschlaf, als wir sie stützen und nach hinten in mein Schlafzimmer bringen. Ich merke, wie ihre Beine nachgeben. Sie hat ihre Augen geschlossen. Wir legen sie ins Bett. Es scheint, als ob sie schon eingeschlafen ist. Das ist gut so.
Ich küsse ihre Stirn. So heiß. Dann gehe ich zusammen mit dem Arzt zurück ins Wohnzimmer.

Er packt seine Tasche und dreht sich dann zu mir.
„Ihre Temperatur ist sehr hoch. Fast 40 Grad, damit ist nicht zu spaßen. Die Medikamente werden sie senken und sie müssen versuchen, sie untenzuhalten. Sollte das Fieber schlimmer werden, müssen wir sie ins Krankenhaus bringen.“
Ich bin schockiert. „Ins Krankenhaus?“
„Ich glaube zwar nicht, dass es so weit kommen wird aber ja, wenn die Temperatur bis über 40 Grad steigt, kann ich nichts mehr tun. Ich lasse Ihnen Tabletten da, die sie ihr geben können. Nicht mehr als 3 am Tag. Und passen sie auf, dass sie immer gut zugedeckt ist, auch wenn sie schwitzt.“
„Danke, Doc. Aber was fehlt ihr eigentlich?“
„Ich denke nicht, dass es etwas wirklich Ernstes ist. Vielleicht eine leichte Erkältung. Fieber, wie im Übrigen auch Nasenbluten, kann aber ebenfalls zum Beispiel durch emotionalen Stress ausgelöst werden. Wie auch immer, ein paar Tage Bettruhe und sie müsste wieder fit sein.“
Er verabschiedet sich und ich schließe die Tür.

Ich schließe die Augen.
Verdammt. Eigentlich müsste ich etwas arbeiten. Schließlich stehen morgen diese beiden Hochzeiten an. Meine Chefin wäre sicherlich nicht erfreut, wenn sie wüsste, dass ich zu Hause bin. Schließlich arbeite ich erst seit 5 Wochen in der Eventagentur.

Ich nehme das Handy vom Wohnzimmertisch und wähle die Nummer von Alice.
„Ja?“
“Al? Hier ist Anna.“
„Hey, Ann. Was gibt`s?“
Wo soll ich anfangen? „Al, wo bist du gerade?“
„Ähm, zu Hause … wieso?“
„Würde es dir was ausmachen, vorbeizukommen? Shane geht`s nicht so gut und ich muss zurück zur Arbeit.“

Ohne zu zögern sagt sie zu. Ich erkläre ihr, wie sie fahren muss und lege auf.
Ich gehe zu Shane. Sie sieht schrecklich aus. Ringe unter den Augen. Schweißperlen auf der Stirn. Die Nase rot vom Blut.
Ich sehe sie lange an. Was ist ihr Geheimnis? Was hat diese Frau schon durchgemacht? Sind wir irgendwie seelenverwandt? Hat sie auch so Schreckliches erlebt? Was hat es mit diesem Alptraum auf sich? Hat sie öfter schlechte Träume, dass sie davon krank wird? Warum nimmt sie diese verdammten Drogen?
So viele Fragen und keine Antworten. Noch nicht.

~*~

„Shane! Shane, wach auf.“
Ich höre eine unglaublich sanfte Stimme. Öffne meine Augen.
Anna sitzt neben mir. Sieht mich mit besorgtem Blick an.

Mir geht es beschissen. Ich habe das Gefühl, ich explodiere vor Hitze. So schwach wie jetzt habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Nur ein Mal. Und es kommt mir so vor, als wäre es erst vor ein paar Stunden passiert.
Ich denke wieder an diesen schlimmen Traum. Er hat mir die Kräfte geraubt. Wie damals. Er hat mich zum Weinen gebracht. Wie damals. Er hat mir mein ganzes Glück genommen. Wie damals. Er hat mich krank gemacht. Wie damals.

Die Hitze bringt mich um. Ich streife die Decke von meinem Körper, doch Anna deckt mich wieder zu.
„Nicht, das darfst du nicht. Du musst zugedeckt bleiben.“
Ich will protestieren, aber selbst dazu fühle ich mich zu schwach. Was hat dieser blöde Traum nur mit mir angestellt?

„Shane, hör zu. Du weißt doch, dass ich für morgen diese beiden wichtigen Hochzeiten organisiert habe. Ich kann unmöglich den ganzen Tag vom Büro wegbleiben. Aber ich hab Alice angerufen, sie wird sich um dich kümmern, okay?“
Nein, bitte nicht Alice.
Ich schließe die Augen. „Musste es unbedingt Al sein? Ich brauche niemanden, der Babysitter für mich spielt.“
„Ich lasse dich sicherlich nicht allein. Und Al war die einzige, die mir spontan eingefallen ist. Soweit ich weiß, arbeiten alle deine Freundinnen.“

Eigentlich finde ich es rührend, dass sie sich solche Sorgen um mich macht.

~*~

Ich hasse es, weg zu müssen. Ich finde es nicht richtig. Aber mir fällt nichts anderes ein. Ich muss arbeiten, um meinen Job zu behalten. Das ist mein erster großer Auftrag. Ich will meine Sache gut machen.
Ich bin mir sicher, dass Alice die Richtige ist. Ich sehe die starke Verbindung zwischen ihr und Shane. Die enge Freundschaft. Auch wenn Shane es nicht wahrhaben will.

Ich höre die Klingel. „Honey, ich muss jetzt gehen. Lass Al dir helfen, okay?“
Sie murmelt irgendetwas. Anscheinend ist sie einverstanden. Ich küsse sie auf die Stirn und gehe aus dem Zimmer, um Alice die Tür zu öffnen.

„Hey, Al. Danke, dass du kommen konntest. Komm rein.“
Sie umarmt mich kurz.
„Oh, mein Gott.“
Ich drehe mich um, um zu sehen, was sie so aufregt. Mir wird klar, dass ich die Blutflecke auf dem Fußboden vor der Couch noch nicht aufgewischt habe.
„Alice, Shane geht es wirklich nicht gut. Sie hatte wieder Nasenbluten und ist vorhin dort zusammen gebrochen.“
„Verdammt, ich hab ja nicht geahnt, dass es so schlimm ist.“
Ich lege meinen Kopf in die Handflächen. „Al, ich weiß einfach nicht, was mit ihr los ist. Heute Morgen hatte sie einen Alptraum. Sie ist schweißgebadet aufgewacht und hat sogar geweint. Außerdem hatte sie Fieber.“
Alice schaut mich ungläubig an. Anscheinend ist es auch nicht Shanes Art, zu weinen.
„Als ich früher von der Arbeit kam, hab ich gemerkt, dass sie Drogen genommen hat.“
„Nein, bitte sag, dass das nicht wahr ist. Sie hat vor nicht allzu langer Zeit gesagt, dass sie von dem Stoff weg ist. Aber ich schätze, das sagen sie alle. Das würde auch das ständige Nasenbluten erklären.“
„Jedenfalls habe ich sie darauf angesprochen. Sie hat ihre Sachen gepackt und wollte gehen. Doch neben dem Sofa ist sie einfach zusammen geklappt. Ich hab den Arzt gerufen und er sagte, das Fieber kann psychische Ursachen haben. Ich hab das Gefühl, dass es etwas mit diesem Traum zu tun hat.“
„Komm mal her.“ Alice zieht mich in eine liebevolle Umarmung. Ich bin ihr dankbar, dass sie hier ist.

„Al, weißt du irgendetwas? Ich meine, hast du eine Ahnung, woher die Träume kommen?“
„Weißt du, Ann, eigentlich weiß niemand so richtig über Shane Bescheid. Sie ist eine gute Freundin, immer hilfsbereit. Aber sie hat ein Problem damit, selbst Hilfe anzunehmen.“
Ich nicke. Dies ist auch mir schon aufgefallen.
„Mach dir keine Sorgen, Ann. Vielleicht redet sie mit mir.“
Ich bezweifle das, doch nicke erneut.

Ich erkläre ihr, was sie zu tun hat, wo sie die Tabletten findet und wir verabschieden uns.
Ich werde versuchen, so bald wie möglich wieder zurück zu sein. Hoffentlich verschlechtert sich Shanes Zustand nicht.

~*~

Ich höre das Klirren von Glas. Ich öffne meine Augen und drehe den Kopf.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.“
Alice. Als sie die Glaskanne mit Wasser auf das Nachttischchen mit der Glasplatte neben dem Bett gestellt hat, bin ich aufgewacht.
Plötzlich ist mir kalt.
„Keine Ursache.“
„Wie geht es dir?“, fragt Alice und sie klingt besorgt. Sie streicht mir über die Stirn.
„Ehrlich gesagt, nicht so gut.“
„Weißt du, Shane, ich bin froh, dass du das zugibst.“
Ich lächle schwach.
„Hast du Durst?“ Ich nicke.
„Oh, verdammt. Ich hab vergessen, ein Glas mitzubringen. Ich werd schnell eines holen.“ Ich nicke erneut.

Sie geht aus dem Zimmer und ich streife die Decke zur Seite. Ich setze die Beine auf den Boden und stehe auf.
Wieder dieses Schwindelgefühl. Meine Beine fühlen sich an, als ob sie nicht mehr zu mir gehören. Mich nicht mehr tragen wollen.
Ich schließe die Augen und suche mir den Weg hinüber zur Kommode. Halte mich dort fest. Öffne die Augen und sehe die Schwärze, die auf mich zukommt.

„Nein, nein, nein. Das lässt du mal schön bleiben.“
Ich hasse es, wenn mich Al behandelt, als wäre ich ein kleines Kind, das bei jedem Schritt Hilfe benötigt.
Sie packt mich am Arm und will mich zurück zum Bett führen.
„Al, ich muss mal.“
„Oh, okay. Ich werde dich begleiten.“
„Das ist nicht dein Ernst?“
„Doch.“ Sie klingt sehr bestimmt.
„Damit du keine Dummheiten machst.“ Ich weiß, dass ich keine Chance gegen sie habe. Nicht im Moment. Dennoch sehe ich sie schockiert an.
„Ich habe nicht vor, dir dabei zuzusehen, falls du das befürchtest.“
Ich muss lachen. „Das hätte ich auch nicht zugelassen.“

Ich lege den Arm um Alice`s Schultern und lasse mich von ihr führen. Ich muss zugeben, dass es nicht besonders leicht ist. Bereits an der Tür muss ich kurz stoppen und mich am Rahmen festhalten, um nicht wieder zu fallen. Alice versichert sich, dass es mir gut geht und wir gehen weiter.

Nach getaner Prozedur lege ich mich wieder ins Bett.
Mir ist kalt. Ich ziehe die Decke weit hoch.
„Geht`s dir gut?“
Alice kommt zu mir. „Shane, du zitterst.“
„Mir ist kalt.“
„Das ist normal bei Fieber.“

Al nimmt das Thermometer vom Tisch. Ich schließe die Augen. Sie bittet mich, den Mund zu öffnen, um das Fieberthermometer unter meiner Zunge zu platzieren.
„38,9. Immer noch ziemlich hoch. Aber wenigstens ist es nicht weiter gestiegen.“
Die Erleichterung in ihrer Stimme ist deutlich zu hören.

Sie holt mir eine zweite Decke und deckt mich damit zu.
„Alles wird gut, Shane.“ Sie flüstert. Vielleicht denkt sie, ich bin eingeschlafen.
„Weißt du, Shane. Du musst nicht immer alles in dich hinein fressen. Manchmal ist es gut, mit jemandem zu reden. Wir sind deine Freunde. Ich hoffe, du weißt, dass du uns vertrauen kannst. Ich weiß, dass ich ein Tollpatsch bin, aber ich kann auch zuhören. Du hast mir schon so oft geholfen, und ich würde mich gerne einmal revanchieren, indem ich dir helfe.“
Ich lächle bei Al`s Worten. Ich glaube nicht, dass sie es merkt. Doch ich sage nichts. Stattdessen spüre ich, wie ich langsam in den Schlaf drifte.

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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 Betreff des Beitrags: Re: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:22 
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Kapitel 8


Im Büro hat es länger gedauert, als erwartet. Mittlerweile ist es fast 9 Uhr abends.
Ich öffne die Tür und sehe Al auf der Couch sitzen. Mit Bette und Tina.
Wir begrüßen uns.

„Wie geht es ihr?“ Bitte. Hoffentlich geht es ihr gut.
„Sie schläft. Das Fieber ist glücklicherweise gesunken. Sie war vorhin kurz wach, da wars 38,2. Immer noch hoch, aber besser.“
Ich seufze vor Erleichterung.

Ich gehe kurz ins Schlafzimmer, um nach Shane zu sehen. Sie schläft friedlich. Dann gehe ich zurück ins Wohnzimmer, stelle meine Tasche ab und setze mich aufs Sofa.
„Ich bin so froh, dass es ihr besser geht.“
„Ja“, stimmt Bette mir zu, „aber Ann, wir machen uns große Sorgen um sie. Alice hat mir alles erzählt.“

Al hat anscheinend das Blut vom Boden aufgewischt.
Ich nicke. „Ich mir auch. Wenn sie nur reden würde.“
„Shane redet nicht. Sie ist diejenige, die anderen zuhört. Sie ist die einzige, der ich ein Geheimnis anvertrauen würde, weil ich wüsste, dass sie es keinem erzählen würde.“ Al lächelt.

„Weißt du, Ann, Shane hatte es nicht immer leicht.“
„Inwiefern?“
Bette zögert. „Mehr weiß ich auch nicht.“
Ich glaube ihr nicht. Bin mir sicher, dass sie mir etwas verschweigt. Trotzdem beschließe ich, nicht weiter darauf einzugehen.
„Ich werde mit ihr reden.“
„Danke.“ Vielleicht öffnet sie sich Bette mehr.

~*~

Ich stehe im Gang, der zum Wohnzimmer führt. Höre zu, was sie über mich sagen.
Ich bin froh, dass Bette ihr Schweigen nicht bricht. Sie weiß mehr über mich, als sie zugibt. Sie ist die einzige, der ich je etwas über mich erzählt habe. Nicht von der Vergewaltigung. Aber von meinem Leben in den >Foster Homes<. Von meinem Leben ohne Eltern. Und von meinen nächtlichen Taten auf dem Santa Monica Boulevard.
Und sie war da. Hat mich vielleicht mehr unterstützt, als sie selbst bemerkt hat. Sie hat mich von meinem Straßenleben befreit. Sie habe ich mir als eine Art Ersatzmutter ausgesucht. Ich liebe sie auf eine Weise, auf die ich vielleicht meine eigene Mutter geliebt hätte, wäre sie für mich da gewesen.

Ich gehe um die Ecke. „Hey.“
Alle drei drehen sich zu mir um. Sind geschockt. Ann steht auf und kommt zu mir.
„Shane, was tust du? Du musst im Bett bleiben.“
„Ann, mir geht es schon besser, ehrlich. Das Fieber ist gesunken.“

Nach langem Hin und Her darf ich mich mit auf das Sofa setzen. Wieder fühle ich mich wie ein Kleinkind, das um Erlaubnis betteln muss, noch etwas auf bleiben zu dürfen.
Es ist tatsächlich ein schöner Abend. Sie stellen keine Fragen. Wir lachen.
Doch lange dauert es nicht, bis ich mich an Ann lehne und die Augen schließe.

„Shane, geht es dir nicht gut?“ Ihre Besorgnis ist fast schon rührend.
„Ich bin nur müde.“

Ich verabschiede mich von den anderen und Ann begleitet mich ins Schlafzimmer. Sie misst noch einmal Fieber. 38,0°.
„Ruh dich aus, okay? Morgen geht`s dir bestimmt besser.“
Ich stimme ihr mit einem leisen „Hm“ zu und nach einem Kuss auf meine Stirn verlässt sie das Zimmer.

~*~

Ich gehe zurück ins Wohnzimmer und setze mich wieder zu den anderen.
Ich seufze. „Es geht ihr viel besser. Danke, dass ihr alle da seid.“
„Hey“, sagt Bette, „das ist doch selbst verständlich. Du musst dich deswegen nicht bedanken, wir machen das gern.“

Ich sehe zu Boden. „Ähm … es gibt da noch ein Problem.“
Ich blicke wieder in die Runde. Die anderen sehen mich erwartungsvoll an.
„Ich habe doch diese zwei Hochzeiten geplant, die morgen stattfinden. Ich muss da als Organisatorin unbedingt aufkreuzen.“
Ich will mich weiter rechtfertigen, doch Alice unterbricht mich.
„Das ist doch kein Problem, ehrlich. Wir kümmern uns um Shane. Mach dir deswegen keine Gedanken.“
„Ich meine, ihr geht es ja schon viel besser, aber ich möchte sie trotzdem nicht allein lassen.“
„Wir verstehen das. Shane würde für uns dasselbe tun.“
„Tina hat Recht. Ich hab morgen frei, ich könnte also früh kommen und mit Shane hier bleiben.“
„Danke, Bette.“

Ich bin so dankbar, dass ich hier so schnell Anschluss gefunden habe. Bette, Alice und Tina. Sie sind wirklich nett. Und Shane. Vielleicht ist sie diejenige, die mir helfen kann, über Laura hinwegzukommen.
Aber ich mache mir solche Sorgen um sie. Die Drogen werden sie kaputt machen. Sie muss damit aufhören. Und zwar schnell.
Ich habe die Hoffnung, dass Bette morgen mit ihr redet. Ich glaube, dass sie mehr über Shane weiß, als sie zugibt.

-----

Die anderen sind gegangen. Ich gehe bettfertig ins Schlafzimmer. Shane schläft friedlich und ich bin darauf bedacht, sie nicht wieder zu wecken.
Ich lege mich neben sie und lege einen Arm um ihren schmalen Körper. Sie dreht sich und tut dasselbe bei mir. Meine Stirn berührt ihre und ich fühle, dass ihre Temperatur deutlich niedriger ist als noch vor ein paar Stunden. Ich bin ehrlich froh, dass es nicht schlimmer geworden ist und sie nicht ins Krankenhaus musste.

~*~

Schläfrig öffne ich die Augen. Ann ist nicht da, ihr Kissen ist kalt. Ich drehe mich um und blicke auf die Uhr. Halb elf. Schon so spät? Habe ich so lange geschlafen? Ich habe gar nicht bemerkt, wie Ann aufgestanden ist.

Ich rolle mich aus dem Bett und stehe auf. Ich spüre, dass es mir viel besser geht als gestern. Aufrecht stehen und laufen ist kein Problem mehr.
Ich seufze. Hatte es wirklich alles nur mit dem Traum zu tun? Ging es mir nur so schlecht wegen diesem verdammten Traum? Das Schlimmste für mich ist, dass Ann die Sache mit den Drogen bemerkt hat.

Ich gehe hinüber zu einem der Stühle neben dem kleinen Tisch. Darüber liegen einige meiner Klamotten. Hat Ann diese besorgt? Nein. Sie weiß gar nicht, wo ich wohne.

Ich ziehe mich um und gehe hinunter ins Wohnzimmer. Auf der Couch sitzt Bette an ihrem Laptop. Anscheinend arbeitet sie. Und anscheinend war sie es, die mir Kleidung gebracht hat.
Einen Moment lang ärgere ich mich. Traut mir denn niemand zu, dass ich alleine klar komme?
Doch dann realisiere ich, dass es niemand böse mit mir meint, sondern alle nur besorgt um mich sind. Ich lächle bei dem Gedanken, dass sich jemand Sorgen um mich macht.

„Guten Morgen, Bette.“
Bette blickt vom Bildschirm auf. „Hey Shane. Wie geht`s dir? Setz dich.“
Ich setze mich neben Bette auf das Sofa.
„Danke, ich fühle mich wieder richtig gut.“
„Das freut mich, wirklich. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“
Ich lächle. Und ehe ich mich versehe, umarme ich sie und grabe mein Gesicht in ihre Schulter.
„Danke, dass du hier bist.“
Sie hält mich fest. Bette. Der Ersatz für die Mutter, die ich nie hatte. Meine beste Freundin. Sie ist diejenige, die einzige, die ich an meiner Vergangenheit habe teilhaben lassen. Zumindest an einem Teil davon.

Sie löst die Umarmung und sieht mich an.
„Willst du mir nicht sagen, was gestern mit dir los war?“
Ich blicke zu Boden. Nein, ich kann es ihr nicht sagen. Noch nicht.
Lange sitzen wir so da. Es herrscht vollkommene Stille, die nur durch unseren Atem durchbrochen wird.
„Hast du Hunger?“
Ich seufze. Bin irgendwie glücklich, dass sie ein anderes Thema anschneidet und mich nicht dazu drängt, etwas zu sagen.
Ich nicke.
„Planet?“
„Ja, gern. Ich mach mich fertig.“

~*~

Die erste Hochzeit ist vorbei. In der Kirche ist alles glatt gegangen. Jetzt bin ich auf dem Weg zu der Location, in der die Feier stattfindet. Dort werde ich die Zügel meiner Kollegin in die Hand geben und mich dann der Trauung der Millers widmen.

Ich frage mich, wie es Shane geht. Sie hat heute Morgen so friedlich geschlafen. Ich wollte sie nicht wecken.

Ich nehme mein Handy aus der Tasche und wähle die Nummer von zu Hause.
„Bette Porter.“
„Hi Bette, hier ist Anna.“
„Hey, Ann.“
„Wie geht es Shane?“
„Keine Sorge, ihr geht es gut, ehrlich. Wir gehen gleich ins Planet, um etwas zu essen.“
„Gut. Ich bin froh zu hören, dass es ihr besser geht.“
„Ja, mach dir keine Gedanken. Wann bist du zurück?“
„Na ja, die zweite Hochzeit wird wohl etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen, weil nach der kirchlichen Trauung eine riesige Open Air-Party in East Hollywood steigt. Ich hoffe, dass ich so gegen 7 wieder zu Hause bin.“
„Okay, kein Problem. Ich werde auf sie aufpassen.“

Ich frage mich einen kurzen Moment, ob ich sie darauf ansprechen soll, ob sie schon mit Shane geredet hat, lasse es dann aber. Ich will sie nicht drängen.

Wir verabschieden uns und ich steige in mein Auto.

~*~

„So, können wir gehen?“
Ich stehe vor Bette, die ihr Telefon in der Hand hält. Ich wette, sie hat gerade mit Anna gesprochen.
„Ja, dann los.“

Bette nimmt den Zweitschlüssel vom Küchentisch, den Ann ihr anscheinend da gelassen hat und wir gehen hinaus zu ihrem Auto.
Der Weg zum Planet ist nicht allzu weit. Bette parkt direkt davor und wir gehen hinein.

Es ist fast Mittag, doch die Tische sind erstaunlich leer. Wir entscheiden uns für einen ruhigen Platz auf der Terrasse. Nach einer Weile kommt Marina, die glücklicherweise nichts von meinem kleinen Zusammenbruch gestern zu wissen scheint, und nimmt unsere Bestellung auf.

Nachdem sie uns unser spätes Frühstück gebracht hat und wieder weg geht, schaut mich Bette eindringlich an.
„Shane….“
Ich habe gewusst, dass das kommt.
„Shane, Anna hat erzählt, dass du gestern … wohl Drogen genommen hast.“
Ich sehe zu Boden und sage nichts. Ich habe gewusst, dass sie das Thema anschneidet, wieso habe ich mir keine Worte zurecht gelegt?

„Ehrlich gesagt, Bette, möchte ich nicht darüber sprechen.“
Vor allem nicht hier.
„Shane, das hier ist ernst, Es geht um Drogen, und um deine Gesundheit.“
„Das geht dich nichts an.“
„Doch, ich denke, das tut es.“
Sie schreit nahezu.
„Bitte, Bette, nicht so laut.“ Alle starren uns an.
„Es ist mir egal, ob mir jemand zuhört oder ob ich mich lächerlich mache, aber weißt du, was mir nicht egal ist?“
Ich sehe sie an. In ihren Augen glitzern Tränen.
„Du. Du bist mir alles andere als egal. Und ich werde nicht mit ansehen, wie du dich ruinierst.“

Jetzt reicht es. Ich stehe auf, ohne zu bezahlen, und renne hinaus. Ich spüre die vielen neugierigen Blicke im Nacken und ich höre Bette, wie sie nach mir ruft. Ich renne immer weiter. In den Park, in dem ich vor ein paar Tagen mit Anna war. Zu der Bank, auf der wir uns geküsst haben.
Ich setze mich und ziehe die Knie hoch. Stütze meinen Kopf ab.
Verdammt. Ich habe meine Zigaretten-Packung im Planet liegen lassen. Fuck.

„Shane.“
Nein. Bette ist mir gefolgt. Ich will mich nicht mit ihr auseinandersetzen. Ich fühle mich wie ein kleines Mädchen, das von ihrer Mutter geschimpft wurde und abgehauen ist.

Sie setzt sich zu mir. Ich habe meinen Kopf noch immer zwischen den Knien. Weine leise.
„Verdammt, Shane. Was ist denn los mit dir? Ich will dir doch nur helfen.“
„Du verstehst das nicht.“ Ich bemühe mich, meine Stimme möglichst normal klingen zu lassen.
„Vielleicht hast du Recht. Aber vielleicht kannst du mir helfen, dich zu verstehen.“
Ich schweige. Bin nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen.

„Shane, sieh mich an.“
Nein, nicht jetzt. Ich grabe mein Gesicht noch tiefer in meine Knie. Bette rutscht näher zu mir heran und schließt ihre Arme um mich. Das Gefühl der Geborgenheit überkommt mich. Ich spüre, wie ich mich entspanne und die Kontrolle über mich verliere. Wie ich in ihren Armen zusammen breche und hilflos anfange zu schluchzen.
Warum? Warum weine ich vor Bette?

„Shane, es ist alles gut. Beruhige dich, ich bin ja da.“
Ich liege in ihren Armen. Auf dieser Bank. Und weiß nicht, was ich tun soll.

Immer noch weine ich erbärmlich. Und es ist mir peinlich. Normalerweise bin ich nicht der Typ, der sich vor anderen so verletzlich zeigt.
Doch Bette ist hier. Und sie hält mich fest. Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Sie gibt mir das Gefühl von Wärme. Es tut mir gut.

„Shane, Anna hat erwähnt, dass du … während du geträumt hast, immer wieder … einen Namen genannt hast.“
Ich erstarre. Hoffentlich ist das gerade nicht wahr. Bitte nicht.
„Shane, willst du mir nicht erzählen, wer Marcus ist?“

Nein. Nein. Nein. Will ich nicht. Ich kann ihr nicht böse sein, dass sie mich darauf angesprochen hat, sie hat es ja nur gut gemeint. Doch so sehr ich ihr auch vertraue, ich kann ihr nichts von der Vergewaltigung erzählen. Die bloße Erinnerung daran macht mich schon wahnsinnig.
Ich schüttle den Kopf. Mein Gesicht nass von den Tränen.

Sie nickt. „Okay.“
Erleichterung überkommt mich.

„Aber Shane, ich will, dass du weißt: ich bin immer für dich da. Ich kenne dich jetzt lange genug, um zu wissen, dass du deine Gefühle anderen nicht zeigst, aber … aber solltest du dennoch irgendwann einmal jemanden zum Reden brauchen, dann … bin ich da und werde dir zuhören.“
„Danke.“

Das ist das einzige, das ich hervorbringe. Und es klingt, als hätte ich seit langem nicht mehr gesprochen.

Dann rutsche ich nah an sie heran und lege meinen Kopf an ihre Schulter. Sie legt ihren Arm um mich herum. Ich schließe meine Augen und werde ruhig. So verbleiben wir den ganzen Nachmittag.


Kapitel 9


3 Tage später…


Anna`s POV:

Es ist fast Mittag. Ich stehe in meiner Küche und habe keine Lust entscheide ich mich, zum Mittagessen ins Planet zu gehen. Ich setze mich kurzerhand ins Auto und fahre los.

Ich bin froh, dass diese beiden Hochzeiten nun endlich vorüber sind, für die ich die vergangenen Wochen geschuftet habe. Es war mein erster großer Auftrag und ich wollte einen guten Eindruck hinterlassen. Ich denke, das ist mir gelungen.
Nun sind auch die letzten Arbeiten getan und Rechnungen bezahlt, so dass ich mir problemlos ein paar Tage frei nehmen konnte.

Ich mache mir große Sorgen um Shane. Seit dem Vorfall vor 4 Tagen verhält sie sich sehr distanziert. Ich merke, dass es ihr peinlich ist. Aber alles, was ich will, ist doch, ihr zu helfen. Es macht mich wahnsinnig, dass sie sich nicht helfen lässt und so darauf beharrt, alles mit sich selbst auszumachen.

Im Planet angekommen, setze ich mich an den Tisch, an dem ich Shane kennen gelernt habe und der zufällig gerade frei geworden ist. Ich bin froh, dass niemand aus der Clique hier ist. Auch Marina nicht.
Eine junge Kellnerin nimmt meine Bestellung auf und kommt wenige Minuten später mit meinem Cappuccino wieder.

Ich greife nach meiner Handtasche und nehme den schwarzen Terminplaner heraus, den ich immer bei mir trage, um nachzusehen, ob irgendwelche wichtigen Termine anstehen, die ich keinesfalls vergessen darf. Und als ich ihn öffne und über die kommende Woche lese, springt mir ein Datum ins Auge.
Ich klappe das Buch schnell zu und lasse es wieder in meiner Tasche verschwinden.

Verdammt. Wie konnte ich es nur vergessen? Ich fange an, mich selbst dafür zu hassen. Was soll ich jetzt tun?
Es ist 12 Jahre her. Jeden Tag habe ich seitdem an Laura gedacht. Nie ist es mir passiert, dass ich ihren Todestag vergesse. Jedes Jahr bin ich an ihr Grab gefahren. Und nun? In drei Tagen jährt sich ihr Tod zum 12. Mal und ich bin hier in Los Angeles und liebe eine andere Frau.

Was habe ich mir nur dabei gedacht, mich mit Shane einzulassen? Das bin doch nicht ich. Es kann nicht Liebe sein zwischen uns.

Rasch fasse ich einen Beschluss und nehme mein Handy in die Hand, das vor mir auf dem Tisch liegt.

~*~

Shane`s POV:

„Shane, wann machst du endlich den Mund auf und sprichst mit mir?“
Ich bin auf der Arbeit und Alice nervt mich zu Tode. Ich wette, sie hat diesen Termin absichtlich vereinbart, nur um mich auszuhorchen.

„Es gibt nichts zu erzählen“, sage ich schlicht.
Irgendwie macht es mich selbst traurig, dass ich sie so aus meinem Gefühlsleben ausschließe. Alice war immer eine gute Freundin. Und auch, wenn sie eine richtige Tratschtante ist, hat sie dennoch, wenn es darauf ankommt, die Fähigkeit, zuzuhören und dichtzuhalten.
Trotzdem schaffe ich es nicht, mich ihr zu öffnen.

„Das stimmt nicht.“ Ich kann die tiefe Traurigkeit deutlich in ihrer Stimme hören.
„Shane … niemand kennt dich. Niemand weiß etwas über dich und deine Vergangenheit, die du so sorgfältig vor uns verbirgst. Doch denkst du nicht manchmal, dass du jemanden brauchen könntest, der dir zuhört? Einen Freund, der alles über dich weißt und dir dabei helfen kann, mit dir selbst klarzukommen? Denn das denke ich nämlich. Ich denke, du hasst dich manchmal selbst … aus Gründen, die ich nicht kenne. Die niemand kennt. Du kannst nicht dein ganzes Leben lang vor deinen Gefühlen und deiner Vergangenheit weglaufen.“

Ihre Worte treffen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich stehe da und weiß nichts zu sagen.
Hat sie Recht mit dem, was sie sagt?

„Al ….“
„Du musst nichts sagen, Shane. Denk einfach mal darüber nach.“
Und dann steht sie auf, mit nassen Haaren, und geht hinaus.

~*~

Anna`s POV:

Ich wähle eine bekannte Nummer.
In Deutschland ist es halb 10 abends und um diese Zeit sind meine Eltern für gewöhnlich noch wach.

Der Piepton ertönt ein paar Mal und dann meldet sich meine Mutter.
„Hallo, Mama.“
Sie ist überrascht. „Anna?“
Ich bin es schon fast nicht mehr gewöhnt, dass man meinen Namen so „deutsch“ ausspricht.
„Ja, ich bin es.“ Und Deutsch zu sprechen, ist mir ebenso fremd geworden.
„Das ist ja eine Überraschung. Du hast ja schon ewig nicht mehr angerufen. Wie geht`s dir da drüben?“
„Gut, es … geht mir gut, ehrlich.“
Ich seufze kurz in mich hinein. „Mama, eigentlich rufe ich an, um dir zu sagen, dass ich morgen für ein paar Tage nach Hause komme. Mein Flugzeug geht noch heute Abend.“
„Wirklich? Oh Schatz, es freut mich so, das zu hören. Ich habe dich ja so vermisst. Sollen wir dich vom Flughafen abholen?“
„Ja, das wäre lieb. Danke.“
„Wann landest du denn?“
„Das weiß ich noch nicht. Ich schicke dir eine Mitteilung, sobald ich es sicher weiß. Ich nehme mal an, so auf 14 Uhr.“
„Okay.“
Ich sage meiner Mutter, dass ich noch ein paar Dinge zu erledigen hätte, bevor ich zum Flughafen gehe und verabschiede mich.
Dann wähle ich erneut.

„Alice Pieszecki.“
„Hallo Alice, hier ist Anna.“
„Hi, Ann. Was gibt`s?“
„Sag mal, hast du heute Nachmittag schon was vor?“
„Nein, nicht dass ich wüsste.“
„Konntest du mich zum Flughafen fahren? So um halb 4?“
„Ähm … ja, klar. Wohin fliegst du?“
Ich wusste, dass das kommt. Ich vertröste sie auf später.

Ich bezahle meine Rechnung im Planet und mache mich auf den Nachhausseweg.
Dort angekommen, nehme ich meinen Koffer aus und verstaue die nötigsten Sachen darin: Klamotten, Zahnbürste und Geschenke für meine Patenkinder, die ich eigentlich mit der Post schicken wollte.

Dann räume ich schnell noch etwas auf. Ich hasse es, wegzugehen, ohne dass das Haus sauber ist.

Ich sehe auf die Uhr. Viertel vor 1.
Nachdem ich im Internet nach Flügen nach Deutschland gesucht habe, nehme ich meinen Schlüssel und steige ins Auto.
Dann fällt mir etwas ein. Ich nehme noch einmal mein Handy und wähle.
„Alice Pieszecki.“
„Hey Al, ich bin es noch mal. Anna.“
„Hi.“
„Al, kannst du den Weg zu Shanes Wohnung beschreiben?“

~*~

Shane`s POV:

Ich liege auf meinem Bett und starre an die Decke. Als Worte geben mir immer noch zu denken. Und ich komme langsam aber sicher zu dem Schluss, dass sie mit dem, was sie sagte, nicht ganz Unrecht hat.
Um mich herum liegen von Blut durchnässte Taschentücher. Dieses verdammte Nasenbluten bringt mich irgendwann noch um.
Ich spüre die Tränen, die mir hochsteigen und weiß nicht, wieso. Warum muss ich in letzter Zeit so oft weinen? Und wieso verletzte ich Anna derart? Ich liebe sie doch. Und trotzdem schaffe ich es nicht, mich bei ihr zu entschuldigen und gemeinsam mit ihr von dieser beschissenen Drogensucht loszukommen.

Ich bin in Gedanken versunken, als es an meiner Tür klopft und meine Mitbewohnerin herein kommt.
„Shane, du … .“ Sie sieht die blutigen Papiertücher und schaut mich verwirrt an. „Du hasst Besuch.“
Ich wische mir das Gesicht mit meinen Handflächen.
„Wer?“
„Anna.“
Ich erstarre für ein paar Sekunden. Anna? Was kann sie hier wollen? Woher weiß sie überhaupt, dass ich hier wohne?
„Ja … schick sie rein.“

Sie schließt die Tür und ich stehe auf, um die Taschentücher einzusammeln und in den Papierkorb zu werfen. Ich will nicht, dass Ann sie sieht.
Ich setze mich wieder aufs Bett und warte auf sie.

Vielleicht ist es ein Zeichen. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um mich zu entschuldigen. Vielleicht kann ich jetzt alles wieder gut machen. Oder zumindest den ersten Schritt dafür tun.

~*~

Anna`s POV:

Ich betrete Shanes Zimmer. Sie sitzt auf ihrem Bett.
Ich sehe mich im Raum um und stelle fest, dass alles so unglaublich ordentlich aussieht. Man würde vermutlich nicht erwarten, dass Shane eine so ordentliche Person ist.
Ihr Zimmer gefällt mir. Sie hat Geschmack.
Dann erinnere ich mich, wieso ich hergekommen bin.

„Shane, ich muss mit dir reden.“
„Ann, es tut mir Leid!“, platzt sie heraus. „Es tut mir so schrecklich Leid. Ich weiß nicht … ich wollte nicht …“.
Sie fängt an zu weinen und es bricht mir das Herz.
„Ann, ich weiß, dass ich … ein Drogenproblem habe, aber … aber bevor ich dich kennen gelernt habe, hatte ich … einfach keinen Grund, aufzuhören, verstehst du?“
Ich sehe sie an.
„Shane … es geht nicht, okay? Es geht einfach nicht. Nicht so.“
„Was? Was meinst du damit, es geht nicht?“
„Das mit uns. Ich …“.
„Nein! Ann, nein. Sag, dass das nicht wahr ist. Bitte sag mir, dass das verdammt noch mal nicht wahr ist! Ich brauche dich, ich … ich liebe dich! Das kannst du nicht machen!“
„Doch, Shane, ich kann. Ich fliege heute noch nach Deutschland zu meinen Eltern. Ich weiß noch nicht, wann ich wieder komme, also …“.
Shane sieht zu Boden. Leise Tränen laufen über ihre Wange. Dann flüstert sie: „Ann, bitte, tu mir das nicht an!“
Ohne noch ein Wort gehe ich hinaus.

~*~

Shane`s POV:

Plötzlich ist die Tür zu und sie ist weg. Ich schaue mich im Zimmer um, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun sollte. Doch alles, was ich sehe, ist versteckt hinter einem Schleier. Ein Schleier aus Tränen.

Das alles kann nicht wahr sein. Wieso ist sie gegangen? Wieso lässt sie mich allein? Jetzt, da ich sie so dringend brauche?

Ich realisiere, dass ich hier nicht bleiben kann und gehe hinaus. Ich setze mich in mein Auto und fahre zu Bette.

~*~

Anna`s POV:

Sie so zu sehen, war einfach schrecklich. So verletzlich. So gebrechlich.
Ich hoffe, dass sie darüber wegkommt. Irgendwann.
Ich lasse den Wagen an und fahre nach Hause.

„Ich brauche dich, ich … ich liebe dich!“
Ihre Worte klingen immer noch nach. Sie liebt mich, sagte sie. Und ich weiß, dass es stimmt. Ich weiß ebenfalls, dass auch ich sie liebe.
Und trotzdem geht es nicht. Ich liebe Laura. Immer noch. Ich werde niemals aufhören, sie zu lieben. Niemals.

Mit dem, was ich die letzten Wochen getan habe, verriet ich Laura. Zumindest kommt es mir so vor, vielleicht ist es gar nicht so. Und dennoch kann ich nicht weiter leben, ohne dass ich mich schuldig fühle. Ich kann mich nicht auf eine Beziehung einlassen und gleichzeitig immer nur daran denken, wie es mit Laura wäre. Wie es sein würde, wäre sie noch da.

Ich seufze und halte vor dem Haus. Allzu lange kann es nicht dauern, bis Al da ist.

~*~

Bette`s POV:

Ich stehe in meiner Küche und setze Kaffee auf. Tina ist nicht da. Sie arbeitet gerade an einem wichtigen Sozialprojekt, das ziemlich viel Zeit in Anspruch nimmt. Sie ist momentan kaum noch zu Hause. Ich dagegen kann ausspannen, denn alle Arbeit für „Provocations“ ist getan. Zum Glück. Die Berge von Arbeit drohten mich zu ersticken.

Es klingelt. Ich laufe zur Tür und öffne sie. Und was ich sehe, schockiert mich zutiefst.
Shane steht da. Wie ein Häufchen Elend. Verheulte Augen. Ihr schwarzes Make-up verschmiert über dem ganzen schönen Gesicht. Sie hält sich am Türrahmen fest und sieht aus, als ob sie jeden Moment zusammen bricht.

„Shane, um Gottes Willen, was ist passiert?“
Sie fängt an zu weinen.
„Bette, sie … sie ist weg. Sie hat mich verlassen.“
Ich muss nicht fragen, wer. Stattdessen nehme ich sie in die Arme.
„Komm erst mal rein. Komm …“.
Sie schluchzt und ich führe sie zum Sofa.

Ich habe Shane noch nie so gesehen wie in der letzten Zeit. Und ich habe Angst um sie. Ich habe um sie mehr Angst als um jeden anderen, denn sie ist für mich immer wie eine kleine Schwester gewesen. Mehr sogar: fast wie eine Tochter.

„Willst du drüber reden?“
Sie schüttelt mit dem Kopf. Hatte ich tatsächlich erwartet, dass sie darüber sprechen will? Nein. Shane McCutcheon redet nicht.
Ich setze mich zu ihr aufs Sofa. Sie streift ihre Schuhe ab und legt die Beine hoch. Legt ihren Kopf in meinen Schoß. Etwas daran rührt mich und bringt mich fast zum Weinen. Ich streiche über ihr zerzaustes Haar und fange an, das Lied zu singen, das mir mein Vater früher immer vorgesungen hat, wenn ich nicht einschlafen konnte.

~*~

Anna`s POV:

„Hi, Al.“
„Hallo, Ann. Bist du fertig?“
Ich nehme meinen Koffer und meine Handtasche und gehe mit Alice zu deren Wagen.
Wir schaffen es, den riesigen Koffer auf dem Rücksitz des Mini Coopers zu verstauen und sie fährt los.

Eine ganze Weile kann Alice ihren Mund halten, doch dann bricht es aus ihr heraus.
„Warum gehst du nach Deutschland?“
Eindeutig die falsche Frage.
„Um Abstand zu gewinnen.“
„Von Shane? Habt ihr euch gestritten?“
„Wir haben uns getrennt.“
Das reicht für Al aus, um gast einen Fußgänger umzufahren.
„Was?“
„Ja. Ich … ich habe mich von ihr getrennt, um ehrlich zu sein.“
„Wieso?“
„Al … sei mir bitte nicht böse, aber ich glaube wirklich nicht, dass es dich was angeht.“
Alice sieht kurz zu mir rüber.
„Okay, hör zu. Vielleicht hast du Recht. Vielleicht geht es mich wirklich nichts an. Aber Shane ist meine Freundin. Ich spüre, dass sie dich liebt. Und ich will nicht, dass sie noch einmal verletzt wird.“

Ich habe keine Lust, irgendetwas zu antworten. Die ganze Fahrt über reden wir kein Wort mehr miteinander.
Am Flughafen „John Wayne“ angekommen, steigen wir aus und holen den Koffer aus dem Auto.
„Wann wirst du wieder kommen?“, fragt Alice dann.
„Bald. Ich weiß noch nicht genau. In ein, zwei Wochen vielleicht.“
Alice nickt mit dem Kopf. Dann kommt sie zu mir und umarmt mich. Ich bin froh, nicht im Streit weggehen zu müssen.

~*~

Bette`s POV:

Shane schläft. Endlich. Sie liegt noch immer in meinem Schoß. Ich habe eine Decke über sie gelegt.
Ich höre den Schlüssel im Schloss und wenig später kommt Tina ins Wohnzimmer. Sie sieht Shane und schaut mich fragend an. Ich flüstere kaum vernehmlich: „Ann hat sie verlassen.“
Tina sieht schockiert aus. Dann fasst sie sich wieder.
„Ich mache uns etwas zu essen.“
Ich nicke und sehe ihr zu, wie sie in die Küche geht. Dannlege ich meinen Kopf zurück für ein kleines Nickerchen.

-----

„Soll ich dich ausziehen oder willst du es selbst tun?“

Die Angst steht ihr förmlich im Gesicht geschrieben. Er kommt auf sie zu und drückt sie an die Wand.
„Du sollst dich ausziehen, habe ich gesagt.“

Er lässt sie los und ihr Kopf sackt nach unten. Sie kann die Tränen der Angst nicht mehr länger zurückhalten.
„Marcus, bitte tu das nicht. Bitte!“ Sie flüstert.

Ehe sie sich versieht, schlägt er ihr ins Gesicht und sie fällt zu Boden.
Dann öffnet er seine Hose …

-----

„Nein, Marcus, bitte! Nein! Neeeeiiiin!“
„Shane. Shane, wach auf.“
Tina kommt aus der Küche gerannt.
„Marcus. Nein. Aaaaah!“

Shane schlägt um sich. Sie trifft mit der Hand mein Gesicht und mein Griff um sie lockert sich. Sie fällt hart zu Boden.
„Shane, beruhige dich.“
Tina beugt sich über sie. Doch Shane rollt sich zusammen wie ein Fötus im Mutterleib und hält ihre Hände vors Gesicht. Ich ignoriere den Schmerz unter meinem rechten Auge und knie mich neben sie. Lege meine Hand auf ihre Schulter.

„Lass mich in Ruhe. Bitte, Marcus, tue es nicht noch mal. Bitte. Bitte!“
Tina sieht mich an. Dann wendet sie sich wieder zu Shane.
„Shane. Hey, wir sind es. Bette und Tina. Bitte beruhige dich.“

Endlich scheint sie aufzuwachen und sich zu besinnen. Sie nimmt langsam die Hände vom Gesicht und sieht uns an. Ihre Nase blutet.
„Bette …“.
Sie setzt sich auf. Ich nehme sie in die Arme.
„Ich bin da, Honey.“

„Soll ich den Arzt rufen?“, fragt Tina und streicht Shane durchs Haar. Ich spüre, wie Shane in meinen Armen zusammenzuckt und anfängt zu zittern. Anscheinend ist sie unfähig zu sprechen, aber ich weiß, dass sie das nicht will.
„Nein. Ich werde mich um sie kümmern … Shane, komm hoch. Ich bringe dich ins Bett.“

Ohne sich zu weigern, steht sie auf und lässt sich mit wackeligen Beinen ins Schlafzimmer führen.
Ihre Nase blutet noch immer. Es scheint ihr egal zu sein. Ich nehme Taschentücher aus dem Schrank und gebe sie ihr.
Sie setzt sich auf die Bettkante und stützt sich mit ihren Händen auf.
„Bette.“
„Ja, Shane.“
Sie hebt ihren Kopf und sieht mich an.
„Bette, es ist Zeit, dir etwas zu erzählen …."

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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 Betreff des Beitrags: Re: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:24 
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Kapitel 10.1


Shane`s POV:

„Bette, es ist Zeit, dir etwas zu erzählen.“

Sie sieht mir tief in die Augen. Ich schaue auf meine Knie und drücke mir das Taschentuch an meine Nase, die längst nicht mehr blutet.
Sie nimmt meinen Kopf in beide Hände und zwingt mich, sie anzusehen.
„Shane, du kannst mir alles sagen.“

Ich würde ihr so gerne alles sagen. Aber meine Angst hindert mich daran.
„Das … tut mir Leid, das … mit … deinem Auge. Ich wollte nicht, dass ….“
„Shane, wir beide wissen, dass dies nicht das ist, was du mir erzählen wolltest.“
Verdammt. Warum nur habe ich überhaupt damit angefangen? Jetzt muss es raus. Ich kann nicht lügen.

Bevor ich etwas erwidern kann, bohrt sie weiter.
„Shane, du kannst dich nicht dein ganzes Leben verschließen. Du bist auch nur ein Mensch. Und Menschen müssen reden. Menschen wollen verstanden werden, auch du. Ich will dich nicht zwingen, mir etwas über dich zu erzählen. Aber ich will, dass du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für dich habe. Und ich denke, manchmal könntest du ein solches gut gebrauchen, oder etwa nicht?“
Ich nicke, kaum merklich, und sehe zu Boden.

~*~

Bette`s POV:

Wenn sie doch nur endlich reden würde. Ich sehe, dass sie leidet. Ich sehe, dass es aus ihr heraus will. Und ich sehe die Mauer, die sie über die Jahre gebildet hat, anfangen zu bröckeln.
Sie öffnet den Mund, aber spricht nicht. Sie schließt die Augen und beißt sich auf die Lippe. Dann sieht sie mich an.

„Bette“, sagt sie leise. „Kannst du dich noch daran erinnern, wie ich dir erzählte, dass meine Mutter mich weggab und ich deswegen in Pflegefamilien aufgewachsen bin.“

Das sagte sie einst. Da war dieser eine Tag. Das einzige Mal, dass sie sich mir öffnete. Nachdem ich sie aus dem Rotlichtmilieu gerettet hatte.
„Ja, ich erinnere mich.“

„Weißt du, Bette, ich habe mich in keiner Familie richtig wohl gefühlt. Da waren die reichen Molders. Sie hatten keine anderen Kinder und haben mir buchstäblich alles in den Arsch geschoben. Doch ich war nie der Typ dafür, Dinge zu nehmen. Ich habe nicht zu ihnen gepasst, deswegen haben sie mich fort geschickt.“
Sie sieht wieder zu Boden und ich fühle, wie die Erinnerung sie langsam überwältigt. Ich erwidere nichts, um ihr nicht den Mut zu nehmen, weiterzureden.

„Dann kam ich in eine andere Familie. Auch sie hatten keine Kinder. Mein Pflegevater war brutal. Er hat seine Frau fast täglich geschlagen, ohne jeglichen Grund. Eines Tages ist ihm die Hand auch bei mir ausgerutscht. Ich war 11, glaube ich.“
Eine einzelne Träne rollt über Shanes Wange. Ich wische sie mit meiner Handfläche weg.

„Gleich danach nahmen mich die Scallers auf. Am Anfang habe ich mich eigentlich recht wohl gefühlt. Doch nach ein paar Wochen wurde Candra, meine Pflegemutter, überraschend schwanger und als das Baby da war, interessierte sich niemand mehr für mich. Ich war nicht eifersüchtig auf dieses Baby, dafür war es viel zu süß. Aber ich fühlte mich wie das fünfte Rad am Wagen. Ich gehörte nicht mehr dazu.“

Shane macht eine Pause. Ich weiß, dass sie überlegt, ob sie weiterreden soll. Ich hoffe, sie tut es.

~*~

Shane`s POV:
Noch immer habe ich schwer mit mir zu kämpfen. Ein Teil von mir sagt mir, dass ich alles für mich behalten soll. Doch der andere weiß, dass ich es nicht länger ertrage. Ich verkrafte das alles nicht mehr.

Ich atme einmal tief durch und erzähle weiter.
„Die letzte Pflegefamilie, mit der ich lebte, war einfach toll. Ich habe sie geliebt. Meine Pflegemum hieß Christine und sie war ein Engel. Ihr Mann Tom war ein liebevoller Vater. Die Eltern, wie ich mir meine eigenen immer vorgestellt haben. Ich erinnere mich, wie freundlich mich meine Geschwister aufgenommen haben. Sarah, Johnny und die kleine Claire, die alle nur >Cake< nannten. Ich habe nie gefragt, wieso.
Das Tolle an dieser Familie war, dass sie mich alle so akzeptierten, wie ich war. Sie ließen mir meine Ruhe, wenn ich Abstand brauchte. Sie haben mich nie zum Reden gedrängt, sondern immer darauf gewartet, bis ich von alleine anfing. Sie haben es mir nicht übel genommen, dass ich nichts oder nicht viel von ihnen annehmen will. Dass ich mir meinen Besitz selbst verdienen will.
Christine und Tom waren nicht reich. Sie waren eine durchschnittliche amerikanische Familie. Sie haben nie gestritten, und wenn, dann haben sie es ziemlich gut vor ihren Kindern verborgen.
Ich dachte wirklich, ich könnte bei ihnen glücklich werden.“

~*~

Bette`s POV:

Wieder hält sie inne. So viel wie in den letzten Minuten hat Shane in der ganzen Zeit, in der ich sie kenne, nicht von sich erzählt. Und es macht mich glücklich und vielleicht auch ein wenig stolz, dass ich diejenige bin, der sie sich anvertraut.

„In der Nachbarschaft gab es einen Jungen. Marcus. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden und wurden beste Freunde. Er war älter als ich, aber wir hatten viel Spaß zusammen. Manchmal spielten Johnny, Sarah, Marcus und ich zusammen, Claire war noch zu klein. Aber meistens verbrachte ich meine Zeit mit Marcus alleine.
Mein Glück war perfekt. Ich hatte eine Familie, die mich liebte und einen besten Freund.
Doch dann geschah etwas und die Erinnerung daran verfolgt mich bis heute. Ich war 14.“

Sie sieht blass aus. Und sie zittert. Ich rutsche näher an sie heran und versuche, ihr Geborgenheit zu geben.
„Was ist passiert?“

Noch einmal schließt sie die Augen. Als sie sie wieder öffnet, fängt sie an zu erzählen.
„Marcus und ich waren wie so oft in der Scheune hinter dem Haus und saßen auf einem Holzbalken. Wir saßen nur so da. Ich hatte nicht das Bedürfnis zu reden. Es war ein schöner Tag und dann … dann sagte mir Marcus, dass er sich in mich verliebt hätte. Ich war geschockt. Ich habe es nicht verstanden. Nicht damals. Ich dachte nur: Wir sind beste Freunde, es ist alles gut, so wie es ist. Ich wollte ihn als Kumpel nicht verlieren. Ich erzählte ihm schließlich, dass ich lesbisch sei. Zuerst glaubte er mir nicht und dann…“.

Die Angst steht ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Ich schaffe es nicht, sie ihr zu nehmen.
Sie zittert immer noch. Dann fängt sie an zu weinen. Es ist so traurig, so bitter, sie so zu sehen. Sie so zu sehen, wie ich sie niemals sah. Wie sie sich nie hat sehen lassen.
Ich befürchte, dass sie ihre gebrochenen Mauern um sich herum gleich wieder aufrichtet und lege meinen Arm um sie, um dies zu verhindern.
Plötzlich fährt sie fort.
„Er fing an, mich zu schlagen. So fest, dass ich zu Boden fiel. Ich fiel so hart und schlug mich am Kopf, dass es mir schwindelig wurde. Ich konnte nicht mehr richtig sehen, alles war verschwommen. Ich war starr vor Angst. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Und Marcus … er schlug mich immer weiter. Meine Nase blutete, meine Augen waren geschwollen. Ich wollte nur noch da raus. Aber ich war nicht in der Lage, mich zu bewegen. Ich konnte mich einfach nicht regen.“

Gebannt höre ich ihr zu. Wie kann das sein? Mein Herz bricht in diesem Moment für Shane.

„Immer wieder sagte er: >Das wirst du mir büßen. Ich gestehe dir meine Liebe und was machst du? Du wirfst mich einfach weg.< Ich schrie, dass es mir Leid tue und dass er aufhören solle. Immer wieder und immer wieder. Und dann tat er es. Er …“
Sie atmet tief ein.
„Er vergewaltigte mich.“

~*~

Shane`s POV:

Jetzt ist es also raus.
Doch war es die richtige Entscheidung, es Bette zu sagen? Schon bereue ich es, dass ich mein Schweigen gebrochen habe.

Ich hebe meinen Kopf. Bette sitzt neben mir und starrt mich an. Ihre Augen scheinen mich fast zu durchdringen. Was soll ich noch sagen?

„Bette, ich … es … .“
Ich kann die Tränen erneut nicht zurück halten und Bette, die in einer Art Trance zu sein schien, kehrt zur Realität zurück.

„Mein Gott, Shane. Shane, komm her.“

~*~

Bette`s POV:

Ich halte sie fest in meinen Armen. Sie lässt ihren Tränen freien Lauf.

Ich mache mir Vorwürfe. Warum habe ich es nicht früher bemerkt? Warum habe ich sie nicht gleich über ihre Vergangenheit ausgequetscht?
Was muss dieses Mädchen in meinen Armen schon alles durchgemacht haben?

„Shane, warum hast du das nicht früher gesagt? Du hättest mir alles sagen können. Vielleicht hätte ich dir helfen können.“
Sie sagt nichts. Weint weiter.
„Verdammt noch mal, Shane. Warum willst du immer alles mit dir selbst ausmachen? Wieso willst du dir von nichts und niemandem helfen lassen?“

~*~

Shane`s POV:

Langsam bin ich es leid, dass man mir Vorhaltungen macht. Erst Alice, jetzt Bette.

Sie klingt wütend. Und damit verletzt sie mich. Vielleicht mehr als sie denkt. Ich schütte ihr mein Herz aus und was macht sie? Sie hat nichts als Vorwürfe für mich übrig.

Ich weine umso mehr.

„Nein, Shane, nein. So war das nicht gemeint. Ich … ich weiß nur nicht, was ich tun soll. Ich möchte dir so gern helfen, weißt du?“

~*~

Bette`s POV:

Sie sieht zu mir hoch.
„Du hilfst mir schon genug, Bette.“

Wenn ich Shane so sehe, so verletzlich, dann möchte ich nichts lieber tun, wie diesen Kerl … diesen Marcus ausfindig machen und ihn zu Brei schlagen.
Wie kann er das ihr, meiner kleinen Shane nur antun?

„Komm, Shane, leg dich hier hin. Ruh dich aus.“
Wir legen uns Seite an Seite aufs Bett. Ich werfe die Decke über sie.
Ich kann sie jetzt nicht allein lassen.

Plötzlich spricht sie weiter.
„Irgendwann bin ich in dieser Scheune aufgewacht. Ich war nackt. Hatte überall blaue Flecken. Mir tat alles weh, besonders mein Hinterkopf. Ich glaube, ich hatte eine Gehirnerschütterung. Mein Gesicht war blutüberströmt. Ich hatte Mühe aufzustehen. Zu laufen.“
Sie macht eine kleine Pause.
„Noch in derselben Nacht bin ich abgehauen.“
„Mein Gott, Shane. In deinem Zustand? Ich … was dir alles hätte passieren können.“
Jetzt läuft auch über meine Wange eine einsame Träne.

„Ich bin nach West Hollywood getrampt. Dort lernte ich Clive kennen. Und Clive brachte mir das bei, mit dem ich mir meinen Unterhalt verdiente, bis du mich da rausgeholt hast. Ich bin dir dankbar dafür.“

~*~

Shane`s POV:

Sie lächelt schwach. Dann wird ihr Gesichtsausdruck wieder ernst.
„Shane, die Sache mit den Drogen …“.

Ich wusste, dass dies kommen würde. Und ich beschließe, dieses Mal einfach die Wahrheit zu sagen.
„Bette, mich plagen diese verdammten Alpträume. Ich wache schweißgebadet auf und kann nicht mehr schlafen. Das H hilft mir, zu schlafen, verstehst du das nicht?“

„Wie lange nimmst du schon Heroin?“
„Ich habe damit angefangen nach der … nach der Vergewaltigung. Weißt du, ich glaube, ich hätte diese Zeit nicht überlebt, wenn ich mich nicht mit Drogen vollgepumpt hätte. Ich habe es irgendwie geschafft, davon loszukommen. Aber als Cherie mich verlassen hat, da … konnte ich nicht anders.“
„Aber Shane, das ist keine Lösung. Du kannst so nicht weiter leben. Ich mache mir Sorgen um dich. Wir alle machen uns Sorgen um dich.“

Wer macht sich schon Sorgen um mich?
Meine eigene Mutter hat mich verlassen. Genauso wie mein Vater.
Mein bester Freund hat mich vergewaltigt.
Cherie … ich habe sie geliebt und sie hat mich nur als Spielzeug benutzt.
Und jetzt Anna. Wieso hat sie mich verlassen?
Warum lassen mich alle im Stich?

~*~

Bette`s POV:

Sie fängt wieder an zu weinen. Ich merke, dass wir heute nicht mehr weit kommen. Sie ist zu erschöpft.
„Versuch, ein wenig zu schlafen, okay?“
Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Bette, bitte bleib hier.“ Sie hat die Augen geschlossen, doch in ihrer Stimme höre ich die Angst.
„Shane, das werde ich. Mach dir keine Sorgen.“

Ich bleibe bei ihr, bis ihre Atmung ruhig und gleichmäßig ist.
Ich sehe sie noch lange Zeit an. So ein unglaublich wunderbares Mädchen und so eine düstere Vergangenheit.
In diesem Moment wünsche ich mir, ich könnte all ihr Leid auf mich nehmen und sie von ihren Qualen befreien.


Kapitel 10.2


Anna`s POV:

Am Flughafen angekommen, habe ich meinen Koffer geholt und steuere jetzt mit meinem Gepäck auf den Ausgang zu. Schon von weitem sehe ich meine Eltern, die mir lachend zuwinken.
Ich winke zurück und gehe auf sie zu.

Ich nehme meine Mutter in den Arm und begrüße sie.
„Hey Mama, ich hab euch wirklich vermisst.“
„Wir haben dich auch vermisst, Schätzchen.“
Dann drehe ich mich um und umarme meinen Vater.
„Hallo Anna, du bist groß geworden“, lacht er.
„Dad, hör auf damit. Ich bin nicht größer als beim letzten Mal.“
„Ich weiß, ich wollte nur diesen Satz sagen.“
Wir lachen alle. Mein Vater nimmt den Koffer und wir gehen hinaus zum Parkplatz, auf dem das Auto steht.

„Erzähl doch mal, wie ist es in den Staaten?“
„Weißt du, Mama, es ist toll! Ich fühle mich wirklich wohl da drüben. Versteh mich nicht falsch, Deutschland ist und bleibt meine Heimat, aber Los Angeles ist einfach … ich habe keine Ahnung, wie ich mich ausdrücken soll.“
„Ja, ich weiß, Anna. Du wolltest dort hin ziehen, seit wir das erste Mal da waren. Wie lange ist das her?“
„Meine Güte, das sind fast 20 Jahre.“
„So lange? Ich kann es fast nicht glauben, dass es schon so lange her ist. Du warst ein kleines Mädchen.“
Ich erinnere mich. Ich war 7 beim ersten Mal. Mein Vater hatte geschäftlich in Orlando zu tun. In Florida. Meine Mutter und ich sind mit gekommen. Die erste Woche haben wir zu zweit dort verbracht, weil Dad arbeiten musste. Wir waren im DisneyWorld, im GatorLand, sogar im Kennedy Space Center, wo wir den Start eines Space Shuttles gesehen haben. Es war toll. Und in der zweiten Woche sind wir alle zusammen nach Miami gefahren und später nach Key West, also in den letzten Winkel Floridas. Ich werde nie die Sonnenuntergänge dort vergessen. Sie waren so wunderschön.

Drei Jahre später waren wir noch einmal dort. Dieses Mal sind Mom und ich erst angereist, als Daddy schon mit arbeiten fertig war. Wir hatten 2 Wochen zu dritt.

Einmal waren haben meine Mutter und ich Dad zu einer Geschäftsreise nach Dallas, Texas begleitet. Es war ziemlich heiß, aber genau das war es, was ich so liebte. Die Hitze. Die 40 Grad im Schatten. Jeden Tag.
Ich glaube, ich war 14.

In dem Jahr, in dem Laura starb, war ich in den Sommerferien in Kalifornien. Es war eine Art Sprachreise. Und es war die schönste Reise, die ich je gemacht habe. Ich wusste, dass ich irgendwann dort hin gehen würde. Nach Kalifornien. Ich wusste von dem Tag an, an dem ich aus dem Flieger stieg, dass ich irgendwann dort leben würde.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich mit Laura zusammen dort ein neues Leben anfangen würde. Und ich fand immer mehr Gefallen an diesem Gedanken.

Es sollte nicht sein. Ein paar Monate darauf, genau genommen drei, hatte Laura diesen grausamen Autounfall und starb.

„Anna?“
Ich schrecke aus meinen Gedanken. Meine Mutter sieht mich an.
„Was?“
„Geht es dir nicht gut?“
„Doch. Doch, es ist nur … ich habe mich an die USA-Reisen mit euch erinnert.“
Mom lächelt.
„Und, was ist mit der Liebe? Hast du einen Freund?“
Ich schaue sie verärgert an. Warum kann sie es nicht akzeptieren, dass ich lesbisch bin? Warum kann sie mich nicht einfach hinnehmen, so, wie ich bin?
„Mama, ehrlich gesagt, habe ich gestern mit meiner Freundin Schluss gemacht.“
Sie dreht sich um und sieht aus dem Fenster. Mein Vater schenkt mir einen missbilligenden Blick.
Den Rest der Fahrt bleiben wir stumm.

-----

Ich sehe mich in meinem alten Zimmer um. Es hat sich nichts verändert. Alles steht noch an dem Platz, an dem ich es zurück gelassen habe.

Ich lege mich aufs Bett und starre an die Decke.
Warum können sie es nicht einfach akzeptieren? Diese Frage stelle ich mir immer wieder.
Wieso behandeln sie mich in Bezug auf dieses Thema wie eine Kriminelle? Ich kann nichts dagegen machen, dass ich auf Frauen stehe. Und selbst wenn, ich würde gar nichts ändern wollen. Ich bin zufrieden mit meinem Lebensstil.

Ich denke an Shane. Ich weiß, wie sehr ich ihr mit meinem Verhalten wehgetan habe. Ich bin gegangen, obwohl sie mir beweisen wollte, dass sie sich ändern kann und will. Ich habe sie angelogen. Und es tut mir so unendlich leid.
Ich hoffe, dass sie darüber weg kommt. Und ich hoffe, dass sie bald nicht mehr leidet. Ich will sie nicht leiden sehen.

Ich bin müde. Jetlag. Eigentlich könnte ich auf der Stelle einschlafen.
Aber wenn ich schon da bin, muss ich dem Rest meiner Familie schon einen kleinen Besuch abstatten. Schließlich sieht man sich nicht alle Tage.
Ich stehe auf und mache mich fertig.

-----

Ich habe mich riesig gefreut, meine beiden Patenkinder wiederzusehen. Und sie wiederum haben sich riesig gefreut, mich zu sehen. Gut, vielleicht war es auch nur wegen den Geschenken, die ich ihnen mitgebracht habe…
Aber sie sind so groß geworden. Oder bin ich nur alt geworden?
Das Treffen mit den beiden Kindern hat mich jedenfalls wieder aufgefrischt. Belebt. Kinder sind etwas Tolles.
Doch gleichzeitig fühle ich mich auch sehr ausgelaugt. Es war trotz allem ein anstrengender Nachmittag.

Ich wünsche meinen Eltern eine gute Nacht und lege mich ins Bett. Lange denke ich nach. Über Shane.
Und über Laura. Morgen vor 12 Jahren ist sie von mir gegangen. Es ist schon so lange her. Und trotzdem kommt es mir so vor, als wäre es gestern gewesen.

-----

Am nächsten Morgen …

Ich öffne die Augen und strecke mich in den Tag.
Irgendwie tat es gut, mal wieder in meinem alten Bett zu schlafen.

Ich genieße die Sonne, die mir ins Gesicht scheint, obwohl es schon Anfang November ist.
Und dann realisiere ich, welcher Tag heute ist. Der Tag, an dem sich vor 12 Jahren mein ganzes Leben verändert hat. Der Tag, an dem ich das verlor, was mir am wichtigsten war.

Ich fühle mich unwohl. So verlassen. So allein. Genauso fühlte ich mich vor 12 Jahren. Ich kann mich noch sehr detailliert an alles erinnern.

~~~~~

Anna saß in ihrem Zimmer und las ein Buch. Sie hatte es von ihrer Cousine zum 16. Geburtstag bekommen.

Es war Samstag. Anfang November. Es war kalt und für diese Zeit gab es ungewöhnlich viel Schnee.

Anna erwartete Besuch. Laura hatte sich angekündigt.
Laura… ihre Freundin.
Aber nicht irgendeine Freundin. Nein, es war ihre Freundin. Und das seit über einem Jahr.

Anna war glücklich. Sie war glücklich, obwohl niemand außer Laura dieses Glück mit ihr teilen konnte. Und trotzdem empfand sie in Lauras Nähe Geborgenheit und das Gefühl, verstanden zu werden.

Anna lächelte, als der Anruf kam. Der Anruf, der ihr ganzes Leben mit einem Schlag ändern sollte.

Sie hob ab.
„Anna?“
„Oh, hi, Elli! Was gibt`s?“
Elena war eine gute Freundin von Laura. Sie wusste wie jeder andere nichts davon, dass die beiden zusammen waren.
Ihre Stimme klang seltsam aufgeregt und gleichzeitig ruhig.
„Anna, ich muss dir was sagen. Es ist etwas Schreckliches passiert!“

Annas Atem stockte. In diesem Moment wusste sie, dass es etwas mit Laura zu tun hatte.
„Anna? Bist du noch da?“
Sie schrak aus ihren Gedanken und kehrte in die Realität zurück.
„Ja … ja. Was? Was ist geschehen?“
„Es gab einen Unfall“, sagte Elena leise und fing an zu schluchzen.
Anna wurde ungeduldig. „Jetzt sag schon. Was ist passiert, Elli?“
Elena seufzte. „Laura ist tot.“

Es traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Wie ein Messer mitten ins Herz.
Laura. Ihre Laura. Tot. So plötzlich. Das ist nicht wahr.
Sie hörte Elena weiter schluchzen und wusste, dass es die Realität war. Laura würde nie mehr zu ihr zurückkommen.
„Danke, Elli, dass … dass du mir Bescheid gegeben hast.“
Damit legte sie auf.

Da stand sie nun. Mitten im Raum. In der Hand das Telefon. Sie starrt auf den Boden. Unfähig zu denken. Unfähig, sich zu bewegen.
Langsam hebt sie den Kopf und blickt in den Spiegel, der ihr gegenüber an der Wand hängt.

„Ich werde stark sein“, sagt sie zu sich selbst, „ich muss stark bleiben. Niemand soll wissen, dass wir uns so sehr geliebt haben, denn es ist das einzige, was mir von dir bleibt. Deine Liebe. Ich werde sie immer in meinem Herzen tragen.“

~~~~~

Ich sehe mich im Zimmer um und ich bleibe an der Stelle hängen, an der ich damals stand. Mein Blick wandert weiter zum Spiegel. Ich stehe auf und stelle mich davor. Ich sehe mich an und versuche mir das Bild vor Augen zu führen, das ich vor zwölf Jahren in diesem Spiegel sah.
Doch dann realisiere ich, dass ich nicht mehr in diese Zeit zurückkehren kann.

Ich drehe mich um und suche meine Kleidung zusammen. Meine schwarze Kleidung. Die Farbe der Trauer.

-----

Zum Friedhof brauche ich etwa eine Stunde. Ich habe mir das Auto meiner Mutter geborgt und bin gleich nach dem Frühstück losgefahren.

Die Gegend hier ist wunderschön. Es gibt viele Bäume mit Bänken darunter.
Jedes Mal, wenn ich herkomme, versuche ich mir vorzustellen, wie es im Sommer hier aussieht. Und ich komme immer zu dem Schluss, dass es einfach wundervoll sein müsse. Grün. Pure Natur.
Aber ich würde nie auf die Idee kommen, eines Tages im Sommer zum Friedhof zu gehen, wenn alles grün ist.
Nein. Hierher komme ich nur an einem Tag im Jahr. Und heute ist dieser Tag.

Ich steige aus dem Auto und sehe mich um. Das alles erinnert mich an den kleinen Park in Los Angeles. In der Nähe des Planets.
Natürlich stehen dort keine Gräber. Aber die Atmosphäre, die Bäume überall, die Bänken – das alles scheint so vertraut.

Meine Gedanken schweifen zu Shane. Mir geht der Tag durch den Kopf, an dem wir uns zum ersten Mal geküsst haben. In eben diesem Park. Auf der Bank. Es war so wunderschön.

Dann realisiere ich, dass ich an diesem Tag nicht an Shane denken darf. Dieser Tag gehört Laura.
Ich erinnere mich daran, wie ich Laura zum ersten Mal geküsst habe.

Damals wusste ich nicht von meiner Homosexualität. Und trotzdem fand ich Laura immer attraktiv. Immer wollte ich so sein wie sie.
Und eines Tages, es war an einem Tag im Sommer auch in einem kleinen Park in der Stadt, passierte es. Ganz plötzlich.
Laura zog mich zu sich heran und küsste mich.

Bei der Erinnerung daran muss ich lächeln, auch wenn mir nicht danach zumute ist.

Ich öffne das Tor und steuere auf Lauras Grab zu.
Es stehen frische Blumen darauf. Eine Christrose, die im Winter blüht. Lauras Mutter war schon da.
Ich habe keine Blumen dabei. Sie würden ohnehin innerhalb von ein paar Stunden verdorren.

Ich schaue mir den Grabstein an. Er ist rotbraun. Wunderschön. Darauf liegt Schnee.
Ich weiß, dass Laura hier in Frieden ruhen kann.

„Es ist schrecklich, wenn der Herr einen Menschen so früh aus dem Leben nimmt.“
Erschrocken drehe ich mich um. Vor mir steht der Pfarrer in seinem schwarzen Gewand und lächelt mich an. Ich lächle zurück.
So lange schon habe ich keinen Pfarrer mehr gesehen. So lange schon war ich nicht mehr in der Kirche.

„War sie eine Bekannte von Ihnen?“
Ich seufze bei dieser Frage.
„Nein … nein, sie … Sie war meine Freundin.“
Er lächelt weiter. Und ich weiß nicht, warum ich ihm das erzähle.
„Sie war die Liebe meines Lebens.“

Ich erwarte etwas Ähnliches wie eine wütende Predigt über Homosexualität in Assoziation mit dem Bösen. Schließlich ist es für die meisten unchristlich.
Aber nichts dergleichen. Er lächelt nur. Und sein Lächeln ist so warm. Ich fühle mich plötzlich wohl.
Er zeigt auf die Bank neben sich und wir setzen uns nachdem wir den Schnee mit der Hand weggefegt haben.

„Wissen Sie … wenn Gott einen Menschen aus dem Leben nimmt, dann hat dies meistens einen Grund. Er wollte Ihnen damit bestimmt nicht wehtun.“
Ich beiße die Zähne zusammen.
„Das hat er aber.“
„Es tut immer weh, wenn jemand stirbt. Die Vorstellung, diesen jemand nie wieder zu sehen überwältigt uns und zwingt uns in die Knie.“
Ich blicke zu Boden. Dann schaue ich ihn an.
„Ich sehe Trauer in ihren Augen. Unterdrückte Trauer. Lassen Sie es endlich heraus, es wird Ihnen helfen.
Ich beobachte Sie nun schon jahrelang. Jedes Jahr an diesem Tag kommen Sie hierher. Aber ich habe Sie nie weinen sehen.“

Die Aussage, dass er mich jedes einzelne Jahr beobachtet hat, schockiert mich irgendwie.

„Ich kann nicht weinen.“
„Jeder kann weinen. Es ist wichtig zu weinen.“
„Nein.“
Er lächelt wieder. Ich frage mich, warum.
„Sie müssen endlich weiter leben. Sie sind jung und sollten das Leben genießen.“
Er steht auf.
„Es hat mich gefreut.“
Er reicht mir die Hand. Ich nehme sie. Dann geht er davon.

Ich sehe hinüber zum Grab. Der rote Stein. Mit der goldenen Inschrift.
Ich rufe mir Lauras Bild in Erinnerung.
Über meine Wange rinnt eine einzelne Träne.

Kapitel 11


Bette`s POV:

Shane schläft. Endlich.
Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, steige ich aus dem Bett. Ich öffne leise die Tür und gehe ins Wohnzimmer.
Tina sitzt auf der Couch und liest in einer Zeitschrift. Als sie mich sieht, springt sie sofort auf.
„Was ist denn passiert, um Himmels Willen?“

Ich nehme sie an der Hand und wir setzen uns zurück auf das Sofa. Ich seufze.
„Shane braucht wirklich Hilfe, sonst geht sie drauf.“
Tina schaut mich mit großen Augen an. Fragend. Doch wohl wissend, dass ich ihr nichts sagen kann.

„Komm mal her.“
Sie nimmt mich in die Arme. Und es ist genau das, was ich gerade brauche.
„Wir werden ihr helfen, das verspreche ich dir.“
„Ja“, sage ich und schmiege mich noch mehr an sie.

~*~

Shane`s POV:

Schweißgebadet wache ich auf. Wieder so ein schrecklicher Traum.
Es wird mich irgendwann umbringen. Diese Alpträume müssen aufhören.

Ich habe Kopfschmerzen. Aber wenigstens hat meine Nase aufgehört zu bluten.

Ich bin froh, dass Bette bei mir ist.
„Bette?“
Keine Antwort.
„Bette?“
Ich drehe meinen Kopf auf die Seite. Sie ist nicht da. Warum ist sie nicht da? Sie hat mir versprochen, bei mir zu bleiben. Warum hat auch sie mich nun verlassen?
Ich spüre die Panik, die in mir hochsteigt und schreie aus vollem Halse.
„Bette!“

~*~

Bette`s POV:

„Bette!“
Ich schrecke hoch.
„Oh mein Gott!“

Ich stehe blitzschnell auf und renne ins Schlafzimmer. Shane sitzt auf dem Bett und ist blasser denn je.
„Shane … Shane, es tut mir Leid!“
Ich gehe zu ihr und nehme sie in den Arm.
„Warum hast du mich allein gelassen? Warum?“
Irgendwie kommt es mir vor, als wäre sie nicht sie selbst.
„Es tut mir Leid.“

Shane seufzt in meine Schulter.
„Bette.“
Ich sehe sie an und streiche ihr eine Haarsträhne hinters Ohr.
„Ja.“
„Du musst mir helfen.“
Ihre plötzliche Erkenntnis schockiert mich leicht.
„Es kann so nicht weiter gehen.“

Ich nehme sie wieder in die Arme.
„Ja, Shane. Wir werden dir Hilfe beschaffen. Das verspreche ich dir. Und jetzt versuch, noch ein wenig zu schlafen, okay? Ich bin vorne im Wohnzimmer und wenn du mich brauchst, dann ruf nach mir.“
Sie nickt und ich lege sie zurück in die Kissen.
Einen Moment lang schaue ich sie an. Dann gehe ich hinaus.

~*~

Anna`s POV:

Es ist spät in der Nacht. Ich liege auf meinem Bett und denke über die Worte des Pfarrers nach.
„Sie müssen endlich weiter leben. Sie sind jung und sollten das Leben genießen.“
Das hat er gesagt. Und ganz plötzlich war er weg.
Er sagte, dass er mich schon lange beobachtete. Jedes Jahr. Warum habe ich ihn nie bemerkt? Kam er immer nur an diesem einen Tag zum Friedhof, nur um mich zu beobachten?

Ich sollte das Leben genießen. Kann ich das denn? Kann jemand, der die Liebe seines Lebens verloren hat, das Leben genießen? Darf er das?

Ich denke an Shane. Ich glaube, mit ihr könnte ich das. Wir wären glücklich zusammen. Aber da wäre auch immer meine Vergangenheit, die mich daran hindert, glücklich zu sein und mein Leben vollends zu genießen. Ich könnte ihr das nicht antun.
Aber ich habe ihr schon so viel angetan. Ich hoffe, es geht ihr gut. Ich fühle mich so schlecht deswegen, dass ich sie verlassen habe. Und doch konnte ich nicht anders.

~*~

Am nächsten Morgen…

Shane`s POV:

Ich öffne die Augen. Ich sehe mich im Zimmer um. Bettes Schlafzimmer.
Ich fühle mich entspannt, denn es gab keine weiteren Alpträume. Die Nacht war ruhig und nun fühle ich mich einigermaßen fit.

Trotzdem weiß ich, dass ich Hilfe brauche.
Ich werde mich noch heute über Programme in Kliniken informieren, die mich von meiner Drogensucht befreien können.

Ich stehe auf schaue in den Spiegel, der gegenüber vom Bett am Schrank hängt.
Schrecklich, was ich sehe. Ich verfluche mich. Schlimmer, in diesem Moment hasse ich mich.
Ich wische mir die schwarze Farbe mit der Hand vom Gesicht und gehe hinaus.

Bette sitzt mit ihrem Laptop auf der Couch. Als sie mich sieht, stellt sie ihn vor sich auf den Tisch und kommt zu mir. Sie umarmt mich.
„Shane….“
Ich drücke sie fest an mich.
„Danke, Bette.“
„Danke für was?“
„Dass du da bist. Dass du mich unterstützt. Dass du mich verstehst. Danke, dass es dich gibt und dass ich zu den unglaublich Glücklichen gehöre, die dich kennen dürfen. Danke.“
Sie sagt nichts. Ich glaube, sie ist gerührt.

Ich sehe sie an und spüre eine Träne auf meiner Wange.
„Bette, ich habe eingesehen, dass mir geholfen werden muss. Ich werde mir eine Suchtklinik oder so etwas suchen.“
Sie wischt die Träne mit ihrem Handrücken ab und küsst mich auf die Stirn.
„Ich bin stolz auf dich.“

Sie ist stolz auf mich? Sie? Stolz auf mich?
Ich bin überwältigt von ihrer Aussage.
Einmal mehr spüre ich die starke Verbindung zwischen uns. Und einmal mehr fühlt es sich an, als wäre sie die Mutter, die ich niemals hatte.

~*~

Anna`s POV:

Es klingelt an der Haustür. Und wenig später kommt Lisa in mein Zimmer. Mit einem dicken Wollschal um den Hals geschlungen umarmt sie mich herzlich.
„Anna, endlich sehen wir uns mal wieder. Ich hab dich ehrlich vermisst!“
„Ich hab dich auch sehr vermisst! Schön, dass du hier bist! Wie geht`s dir?“

Sie befreit sich von ihrem Schal und ihrer Jacke und wir setzen uns aufs Bett.
„Mir geht`s gut. Bei Jonathan und mir läuft es zur Zeit super!“
Jonathan. Ihr Freund.
„Das freut mich.“
„Aber… Anna, du siehst nicht so gut aus, um ehrlich zu sein.“

Wie schaffen es beste Freundinnen nur immer, in einen hineinzusehen und dessen Gefühle und Stimmungen zu erkennen?
„Es ist nichts. Mir geht es gut.“
Sie zieht die Augenbrauen hoch.
„Ich sehe doch, dass das nicht stimmt.“
Ich seufze.
„Ach Lisa.“

Ich erzähle ihr die ganze Geschichte von Shane und mir und werde dabei zusehends trauriger. Ich bereue es.
„Warum hast du sie dann verlassen?“
Verdammt. Nun muss ich lügen.
„Ich … ich hab das nicht mehr ausgehalten, die ganze … Drogensache!“
„Aber Anna, was hast du dir denn dabei gedacht? Gerade dann hättest du ihr helfen sollen!“
Sie hat Recht.
„Ich weiß, Lisa. Ich weiß.“
Ich seufze und sie nimmt mich in den Arm.
„Ich schlage vor, du fliegst zurück und söhnst dich mit ihr aus.“

Ja, das werde ich. Es ist das einzig Richtige. Ich liebe Shane, das weiß ich mittlerweile.

~*~

Bette`s POV:

Ich wähle die Nummer, die ich vor mir auf einen Zettel gekritzelt habe.
800 434-7365.
„Eisenhower Medical Center. Mein Name ist Lucy Petters. Was kann ich für Sie tun?“
„Hallo. Mein Name ist Bette Porter. Können Sie mir Auskunft über das Programm im Betty Ford Center geben?“
„Einen Moment bitte, da leite ich Sie weiter.“
„Okay.“
Es dauert nur einen Augenblick, bis sich eine andere Frau meldet.
„Ich bin Bette Porter.“
„Hallo, Miss Porter. Was kann ich für Sie tun?“
Es platzt aus mir heraus.
„Eine sehr gute Freundin von mir hat ein Problem mit Drogen. Sie braucht wirklich Hilfe.“ Ich hole tief Luft. „Geld spielt keine Rolle.“
„Um welche Art von Drogen handelt es sich denn?“
„Hauptsächlich Heroin. Aber ich nehme an, dass sie in manchen Fällen alles nimmt, was sie kriegt.“
„Ist ihre Freundin sich denn ihrer Sucht bewusst.“
„Mittlerweile ja. Sie hat eingesehen, dass sie auf professionelle Hilfe angewiesen ist. Und ich will für sie die beste Behandlung.“

Ich gebe ihr meine Adresse, dass sie mir Infomaterial zuschicken kann und mache einen Termin aus.

~*~

Anna`s POV:

„Mama? Papa?“
Ich schaue zur Wohnzimmertür hinein. Meine Eltern sitzen auf der Couch. Bei ihnen sitzt mein Bruder.
„Tochter?“, lächelt mein Vater.
Ich setze mich zu ihnen und sehe sie an.

„Ähm… ich muss euch etwas sagen.“
„Etwas Schlimmes?“ Meine Mutter sieht besorgt aus.
„Nein… nein, nicht direkt.“
Alle sehen mich fragend an.
„Ich… ich fliege übermorgen zurück nach Los Angeles.“

Meine Mutter schaut meinen Vater an, dann mich.
„Aber warum? Ich meine, du bist doch gestern erst gekommen.“
„Wir haben uns so gefreut, dass du kommst.“
„Ich weiß, ich… ich muss einfach zurück. Es geht nicht anders.“
„Warum?“
Ich seufze. Mein Vater wird zusehends wütender.

Doch meine Mutter lächelt plötzlich.
„Aha … geht es bei deiner plötzlichen Abreise vielleicht um einen Mann?“
Ich schenke ihr einen wütenden Blick. Obwohl… wütend ist vielleicht nicht der passende Ausdruck. Eher… enttäuscht.
„Nein, Mama. Um eine Frau“, sage ich und gehe in mein Zimmer.

~*~

Shane`s POV:

Ich sitze mit einer Decke auf Bettes Sofa und sehe mir „Will & Grace“ an. Ich liebe diese Serie, aber heute kann ich über keinen einzigen Witz lachen. Ich sitze nur da und starre auf den Bildschirm.
Mir ist kalt.

Ich höre Schritte auf der Treppe und einen Schlüssel, der sich im Schloss bewegt.
„Hallo, Shane.“
„Hey, Bette.“
„Wie geht es dir?“
Sie setzt sich zu mir.
„Geht so.“
Sie schaut mich besorgt an.
„Ist dir nicht gut?“
„Mir ist nur etwas kalt.“
„Das sind die ersten Entzugserscheinungen.“

Dann scheint ihr etwas einzufallen.
„Shane, ich habe mich ein wenig erkundigt. Und dabei bin ich auf eine renommierte Suchtklinik gestoßen. In Rancho Mirage.“
„Rancho Mirage? Wo ist das?“
„Liegt ungefähr 110 Meilen südöstlich von hier. Dort wurden schon viele Prominente behandelt, die Probleme mit Drogen hatten.“
Ich bin leicht geschockt.
„So weit weg? Aber… „.
„Kein aber. Es ist die beste Klinik, die es hier in der Nähe gibt.
„Aber ich kann das gar nicht bezahlen.“
„Shane, mach dir darüber mal keine Gedanken. Ich will für dich einfach die beste Behandlung, die du kriegen kannst.“
„Aber ich will nicht, dass du für mich zahlst.“

Sie seufzt. „Und ich will nur, dass es dir bald besser geht. Ich kann nicht mehr ertragen, dich so zu sehen.“
Ich nicke.
„Was sagen wir den anderen.“
Sie lächelt schwach.
„Manchmal ist die Wahrheit die beste Lösung, weißt du.“
Wie bitte? Ich soll ihnen sagen, was mit mir los ist? Wo es mir doch schon so schwer gefallen ist, mit Bette darüber zu sprechen. Nein, ich halte das nicht durch.

Bette scheint meine Ängste in meinem Gesichtsausdruck zu lesen.
„Shane, ich bin bei dir. Wir stehen das gemeinsam durch, okay?“
Ich nicke und lege meinen Kopf an ihre Schulter.

~*~

Anna`s POV:

Ich liege auf meinem Bett und starre an die Wand.
Wie konnte meine Mutter so etwas sagen? Sie weiß doch ganz genau, dass ich lesbisch bin. Warum kann sie es nicht begreifen? Warum kann sie es nicht einfach tolerieren?
Das alles macht mich so traurig.

Es klopft an der Tür.
„Anna. Schatz, ich bin es.“
Mom. Ich drehe mich mit dem Rücken zur Tür.
„Komm rein.“

Die Tür öffnet sich. Ich spüre ihren Blick in meinem Nacken, bevor sie an mein Bett kommt und sich hinsetzt. Sie legt eine Hand auf meine Schulter.
„Es tut mir Leid.“
Habe ich gerade richtig gehört? Sagte sie gerade, es tue ihr Leid? Nein, das kann sie nicht ernst gemeint haben. Nicht sie.
„Was tut dir Leid? Dass du mich nicht verstehen kannst? Dass du mich nicht verstehen willst?“
Ich drehe mich um und sehe sie an.
„Schatz, kannst du mich nicht wenigstens ein klein wenig verstehen? Ich… ich habe mir immer Enkelkinder gewünscht.“
„Du hast zwei davon.“
“Ich weiß. Aber das ist etwas anderes.“
„Es sind auch deine Enkelkinder.“
„Das ist nicht das, was ich meinte. Ich habe mir dich immer vorgestellt, wie du in der Kirche stehst, mit einem weißen Kleid. Dein Vater führt dich zum Altar, lüftet den Schleier und gibt dir einen Kuss. Ich habe mir alles so schön ausgemalt. Die Blumenkinder, die ganze Feier. Ich habe mir für dich immer einen netten jungen Mann gewünscht, der dich liebt und den du liebst. Einen Mann, mit dem du Kinder hast und mit dem du dein ganzes Leben verbringst.“

Wieder sehe ich sie an.
„Weißt du, Mama, ich habe mir das auch vorstellt. Sehr oft sogar. Ich wette, du kannst dich noch an meine ganzen Bilder erinnern, die ich als kleines Mädchen gemalt habe. Ich habe mich immer selbst gezeichnet, mit weißen Kleidern, die man auf dem Papier fast nicht gesehen hat, und Blumensträußen in der Hand.“
Sie lächelt.
„Und als ich herausgefunden habe, dass ich lesbisch bin, da war ich traurig, weil ich dachte, ich könnte das alles, was ich mir buchstäblich ausgemalt hatte, nie erleben.
Aber glaubst du nicht auch, dass das nicht stimmt?“

Sie sieht mich fragend an.
„Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst.“
„Ich meine, warum sollte ich das nicht alles mit einer Frau erleben können? Warum soll ich kein weißes Kleid anhaben und einen Blumenstrauß in der Hand halten dürfen, während ich die Frau meines Lebens heirate? Warum denkst du, ich kann dir keine Enkelkinder schenken, nur weil ich lesbisch bin?“
Sie ist schockiert.
„Weil das biologisch nicht möglich ist.“
„Warum denn nicht? Meinst du, Lesben haben keine… Gebärmutter oder was weiß ich, was? Viele lesbische Paare haben Kinder. Sie suchen sich einen Samenspender und bekommen Babys.“

„Und du meinst, du kannst damit leben?“
„Es ist nun mal mein Leben. Ich konnte es mir nicht aussuchen. Aber um deine Frage zu beantworten: ja, ich kann, und ich will so leben. Mit der Frau meiner Träume und vielleicht irgendwann mit einem Kind, dass meine Ehefrau genauso lieben wird, als wäre sie seine leibliche Mutter.“

Sie beugt sich zu mir und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
„Anna, vielleicht habe ich dir das nie deutlich gesagt, aber… ich liebe dich und dein Vater und ich, wir werden dich immer lieben. Egal, was du tust. Wir wollen nur, dass du glücklich bist.“
„Danke“, sage ich und umarme sie.

~*~

Bette`s POV:

Ich bin mit Shane auf dem Weg zu Alice. Shane meinte, Alice wäre nach mir die erste, der sie es sagen würde. Und ich bin stolz auf Shane. Denn sie hat sich fest in den Kopf gesetzt, das durchzustehen und gegen die Sucht zu kämpfen.

Ich habe ihr vorgeschlagen, mit dem Auto zu fahren, doch sie sagte, ihr wäre es lieber, zu laufen. Ich denke, dass es ihr gut tut, wenn sie etwas frische Luft bekommt.

„Bette, ich habe Angst.“
„Wovor?“
„Davor, wie Al regieren wird.“
„Ach Shane, meinst du wirklich, sie würde dich verurteilen? Ihr seid Freunde, vergiss das nicht. Sie wird dich genauso unterstützen, wie ich es tue.“
Shane nickt.

Wir laufen einer dicht befahrenen Straße entlang. Plötzlich höre ich jemanden meinen Namen rufen.
Ich drehe mich um und vor mir steht mein ehemaliger Arbeitskollege Dave.
„Hallo Dave, wie geht’s dir? Ich habe dich ja schon ewig nicht mehr gesehen.“
Er umarmt mich herzlich. Ich sehe, wie Shane weggeht, um sich die Schaufenster an der Straße anzusehen.
„Mir geht es gut. Ich habe im Sommer geheiratet.“
„Hey, herzlichen Glückwunsch. Ist es deine damalige Freundin, Maggie?“
„Ja.“

~*~

Shane`s POV:

Bette spricht mit einem Mann. Ich kenne ihn nicht. Aber so, wie es sich anhörte, kennt sie ihn von früher. Ich wollte bei ihrer Unterhaltung nicht stören.

„Hey, Shane.“
Neben mir steht Doug, mein früherer Drogendealer. Er war es, der mir den ganzen Mist verkauft hat.
Verdammt. Was mach ich jetzt?
„Was ist los mit dir Shane, ich bin es doch.“
„Ich sehe, dass du es bist, Doug.“
„Gut. Wie wäre es mit etwas neuem Stoff? Ich habe 1A-Ware von Cavallo bekommen. Ich könnte dir einen guten Preis machen.“
„Nein, Doug, ich hab kein Interesse. Ich mach den Scheiß nicht mehr, also verschwinde.“

Er sieht mich wütend an.
„Was, du schickst mich weg? Mich? Ich habe auf dich gezählt, Shane. Du kannst mich nicht hängen lassen.“
“Doch, ich kann. Also lass mich in Ruhe und verpiss dich. Ich habe dir gesagt, dass ich keine Drogen mehr nehme.“
„Shane, tu mir das nicht an. Ich… ich… du bist meine beste Kundin.“
„Ich war deine beste Kundin, Doug. Und jetzt, verschwinde endlich.“

Ich drehe mich um, um wieder zurück zu Bette zu laufen, die etwa 150 Fuß von mir entfernt immer noch mit diesem Mann redet.
„Nein, nein, nein. So leicht kommst du mir nicht davon. Wenn du mir nicht sofort etwas abkaufst, dann…“.
„Was dann?“, sage ich und spüre wenig später seine Faust in meinem Gesicht.

Es war kein fester Schlag. Dennoch bringt er mich dazu, einen Moment nicht auf ihn zu achten.
Er zerrt mich auf die Straße zu. Ich fange an zu schreien.

~*~

Bette`s POV:

Ich höre Schreie. Sie kommen eindeutig von Shane. Ich sehe mich zu ihr um.
Ein junger Mann in ihrem Alter schlägt auf sie ein und zerrt sie auf die Straße zu.
„Shane!“, rufe ich und renne auf sie zu.

Doch es ist zu spät. Die nächsten Sekunden laufen wie Zeitlupe vor mir ab.
Ich renne auf sie, während ich sehe, wie er sie auf die Straße zerrt. Ich sehe Shane, ich sehe ihr Gesicht. Ihr wunderschönes Gesicht. Und ich sehe das Auto, das mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit auf sie zurast, während sie fällt.
Ich renne und renne. Doch nicht schnell genug.
Ich muss mit ansehen, wie das Auto Shane rammt.
Dann gibt es einen dumpfen Aufprall. Und das nächste, was ich sehe, ist, wie Shane auf dem Boden liegt. Überall ist Blut.

Ich kann nicht mehr denken. Ich stehe da und weiß nicht, was ich tun soll. Von überall her höre ich Schreie. Ich sehe Passanten, die auf die bewusstlose Shane zulaufen.
Ich stehe da. Der Schock hält mich davon ab, etwas zu tun.

Dann holt mich die Realität ein und ich renne weiter.
Oh, mein Gott!
Ich spüre die heißen Tränen auf meiner Wange.
„Shaaaane!“

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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 Betreff des Beitrags: Re: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:27 
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Kapitel 12


Bette`s POV:

„Shaaane!“
Ich renne auf sie zu. Sie liegt da. Gekrümmt. In einer Lache von Blut. Ich sehe die klaffende Wunde an ihrem Hinterkopf.
„Shane, kannst du mich hören? Shane!“
Keine Reaktion.

Ich sehe mich verzweifelt um. Dave ist mir hinterher gerannt.
„Bette.“
„Dave, ruf die 911. Schnell!“
Er nimmt sein Handy aus seiner Anzugtasche und wählt.

Überall Gemurmel. Ich bin umringt von neugierigen Passanten.
Mir platzt der Kragen.
„Steht doch nicht so dumm herum!“, schreie ich aus vollem Halse. „Tut doch irgendetwas!“
Ich breche in Tränen aus und beuge mich über Shane.
„Bitte, Shane, halt durch! Bitte!“

-----

Nach einer halben Ewigkeit, wie es scheint, höre ich endlich den Krankenwagen kommen.
Irgendjemand aus der Menge ist gekommen und hat Shane in die stabile Seitenlage gebracht.
Sie ist so blass. Totenbleich. Sie muss das durchstehen. Sie muss einfach.

Dann geht alles ganz schnell. Die Sanitäter halten mich und die anderen zurück, während sie Shane auf einer Bahre in den Wagen bringen.

Als sie die Türen schließen wollen, renne ich hin, um sie aufzuhalten.
„Kann ich mitfahren?“
„Miss, das geht leider nicht!“, sagt einer der Sanitäter zu mir.
„Bitte! Sie ist eine sehr gute Freundin von mir, ich kann Ihnen ihre Personalien sagen. Es ist mir wirklich wichtig. Bitte!“
Er seufzt.
„Gut, steigen sie ein.“
“Danke.“

-----

Ich werde in eine Ecke gedrängt, während drei Leute sich um Shane kümmern.
Mein Gesicht ist nass von Tränen. Unfähig zu sprechen. Warum muss Shane so etwas passieren? Warum gerade ihr?

„Miss, können Sie mich hören? Miss?“
Einer der Männer klatscht ihr ein paar Mal leicht auf die Wange.
Ich sehe, wie ihre Augenlieder flackern. Dann öffnen sie sich langsam.
„Shane! Gott sei Dank!“
Der Sanitäter spricht mit ihr, doch Shane sieht sich nur verwirrt um. Ihr Gesicht von den Schmerzen verzogen. Anscheinend kann sie nichts hören. Sie sieht aus, als ob sie Probleme hätte, zu atmen.

Dann schluckt sie einige Male schwer. Wird noch blasser. Ein Mann nimmt eine Art Schüssel zur Hand. Er hilft Shane, ihren Kopf zu drehen. Sekunden später erbricht sie sich in die Schale.
Er legt ihren Kopf wieder behutsam zurück.
Ihre Augen schließen sich langsam.
„Shane! Nein!“
„Miss?“
Keine Reaktion. Verdammt.

„Ihre Eigenatmung ist schwach. Wir müssen intubieren. Schnell.“
Ich sehe mit an, wie ein Sanitäter Shane einen dicken Schlauch in den Hals schiebt. Ein anderer schließt irgendwelche Geräte an sie an. Der dritte kümmert sich um die Wunde an ihrem Kopf.

Ich finde meine Stimme wieder.
„Wird sie es schaffen?“, frage ich kleinlaut.
Einer der Männer dreht sich zu mir um und sieht mich mit einem seltsamen Blick an.
„Miss, ich weiß es nicht. Doch was ich weiß, ist, dass wir sie möglichst schnell ins Krankenhaus bringen müssen.“
Ich seufze.
„Es tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann.“

-----

Wir sind an der Klinik. Es kommen zwei Frauen und ein Mann in weißen Kitteln mit einer fahrbaren Trage angerannt und die Männer vom Krankenwagen, legen Shane darauf ab.
Dann rasen sie auf den Eingang des Krankenhauses zu. Ich folge ihnen.
Meine Aufmerksamkeit gilt Shane, die zusehends blasser wird.
Wie aus weiter Ferne höre ich den Sanitäter zur Ärztin sprechen.
„Verdacht auf schweres Schädel-Hirn-Trauma. Thorax und Schädel-Röntgen.“
Die Maschinen fangen an zu piepen. Ich werde hysterisch.
„Shane.“
Irgendjemand stößt mich leicht zurück.
„Ihr Kreislauf wird immer schwächer. In den Schockraum. Schnell.“
Sie muss das durchhalten. Sie muss überleben.

Wir kommen zu einer Tür.
„Sie können da nicht mit rein, Miss. Warten Sie bitte draußen. Es wird sich gleich jemand um sie kümmern.“
„Aber…“, protestiere ich. Doch die Tür ist schon zu.
Ich laufe wankend auf die Stühle auf der anderen Seite des Ganges zu. Meine Beine geben nach und ich falle erschöpft in einen der Plastik-Sitze.

~*~

Alice`s POV:

„Dane, was machst du nur mit mir?“
Ich liege auf meinem Bett. Dana knabbert leidenschaftlich an meinem Ohr herum. Es fühlt sich gut an.
Ich stöhne vor Lust.

Sie wandert mit ihren sanften Lippen an meinem Wangenknochen entlang zu meinem Mund und wir verschmelzen in einem heißen Kuss.

Ich höre die Melodie meines Handy-Klingeltons und verfluche in diesem Moment sämtliche Telefone in dieser Wohnung, die ich nicht abgestellt habe.
Dana sieht mich an, doch ich versuche, das Klingeln des Handys zu ignorieren.
„Mach weiter, bitte.“
„Vielleicht ist es wichtig.“
„Bestimmt nicht.“
„Komm, Al. Geh schon ran.“
Ich schenke Dana einen säuerlichen Blick und greife nach dem Telefon auf meinem Nachttisch.

„Hallo?“, sage ich genervt.
„Alice?“
„Jep, ich bin dran.“
„Hier ist Bette. Al, du musst sofort in die Cedars kommen. Shane hatte einen Unfall.“

Mein Herz bleibt stehen.
„Was? Was ist denn passiert?“
„Bitte, Al. Ich erklär dir alles gleich. Komm einfach ganz schnell, okay?“
„Ja, ich bin unterwegs.“
„Und, Al?“
„Ja?“
„Könntest du vielleicht Tina Bescheid sagen?“
„Klar, kein Problem.“
„Danke.“

Ich lege auf und starre auf mein Handy.
Auf meiner Schulter spüre ich eine Hand.
„Was ist denn los?“
Mit Tränen in den Augen drehe ich mich zu Dana um, die mich fragend ansieht.
„Keine Ahnung, ich … das war Bette. Shane… sie… sie…“.
„Was ist mit Shane?“
Auch Dana scheint nun schockiert zu sein.
„Sie hatte einen Unfall.“
„Oh, mein Gott. Ist sie schwer verletzt?“
„Ich… ich weiß es nicht. Aber es… es hörte sich nicht gut an.“

Ich schluchze los. Dana streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und versucht mich zu beruhigen.
„Vielleicht ist es gar nicht so schlimm. Vielleicht…“.
„Dana. Das letzte Mal, als Shane und ich uns sahen, habe ich sie nicht gerade nett behandelt, ich … ich hab ihr Vorwürfe gemacht. Wenn sie jetzt stirbt…“.
„Alice! Das wird nicht passieren, okay? Shane wird nicht sterben. Komm, lass uns in die Klinik fahren. Bette braucht uns dort.“

Dana versucht, für mich stark zu sein. Ich liebe sie so.
Als ich ihr an diesem einen Tag meine Liebe gestand, als ich sie geküsst habe, als ich sie gebeten habe, Tonya nicht zu heiraten – an diesem Tag war ich so traurig. Ich habe nicht erwartet, dass sie Tonya für mich verlassen würde.
Doch sie hat es getan. Sie liebt mich. Ich liebe sie. Alles ist perfekt.

Wir ziehen uns an. Ich kann nur an Shane denken. Sie darf einfach nicht sterben. Das kann sie uns nicht antun.
„Dana?“
„Ja?“
„Bette hat mich gebeten, Tina anzurufen. Kannst du… kannst du vielleicht…“.
„Klar, kein Thema.“
„Danke. Ich… ich kann jetzt mit niemandem reden.“

Während wir raus zum Auto laufen, spricht Dana mit Tina. Wie es sich anhört, ist auch sie geschockt und will ebenfalls so schnell wie möglich zum Cedars-Sinai Medical Center kommen. Bette braucht sie jetzt.

~*~

Bette`s POV:

„Miss?“
Ich schrecke aus meinen Gedanken. Vor mir steht eine Schwester.
„Was ist mit Shane?“
Sie seufzt.
„Sie wird operiert. Leider kann ich Ihnen keine weiteren Auskünfte über den Zustand ihrer Freundin geben. Würden Sie bitte mit mir mitkommen, damit ich ihre Personalien aufnehmen kann.“
Verdammt. Warum kann mir niemand sagen, was los ist?
„Sicher“, sage ich leise und folge ihr.

Wir gehen einen langen Gang entlang. An den weißen Wänden. Ich fühle mich unwohl.
Wir kommen zu einer Art Rezeption. Die Frau setzt sich an einen Computer.
„Wie ist der Name?“
„Shane McCutcheon. M-C-C-U-T-C-H-E-O-N.“
Ich sage ihr, soviel ich über Shane weiß. Ich erzähle auch von ihrem Problem mit Drogen.
„Hat sie in den letzten 48 Stunden Heroin zu sich genommen?“
„Nein. Sie war die meiste Zeit bei mir. Ich glaube nicht, dass sie irgendwelche Drogen genommen hat.“

„Wie sieht es mit Miss McCutcheon`s Familie aus? Haben Sie eine Telefonnummer, damit wir sie verständigen können.“
„Nun ja… wissen sie, Shane hat keine richtige Familie. Ihren Vater hat sie nie kennen gelernt und ihre Mutter hat sie in ein Heim gesteckt. Sie hat sie seitdem nicht mehr gesehen. Wir, ihre Freunde, sind die einzige Familie, die sie hat.“
Die Schwester nickt und ich meine, in ihrem Blick eine Spur von Mitleid sehen zu können.

„Bitte, können Sie mir nicht sagen, wie es ihr geht? Wird sie es schaffen?“
Sie atmet tief durch.
„Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
Ich schließe kurz meine Augen und lächle schwach.
„Danke. Vielen Dank.“

~*~

Alice`s POV:

Dana parkt auf dem öffentlichen Parkplatz vor dem Krankenhaus.
Ich bin ihr dankbar, dass sie gefahren ist, denn ich wäre dazu nicht in der Lage gewesen.

Wir laufen durch sämtliche Gänge zur Notaufnahme. Nichts. Dann zu den Operationssälen.
Ich sehe Bette. Sie sitzt auf einem Stuhl vor dem OP. Den Kopf in die Hände gestützt.
Ich laufe auf sie zu.
„Bette!“

Sie schreckt hoch. Und sie scheint erleichtert, dass wir da sind.
„Alice!“
Sie kommt auf mich zu und umarmt mich.
„Alice, es ging alles so schnell, ich…“.
Sie bricht in Tränen aus und ich kann nicht anders, als mitzuweinen.

Dana kommt zu uns und klopft uns auf die Schulter.
„Jetzt hört doch mal auf zu heulen. Ihr wisst doch, Shane ist stark. Und sie wird das schaffen, okay?“
Wir wischen uns die Tränen vom Gesicht und nicken.

„Habt ihr Tina Bescheid gesagt?“
„Ja, Dana hat sie angerufen. Sie wird gleich hier sein.“
„Gut.“
„Ähm… apropos Bescheid sagen… Bette, meinst du nicht, es wäre angebracht, Anna anzurufen und ihr zu sagen, was los ist?“
Bette scheint angestrengt über Danas Frage nachzudenken.

„Vielleicht hast du Recht.“
„Sie würde sofort zurück kommen“, werfe ich ein. „Ich weiß es. Die beiden lieben sich so sehr.“
„Ja, ich weiß!“
„Ruf sie an, Bette. Ich finde, sie hat ein Recht, es zu erfahren.“
Bette beißt sich auf ihre Unterlippe und nickt.

~*~

Anna`s POV:

Das Klingeln meines Handys weckt mich aus meinem tiefen Schlaf. Es kommt mir viel lauter vor als sonst.
Lustlos und müde sehe ich auf die Uhr neben mir. Kurz nach halb 4. Dann schaue ich auf das Display des Telefons. Bette. Was kann sie wollen? Hat sie noch nie etwas von Zeitumstellung gehört?

Ich versuche, so nett wie möglich zu klingen.
„Hey, Bette.“
„Hallo, Anna. Hör zu, es ist etwas ganz Schreckliches passiert. Shane hatte einen Unfall, sie wurde von einem Auto angefahren.“

Ich kann fast spüren, wie bleich ich werde. Ihre Worte. Sie sind denen von Elli so ähnlich. Fast dieselben Worte habe ich vor 12 Jahren gehört. Damals war das nächste, was Elena sagte, dass Laura tot sei.
Ich schlucke hart. Ich weiß nicht, warum, doch ich bin auf das Schlimmste gefasst. Ich stelle mir vor, wie Bette mir sagt, dass Shane tot ist.

„Shane… ist sie… sie ist doch nicht… oder?“
Ich bringe nichts Vernünftiges heraus.
„Sie lebt. Sie wird gerade operiert.“
Mir fällt ein Stein vom Herzen.
„Aber…“.
Ich schließe die Augen und atme tief durch.
„Was, aber? Bette?“
„Wir… wir wissen nicht, ob sie es schaffen wird.“

Ich fahre mir mit der Hand über die Stirn. Das darf nicht wahr sein. Das darf einfach nicht wahr sein.
Was ist, wenn sie es nicht schafft? Wenn sie stirbt, so wie Laura? Wenn ich nicht mehr die Möglichkeit bekomme, ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebe?
Das würde mir den Rest geben. Ich könnte nicht mehr leben. Nicht so.

„Ich nehme den nächsten Flieger nach L.A.“
„Gut. Sie braucht dich jetzt. Sag Bescheid, wenn wir dich abholen sollen.“
„Ja. Danke, Bette.“

Ich lege auf und lasse mich zurück in mein Bett fallen. Ich starre an die Decke, deren Muster und Kerben ich so gut kenne.

Dann bete ich. Seit 12 Jahren habe ich nicht mehr gebetet. Doch jetzt bete ich. Für Shane. Ich bitte Gott, sie mir nicht wegzunehmen. Nicht jetzt, da ich realisiert habe, dass ich sie wirklich liebe und dass ich mit ihr zusammen sein will.

-----

„Mama? Papa?“, flüstere ich ins Schlafzimmer.
Schläfrig knipst meine Mutter das Lichten neben sich an.
„Was ist denn los? Warum bist du nicht im Bett?“
„Ich muss gehen.“
Plötzlich sind beide hellwach.
„Warum?“
„Es ist etwas passiert. Und ich muss dringend zurück.“
„Was ist geschehen?“

Ich zögere. Soll ich ihnen das wirklich sagen?
„Meine… Freundin hatte einen schweren Unfall, sie liegt im Krankenhaus. Ich weiß nicht, wie es ihr geht. Und ich weiß nicht, ob sie das überleben wird.“ Ich werde lauter. „Vielleicht könnt ihr das nicht verstehen, aber ich liebe sie über alles, und… und wenn ich sie verliere, dann weiß ich nicht, ob ich weiterleben kann.“ Über meine Wangen strömen die Tränen. „Ich muss gehen.“

Meine Mutter ist aufgestanden. Sie nimmt mich in den Arm.
„Ach, Schatz, das tut mir so Leid.“
Auch mein Vater steht jetzt neben mir.
„Wir werden dich selbstverständlich zum Flughafen bringen.“
„Nein. Nein, ich… ich kann ein Taxi rufen. Ich wollte nur Bescheid sagen.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage“, sagt meine Mutter und reicht mir ein Taschentuch.
„Wir fahren dich zum Flughafen. Keine Widerrede.“

-----

„Mama. Papa. Es tut mir so Leid, dass ich nicht länger bleiben konnte.“
„Wir verstehen das, Schatz.“
„Mach dir keine Gedanken.“
Ich umarme sie beide.
„Sagt allen liebe Grüße von mir.“
„Machen wir. Und… warum bringst du beim nächsten Mal… deine Freundin nicht einfach mit?“
Mir stockt der Atem.
„Wie heißt sie überhaupt?“
„Shane“, bringe ich gerade noch hervor.

Warum akzeptieren sie plötzlich meine Homosexualität? Die ganzen Jahre haben sie mich dafür gehasst. Zumindest dachte ich das. Und jetzt auf einmal… nichts mehr dergleichen.

Dann springt mir ein anderer Gedanke in den Kopf. Wird es überhaupt ein nächstes Mal geben? Wird Shane die Möglichkeit haben, mich nach Deutschland zu begleiten? Wird sie… leben?

Ich verabschiede mich von meinen Eltern. Und es fällt mir schwer. Gerade jetzt, da wir uns angenähert haben.
Doch es geht nicht anders. Ich muss zurück.

Eine halbe Stunde später steige ich in das Flugzeug, in dem glücklicherweise noch Plätze frei waren. Es ist kurz nach 6 Uhr in der Früh.
Shane, halt durch. Bald bin ich bei dir.

~*~

Bette`s POV:

„Ich halte das nicht mehr aus“, schreie ich durch die Klinik und breche wieder in Tränen aus. Seit Stunden warten wir nun auf Auskunft über Shane.
Tina, die vor ein paar Minuten hier angekommen ist, nimmt mich in den Arm und versucht mich zu beruhigen.
„Bette, es wird alles gut werden. Ich weiß es.“
Ich hoffe inständig, dass sie Recht hat.

„Miss?“
Ich hebe meinen Kopf. Vor mir steht die Krankenschwester, die die Daten aufgenommen hat.
„Wie geht es Shane?“

Sie schaut vorsichtig zu Alice, Dana und Tina.
„Wir sind ihre Familie. Bitte sagen Sie uns, was los ist.“

Sie seufzt.
„Miss McCutcheon hat durch den Unfall mehrere Rippenbrüche erlitten. Einige Knochenstücke haben sich durch den linken Lungenflügel gebohrt, was massive innere Blutungen verursacht hat. Wir konnten diese zum Glück stoppen. Allerdings ist sie noch nicht in der Lage, selbständig zu atmen, weswegen wir sie an ein Atmungsgerät gelegt haben.“
Ich spüre die Tränen auf meiner Wange.
Durch den Aufschlag auf den Hinterkopf erlitt sie außerdem ein sehr schweres Schädel-Hirn-Trauma…“.
Ich sehe sie fragend an.
„Was bedeutet dies nun?“
Sie zögert.
„Nun … wir haben sie in ein künstliches Koma versetzt.“

Ihre Worte treffen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Nein. Nein. Bitte sag, dass das nicht wahr ist.
Ich kollabiere in den Stuhl hinter mir. Über mein Gesicht laufen Tränen.
Auch die anderen können es kaum glauben.

Ich finde meine Fassung wieder.
„Warum?“
„Es kann dadurch die Wahrscheinlichkeit möglicher Folgeschäden verringert werden. Miss McCutcheon ist momentan noch sehr instabil. Wir können nicht genau sagen, wann wir sie wieder aus dem Koma herausholen werden.“

Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter.
„Sie schafft das.“
Ich wende mich wieder an die Ärztin.
„Was sind das für Folgeschäden?“
„Bitte. Kommen Sie doch morgen früh in mein Büro und ich werde Ihnen alles genau erklären. Ich muss mich nun um meine Patientin kümmern.“

„Kann ich sie nicht sehen?“
„Nein, das geht leider nicht. Morgen früh können Sie sie besuchen, jetzt braucht sie absolute Ruhe. Unten im Haus ist eine Cafeteria, falls sie etwas essen oder trinken möchten.“
Ich suche den Blickkontakt zu den anderen. Warum helfen sie mir nicht?
„Komm, Bette. Lass uns gehen. Die Schwester hat Recht, du kannst hier nichts ausrichten.“

~*~

Alice`s POV:

Wir sitzen in der Cafeteria. Tina bricht das Schweigen.
„Wollen wir nicht nach Hause gehen? Wir….“
„Nein, Tina. Ich bleibe hier.“
„Bette, du hast doch gehört, was die Schwester gesagt hat. Wir können hier nichts ausrichten und sehen dürfen wir sie ohnehin erst morgen.“
Auch Dana mischt sich ein.
„Sie hat Recht, Bette. Wir brauchen unsern Schlaf, damit wir für Shane da sein können.“

Tina bringt Bette nach einer Weile endlich dazu, nach Hause zu gehen. Ich bin froh, dass sie eingesehen hat, dass sie im Moment hier nichts für Shane tun kann.

Dana hat das Auto vor der Klinik stehen lassen und wir sitzen nun alle in Tinas Wagen und fahren zu Bette nach Hause.

~*~

Bette`s POV:

„Was ist mit dem Kerl, der Shane das angetan hat? Der Mann, der das Auto gefahren hat? Hat ihn die Polizei erwischt?“
Erst jetzt, nachdem Dana die Frage gestellt hat, wird mir bewusst, dass ich ihnen noch gar nicht die ganze Geschichte erzählt habe. Bis jetzt habe ich nur gesagt, dass Shane von einem Auto angefahren wurde.

„Der Fahrer konnte nichts dafür. Ich glaube zwar, dass er gerade von der Polizei verhört wird, aber es war nicht seine Schuld.“
„Willst du damit sagen, Shane ist ihm absichtlich vors Auto gelaufen?“
„Nein, um Himmels Willen. Nein… da war ein anderer Kerl, er hat mit Shane geredet, während ich mich mit einem ehemaligen Kollegen unterhalten habe. Sie standen einige Meter von uns entfernt und aus dem Augenwinkel sah ich plötzlich, dass er Shane zu Boden geworfen hat. Ich bin losgerannt, aber dann… es ging alles so schnell, ich… ich….“
Ich breche zum x-ten Mal an diesem Abend in Tränen aus.

„Bette, es ist okay. Du kannst es uns morgen erzählen, ja?“
Ich nicke nur.

~*~

Anna`s POV:

Ich sitze im Flugzeug. Es ist mitten in der Nacht, aber auf dem kleinen Bildschirm einige Meter vor mir sehe ich, dass wir gerade über Grönland fliegen.

Ich kann nur an Shane denken.
Wenn sie stirbt… das würde ich mir nie verzeihen. Ich würde mir nie verzeihen, ihr nicht gesagt zu haben, wie viel sie mir bedeutet und wie sehr ich sie liebe.

„Miss, sind Sie okay?“
Neben meinem Sitz steht die Stewardess.
„Sie sehen etwas blass aus.“
„Nein, mir geht es gut. Ähm… könnten Sie mir vielleicht einen Kaffee bringen? Stark bitte.“
„Natürlich. Starker Kaffee, kommt sofort.“
Sie lächelt und geht davon.

Ich klappe den Tisch an meinem Vordersitz herunter und stütze meine Ellbogen darauf ab. Reibe meine Schläfen mit den Fingern. Es tut mir gut.

„Bitte, ihr Kaffee.“
„Oh, vielen Dank.“
Die Stewardess stellt den Becher vor mir ab. Ich trinke und fühle mich sofort ein wenig besser.

Sie wird es schaffen. Sie muss es schaffen. Für mich. Für uns. Für unsere Liebe.


Kapitel 13


Bette`s POV:

Ich wache auf. Frage mich, wo Tina ist. Ich berühre ihre Kissen. Sie sind kalt.
Dann sehe ich auf die Digitalanzeige der Uhr neben mir. Gleich 9.
Verdammt. Um diese Zeit wollte ich eigentlich schon im Krankenhaus sein.

Ich springe aus dem Bett und gehe in die Küche. Tina macht Tee für uns.
„Guten Morgen, Bette.“
Sie lächelt mich an.
„Warum hast du mich nicht geweckt?“
„Ich dachte, du brauchst deinen Schlaf. Wir haben einen harten Tag vor uns.“
„Hm.“
Ich nicke. Habe keine Lust und keinen Nerv, mich mit ihr zu streiten. Sie hat es ja nur gut gemeint.

„Wo sind die anderen?“
„Dana hat Training. Und Alice hab ich losgeschickt, um einzukaufen.“
„Was ist eigentlich mit den beiden? Sind sie zusammen?“
Tina schmunzelt.
„Sieht so aus. Ich wollte nicht fragen.“

Nachdem ich gefrühstückt und geduscht habe, machen wir uns auf den Weg in die Klinik. Wir hinterlassen Alice einen Zettel auf dem Küchentisch, damit sie weiß, wo wir sind.

-----

Tina wartet im Gang, während mich eine Schwester in das Büro der Ärztin führt.
„Dr. Cohen wird gleich da sein. Setzen Sie sich doch.“
„Danke.“
Ich nehme auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz und sehe mich im Zimmer um.

Die Tür öffnet sich.
„Guten Tag, mein Name ist Eve Cohen. Ich bin die behandelnde Ärztin von Shane McCutcheon.“
„Bette Porter.“
„Nun, normalerweise darf ich, wie Sie wissen, keinerlei Informationen an Nicht-Familienangehörige herausgeben. Aber wie es scheint, gibt es keine Verwandten, die man erreichen könnte, also kann ich eine Ausnahme machen.“
„Vielen Dank.“

Sie schaut in ihre Unterlagen.
„Wie ich gestern gesagt habe, hat Miss McCutcheon durch den Aufprall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten.“
„Ja. Sie erwähnten mögliche Folgeschäden. Welche sind das?“
Verdammt. Ich will endlich wissen, wie es um sie steht.

„Ich muss Ihnen leider sagen, dass bei vielen Betroffenen ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zu weit reichenden Behinderungen führt.“
Mein Gott, nein. Bitte lass das nicht wahr sein. Ich schlucke schwer.
„Und was heißt das nun?“
„Oft ist ein Ausfall von Gehirnnerven zu erwarten. Das heißt, häufig fällt der Geruchsnerv aus. Das lässt sich aber erst nach einigen Wochen feststellen und in den meisten Fällen geht es auch nach einiger Zeit wieder vorbei.
Der Sehnerv kann so geschädigt sein, dass der Betroffene unheilbar erblindet. Sollte allerdings nur der Augenmuskel gelähmt sein, kann derjenige nach wenigen Monaten wieder vollständig sehen.“

Shane. Blind. Mein Gott, bitte lass das nicht geschehen. Sie könnte nicht damit umgehen.
„Die Schädigung von Gehirnteilen kann sich als halbseitige oder vollständige Lähmung äußern, als eingeschränktes Sehfeld oder als Sprachstörungen. Die Lähmungen können eine Körperhälfte oder den ganzen Körper betreffen. Der Verletzte kann Schwierigkeiten haben, das Gleichgewicht zu halten. Die Koordination der einzelnen Körperteile kann teilweise verloren gehen, sodass die Bewegungen unkontrolliert werden.“

Bitte. Kann es noch schlimmer kommen? Was ist, wenn Shane ein Pflegefall wird? Wenn sie nie mehr richtig gesund wird? Ich würde mir das nie verzeihen.
„Nach der akuten Phase können indirekte Verletzungsfolgen auf psychisch-organischer Ebene auftreten. Sie können sich in starker Verwirrung, körperlicher und geistiger Unruhe sowie Halluzinationen und zusammenhanglosem Reden äußern. Lern- und Gedächtnisstörungen treten bei 65 Prozent der Patienten auf. Störungen der Aufmerksamkeit, zum Beispiel der Konzentration, bei 80 Prozent.“

Lieber Gott, mach, dass Shane zu den 20 Prozent gehört, die nicht davon betroffen sind. Ich könnte nicht mit ansehen, wie sie sich tagtäglich durchs Leben quält.
„Je länger die Bewusstlosigkeit durch den Unfall anhält, umso eher treten dauernde Schäden des Gehirns auf, die sich auf psychischer Ebene zeigen.
Die Persönlichkeit des Menschen kann sich sehr verändern. Charaktereigenschaften, die vorher in Ansätzen vorhanden waren, können dominant und unkontrolliert hervortreten. Viele Betroffene neigen zu Depressionen. Extreme wie totale Antriebslosigkeit oder ungebremste Aggressivität können auftreten. Die seelische Belastbarkeit ist oft sehr gering. Viele Menschen mit einer schweren Hirnverletzung sind durch die psychischen Veränderungen stärker beeinträchtigt als durch körperliche Verletzungsfolgen.“

Die Persönlichkeit des Menschen kann sich sehr verändern. Ich will nicht, dass sich Shane verändert. Wir lieben sie doch so, wie sie ist.
„Ich… ich will Ihnen nichts vormachen. Es gab heute Nacht einige Zwischenfälle.“
Mein Herz bleibt stehen.
„Was?“
„Beruhigen Sie sich. Es ist alles gut verlaufen. Ihr Hirndruck ist angestiegen. Wir mussten ihr mit einem Katheter eine Drainage in den Kopf legen, um das Hirnwasser abfließen zu lassen. Außerdem bekommt sie spezielle Medikamente.“
Ich muss mich anlehnen, um nicht umzukippen.
„Sie sprachen von einigen Zwischenfällen. Was ist noch passiert?“
„Sie hatte eine Art epileptischen Anfall. Doch wir konnten das in den Griff bekommen. Viele Betroffene leiden unter solchen Anfällen. Wir haben ihr deswegen ein Antiepileptikum verabreicht.“
Sie hält einen Augenblick inne.

„Wie sie wissen, liegt Miss McCutcheon zur Zeit auf der Intensivstation. Wir haben sie in ein künstliches Koma versetzt, um ihre Heilungschancen zu vergrößern. Im Moment muss sie noch durch einen Tubus beatmet werden. Wir werden diesen in wenigen Tagen entfernen und dann mit der künstlichen Ernährung beginnen. SHT-Patienten können sehr schnell an Gewicht verlieren, wenn sie keine künstliche Nahrung bekommen.“
„Wie lange wird sie in diesem komatösen Zustand bleiben?“
„Nun, das lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Eine Woche, vielleicht auch länger. Je nachdem, wie sich ihr Zustand entwickelt.“

Was kommt denn noch alles? Ich habe solche Angst um sie. Sie ist doch so etwas wie meine kleine Schwester. Oder mehr noch: wie meine eigene Tochter. Ich habe immer versucht, für sie wie die Mutter zu sein, die sie niemals hatte. Und nun kann ich sie nicht beschützen.

~*~

Anna`s POV:

Am „Los Angeles International Airport“ angekommen, schaffe ich es, mein ganzes Gepäck auf einen Wagen zu hieven und ihn vor die Tür zu hieven.
Die Wärme hier tut mir gut. Eigentlich bin ich froh, wieder hier zu sein.

Doch dann denke ich an den Grund, warum ich zurückgekommen bin und ich mache mir Vorwürfe.
Wieso nur habe ich sie allein gelassen?

Ich nehme mein Mobiltelefon zur Hand und wähle die Nummer von Alice.
„Alice Pieszecki.“
„Hallo, hier ist Anna.“
„Ann, endlich.“
„Al, kannst du mich vom Flughafen abholen und ins Krankenhaus bringen?“
„Ja, klar. Kein Problem.“
„Wie geht es ihr?“
„Ich weiß es nicht. Die Ärzte wollten uns gestern nichts Genaues sagen. Bette ist gerade in der Klinik.“

Verdammt.
„An welchem Flughafen bist du? SNA?“
„Nein. LAX.“
„Okay, ich bin in einer halben Stunde da.“

Ich stecke das Handy zurück in meine Tasche und warte.

~*~

Bette`s POV:

Langsam gehe ich, gefolgt von Dr. Cohen, zurück auf den Gang, wo Tina auf mich wartet.
„Bette. Meine Güte, du bist ganz blass. Ist was mit Shane?“
„Später.“ Das ist das einzige, was ich herausbringe.
Wir folgen der Ärztin.

Nachdem wir in einem kleinen Raum grüne Umhänge angezogen haben, stehen wir nun vor Shanes Zimmer.
Dr. Cohen öffnet die Tür und wir treten ein. Was ich sehe, bringt mich zum Weinen.

Sie liegt da. Schwach. Bewegungslos. Blass.
Zahlreiche Schläuche führen von ihrem Körper zu irgendwelchen Maschinen. Einer davon steckt in ihrem Mund, um sie beim Atmen zu unterstützen.
Es bricht mir das Herz. Sie ist zu schwach, um selbst zu atmen.
Um ihren Kopf ist ein dicker weißer Verband gebunden. Überall Pflaster. Nähte. Schrammen. Blutergüsse. Ein Pulsmesser am Finger.
Die Infusionen. Der Katheter. Das Piepsen der Maschinen. Das alles macht mich wahnsinnig.

Ich mache auf dem Absatz kehrt und gehe zurück auf den Gang. Tina folgt mir.
Ich setze mich auf einen der Stühle vor dem Zimmer und stütze den Kopf in meine Hände.
Tina setzt sich neben mich und streicht mir über den Rücken. Eine Weile sitzen wir so da. Dann ergreift Tina das Wort.

„Bette, es wird wieder gut, hörst du? Es wird bestimmt wieder gut. Sie braucht uns jetzt.“
Ich atme tief durch. Dann stehe ich auf, um wieder zurückzugehen.

Ich stehe am Fuß des Bettes. Schaffe es nicht, weiter zu gehen. Habe Angst, weiter zu gehen.

Ich fühle mich schuldig. Warum habe ich mich mit Dave unterhalten und nicht weiter auf sie geachtet? Obwohl ich wusste, dass es ihr nicht gut ging?
Nie werde ich es mir verzeihen. Nie.

Wieder sehe ich sie an. Und ich sehe die Verbände. Die roten und blauen, fast schwarzen Flecken auf ihrem Gesicht, auf den Armen.

~*~

Alice`s POV:

Ich laufe auf den Haupteingang des Flughafens zu. Mein Blick sucht Anna. Doch es sind so viele Menschen hier, dass es fast unmöglich ist, sie aus dieser Entfernung zu sehen.
Ich komme näher und dann sehe ich sie. Ein paar Meter entfernt sitzt sie auf ihrem Koffer und starrt auf den Boden. Ich beobachte sie eine Weile. Und ich spüre ihre Traurigkeit. Ihre Besorgnis. Ihre Angst.

Dann laufe ich zu ihr.
„Anna.“
Sie sieht mich an. Lächelt schwach und steht auf, um mich zu umarmen.
„Hi, Alice. Schön, dich zu sehen.“
In ihrer leisen Stimme kann ich genau die Angst hören, die ich Sekunden vorher gespürt habe. Die Angst, Shane zu verlieren.

„Mein Auto steht da vorne. Wollen wir gehen?“
Sie nickt.
Ich stelle den Koffer wieder auf den Wagen und schiebe ihn in Richtung Parkplatz.
Nachdem alles eingeladen ist, fahren wir los.

Anna ist die ganze Fahrt über still. Ich schaue sie von der Seite an. Sie sieht erschöpft aus. Die Ungewissheit, was sie gleich im Krankenhaus erwarten wird, macht sie fertig.

In der Klinik angekommen, fragen wir an der Rezeption nach Shanes Zimmer. Die Frau hinter dem Schreibtisch ruft uns eine Krankenschwester, die uns begleiten soll.

~*~

Bette`s POV:

Ich sitze an Shanes Seite. Halte ihre Hand.
Bete zu Gott, dass er sie uns nicht wegnimmt. Es geht einfach nicht. Er kann nicht so einen Menschen wie Shane einfach aus dem Leben nehmen.
Shane ist ein guter Mensch. Sie hat ein Herz aus Gold. Jeder, der sie näher kennt, weiß das. Shane würde ihr Leben geben, um ihren Freunden zu helfen.
Und jetzt liegt sie hier. So hilflos.
Warum sie?

Die Tür öffnet sich. Ich drehe mich um. Anna und Al stehen da. Beide mit offenem Mund. Die Angst steht ihnen aufs Gesicht geschrieben.
Ich stehe auf und gehe auf die beiden zu.

„Hallo, Anna. Gut, dass du da bist.“
Ich umarme sie flüchtig. Sie ist unfähig, zu reagieren, zu sprechen.
Ich zerre Alice aus dem Zimmer, um Anna einige Zeit allein mit Shane zu geben.

Auf dem Gang wartet Tina.
Alice setzt sich neben sie.
„Oh, mein Gott.“
Tina legt den Arm um ihre Schultern. Dann wendet sie sich an mich.
„Die Polizei war gerade hier. Sie haben den Kerl geschnappt, der Shane das angetan hat.“

Ich weiß nicht, ob ich froh oder wütend sein soll.
Ich bin froh, dass sie ihn aus dem Verkehr gezogen haben.
Doch gleichzeitig bin ich so wütend auf ihn, wie ich es noch nie auf irgendjemanden war. Er hat Shane in diese Lage gebracht. Wegen ihm wäre sie fast umgekommen.

„Sein Name ist Doug Sandman. Ein Drogendealer. Er war sofort geständig. Er sagte, Shane habe sich geweigert, ihm Drogen abzukaufen, da sei er ausgerastet.“
Ich balle meine Hände zu Fäusten.
„Am liebsten würde ich ihn erwürgen.“

~*~

Anna`s POV:

Langsam gehe ich auf das Bett zu. Beide Hände bedecken meinen Mund. Vielleicht, damit ich nicht schreie.
Sie liegt da. So bleich. So … leblos.
Sie so zu sehen, ist schrecklich. Shane. Die Starke. Der Fels in der Brandung. Plötzlich so schwach und hilflos.

Ich setze mich neben sie. Sehe sie an. Was würde ich in diesem Moment dafür geben, ihre Augen zu sehen? Ihre wunderschönen grünen Augen. Ich würde alles geben. Alles.

Vorsichtig nehme ich ihre Hand in meine. Ich beuge mich vor und streiche sie über meine Wange.
Ich kann die Tränen nicht mehr länger zurückhalten. Es geht einfach nicht. Sie strömen mir übers Gesicht. Ich schluchze und es scheint, als ob ich sämtliche Tränen der letzten 12 Jahre, die ich so mühsam versucht habe zurückzuhalten, nun loslasse.

Nach einiger Zeit beruhige ich mich wieder. Ich streiche Shane vorsichtig übers Gesicht. Zumindest über das, was man zwischen den Schläuchen und Verbänden davon sieht.
„Shane… Honey, kannst du mich hören?“
Ich seufze. Hatte ich tatsächlich irgendeine Reaktion erwartet?
„Shane, es… es tut mir so Leid. Ich… ich wollte dich nicht verlassen. Mir war nicht bewusst, was ich dir damit antun würde. Aber ich… ich wusste nicht, was ich tun sollte, da… da bin ich einfach weggerannt. Ich habe versucht, mich vor der Verantwortung zu drücken. Jetzt weiß ich, dass es falsch war. Dass ich hätte bei dir bleiben müssen. Dass ich dir hätte helfen müssen. Es tut mir so Leid.“
Wieder breche ich in Tränen aus.

„Miss, ist alles in Ordnung?“
Ich schrecke hoch. Eine Schwester steht da. Ich habe sie nicht bemerkt.
Ich wische meine Wangen mit meinen Händen ab.
„Ja… ja, mir geht`s gut.“
Sie nickt und kommt an Shanes Bett. Sie schreibt sich ihre Werte auf und wechselt einen Infusionsbeutel aus.

„Wofür sind die ganzen Infusionen?“
„Die an der linken Hand sind einmal ein Kreislauf stabilisierendes Mittel und zum andern eine Natrium-Bicarbonat-Lösung, also eine Salzlösung.“
Sie zeigt auf den Beutel, dessen Schlauch zum rechten Arm führt.
„Und das hier ist ein Antiepileptikum.“
„Antiepileptikum? Warum?“
„Nun, SHT-Patienten neigen zu epileptischen Anfällen.“
„Hatte sie einen?“
„Heute Nacht, ja.“
Ich zucke zurück.
„Aber das ist kein Grund zur Beunruhigung. Das passiert öfter.“

Ich halte das nicht aus. Ich weine. Weine mir die Seele aus dem Leib.
~*~

Bette`s POV:

Die Tür zu Shanes Zimmer steht offen. Gerade ist eine Schwester gekommen.
Ich habe beobachtet, wie Anna mit ihr gesprochen hat.
Dann hat sie angefangen zu weinen.

Ich gehe ins Zimmer und umarme Anna.
„Anna. Schatz, nicht weinen. Es wird wieder gut, ganz bestimmt. Hörst du? Shane schafft das.“
„Und wenn nicht?“
„Sie wird. Ich weiß es.“

Ich lüge. Natürlich weiß ich es nicht. Ich habe gerade genau das getan, was Minuten vorher Tina mit mir gemacht hat. Nun weiß ich, dass auch Tina sich nicht sicher ist, wie es mit Shane weitergeht. Genauso wie ich jetzt Anna, wollte sie mich trösten. Mir Hoffnungen machen.

„Anna, wie wäre es, wenn du erstmal mit zu uns kommst und dich ausschläfst?“
„Ich bleibe hier“, sagt sie bestimmt.
„Anna. Sei doch vernünftig. Du bist müde vom Flug, von der Zeitumstellung. Das sehe ich doch. Und in deinem Zustand kannst du Shane auch nicht helfen.“

Dann schaltet sich Alice ein, die mit Alice und Tina in der Tür steht. Die Krankenschwester ist anscheinend gegangen.
„Ich bleibe hier, wenn du willst. Ich werde auf sie aufpassen, bis du wieder kommst. Das verspreche ich dir.“
Anna nickt leicht.
Sie legt Shanes Hand vorsichtig wieder zurück. Nach einem weiteren kurzen Blick auf Shane, geht sie hinaus. Tina und ich verabschieden uns von Alice und folgen dann Anna.

~*~

Alice`s POV:

Ich streichle über Shanes Hand.
„Siehst du? Du musst einfach wieder gesund werden, Yoda. Anna liebt dich, das ist doch klar. Und du liebst sie. Und das weißt du. Und genau deswegen kannst du uns und vor allem Anna nicht einfach so verlassen.
Du hast uns einen großen Schrecken eingejagt, weißt du. Ich hätte nie gedacht, dass du einmal in einer solchen Situation landen könntest. Du warst es doch immer, die alles geregelt hat. Diejenige, die immer für alle da war. Du, Dana und ich… wir sind doch das Dreamteam, oder?
Ach ja, übrigens, ich soll dir viele liebe Grüße von Dana ausrichten. Sie hat Training, aber sie hat versprochen, dich bald zu besuchen.

Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Dana und ich… nun ja, wir… wir sind zusammen. Dana ist toll, nicht wahr? Und ich finde, wir passen gut zusammen. Und soll ich dir noch etwas verraten? Der Sex… ist der Hammer.“

Ich kichere. Dann halte ich inne. Was mache ich hier überhaupt? Mir ist eigentlich nach Weinen zumute. Aber irgendwie kann ich nicht weinen. Ich denke nicht, dass das Shane hilft. Vielleicht braucht sie einfach etwas Unterhaltung. Jemand muss mit ihr reden. Ihr zeigen, dass man da ist und sie auf dem Laufenden hält. Vielleicht kann sie es ja hören.

~*~

Bette`s POV:

Ich führe Anna in unser Gästezimmer.
„Hier… leg dich etwas hin. Ruh dich aus.“
„Danke, Bette. Ich… ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll.“
„Du brauchst uns nicht zu danken, hörst du? Wir tun das wirklich gern. Weißt du, wir… irgendwie fühlen wir uns verantwortlich für Shane. Wir haben immer versucht, für sie so etwas wie… wie die Eltern darzustellen, die sie niemals hatte.“

Anna nickt kurz.
„Sie hatte keine leichte Kindheit, oder?
Ich sehe sie an. Zögere.
„Nein, ganz und gar nicht. Shane hat die Hölle durchgemacht.“

~*~

Anna`s POV:

Ich frage nicht weiter nach. Ich spüre, dass Bette mehr über Shane weiß, als jeder andere.
Bette bedeutet Shane sehr viel. Und genauso viel bedeutet Shane auch für Bette.

Ich will die Geschichte von Shane`s Vergangenheit nicht von Bette hören. Shane soll sie mir persönlich erzählen.
Und ich hoffe, das werde ich. Ich hoffe, ich bekomme die Chance, Shane`s Stimme zu hören. Ihre Augen zu sehen.

Sie muss aufwachen. Sie kann mich nicht einfach verlassen. Es wäre nicht richtig.
Aber ich kenne sie. Sie wird kämpfen. Und ich hoffe, sie wird den Kampf gewinnen. Den Kampf gegen den Tod.

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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 Betreff des Beitrags: Re: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:30 
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Kapitel 14


Anna`s POV:

Stillschweigend sitze ich am liebevoll gedeckten Frühstückstisch. Tina hat sich wirklich Mühe gegeben. Doch ich kann nichts essen. Ich bringe einfach nichts runter.

Ich bin immer noch müde. Der Jet Lag zeigt eindeutig seine Wirkung. Aber das ist mir egal. Das Einzige, an das ich im Moment denken kann, ist Shane.
Warum musste das passieren? Warum? Diese Frage stelle ich mir schon den ganzen Morgen. Warum passiert immer den Menschen etwas, die ich am meisten liebe? Die ich am meisten brauche? Was um alles in der Welt mache ich denn falsch?

„Anna, ist alles in Ordnung?“
Tina sieht mich über den Tisch hinweg an. Und ich frage mich, wie sie mich so ansehen kann. Wie sie mich so etwas fragen kann.
„Nichts ist in Ordnung!“, sage ich. Etwas zu laut. Zu hart.
„Tut mir Leid.“
Ich seufze und stütze meinen Kopf in die Hände.
„Nein. Mir tut es Leid. Ich hätte dich nicht so anfahren dürfen. Es ist nur….“

Tina steht auf und kommt zu mir. Legt ihren Arm um mich.
„Ist schon gut. Beruhige dich.“
Ich sehe sie an.
„Tina, wenn… wenn sie stirbt, dann… ich könnte nicht weiter leben. Ich könnte das nicht durchstehen.“
„Hör mir jetzt mal ganz genau zu…“, sagt sie und erneut sehe ich ihr tief in die Augen, während eine leise Träne über meine Wange kullert. „Shane wird nicht sterben. Sie ist stark. Und sie liebt dich. Sie würde dich nicht einfach allein lassen.“

„Ich hab sie auch allein gelassen. Und nur wegen meiner Dummheit liegt sie jetzt in diesem Krankenhaus und kämpft um ihr Leben.“
„Selbstvorwürfe helfen ihr jetzt auch nicht.“
„Ich fühle mich schuldig, verstehst du?“
„Du bist aber nicht schuld daran.“
Wieder seufze ich.

„Die Vorstellung von ihr in diesem Bett… die Vorstellung, dass sie dort ganz alleine liegt, macht mich verrückt.“
„Dann fahr zu ihr. Rede mit ihr. Lies ihr etwas vor.“
„Meinst du, sie kann uns hören?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich glaube fest daran.“

Ich nicke leicht. Dann hebe ich meinen Kopf.
„Kannst du mich in die Klinik fahren?“
Tina lächelt und nickt.
„Klar.“

~*~

Bette`s POV:

Ich sitze in meinem Büro an meinem Schreibtisch und kann mich nicht konzentrieren. Kann nur an Shane denken.

Ich habe eben von meinem Chef den Auftrag bekommen, Verträge, die mit einigen Ausstellern abgeschlossen worden sind, durchzugehen. Doch ich sitze nur da. Starre auf die Papiere.

Dann schießt mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf.
Dave.
Verdammt. Ich habe ihn vorgestern einfach stehen gelassen. Auf der Straße. Ich bin mit Shane in den Krankenwagen gegangen. Hatte nicht mal mehr die Möglichkeit, ihm zu danken.

Ich greife nach meinem Handy, das in meiner Handtasche steckt und gehe meine Kontaktliste durch. Dave. Er ist tatsächlich noch eingespeichert.
Ich drücke auf den grünen Hörer und hoffe inständig, dass er immer noch die gleiche Nummer hat.

Ich warte ein paar Sekunden. Und jemand hebt ab.
„Dave Colvin.“
Danke. Danke. Danke.
„Dave? Hi, hier ist Bette.“
„Bette. Hallo. Schön, von dir zu hören. Ich wollte dich eigentlich schon anrufen, aber ich wusste nicht….“
„Ist schon gut, ich… ich rufe an, weil ich dir danken will. Danke, dass du den Krankenwagen gerufen hast und….“
„Das war das Mindeste, was ich tun konnte.“
„Trotzdem. Ich wäre in diesem Moment nicht in der Lage gewesen, ein Telefon zu bedienen. Also noch mal: Danke!“
„Wie geht es eigentlich deiner Freundin. Shane, oder?“
„Ja… es geht ihr, nun ja… schlecht. Ich… ich weiß nicht, was ich machen soll. Niemand kann etwas für sie tun und das macht mich wahnsinnig.“
„Hat man den Kerl, der ihr das angetan hat, denn schon geschnappt?“
„Ja… es war irgendein Drogendealer. Shane wollte ihm nichts abkaufen. Da ist er ausgerastet. Ich schätze, die Polizei ruft mich in den nächsten Tagen an, sie wollen mich verhören. Vielleicht muss ich sogar vor Gericht aussagen.“
„Ich würde auch aussagen. Schließlich hab ich alles gesehen.“
Ich lächle, auch wenn er es nicht sehen kann.
„Danke.“

Wir reden noch eine Weile. Über Bilder. Ausstellungen. Künstler. Er versucht, mich abzulenken. Doch niemand kann mich im Moment von Shane ablenken.

~*~

Alice`s POV:

„Ist alles okay?“
Ich schrecke hoch. Dana steht vor mir.
„Ja… mir geht`s gut. Wo warst du?“
Sie beugt sich zu mir herunter und küsst mich sanft auf die Schläfe.
„Beim Training. Ich wollte dich nicht wecken, also hab ich mir einfach deinen Schlüssel genommen.“
Ich nicke kurz.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“
Ich sehe sie an und mir steigen Tränen in die Augen. Ich schüttle den Kopf.
„Ist was mit Shane? Geht es ihr schlechter?“
Wieder schüttle ich den Kopf.
„Nein… nein, ich… ich mach mir nur solche Vorwürfe. Bei unserem letzten Treffen hab ich ihr vorgeworfen, dass sie nicht in der Lage wäre, ihre Gefühle zu zeigen und… verdammt, ich will sie nicht verlieren.“
„Das wirst du nicht. Sie wird leben.“

Ich seufze.
„Selbst wenn, die Chancen stehen schlecht, dass sie wieder genau so wird wie früher. Vielleicht wird sie ein totaler Pflegefall.“
„Sie wird kämpfen. Und wir müssen versuchen, sie nach Kräften zu unterstützen. Wir müssen für sie da sein.“
Ich nicke leicht und lehne mich an sie.

„Weißt du was? Lass uns ins Planet gehen. Einen Kaffee trinken. Uns etwas ablenken.“
Eigentlich ist es eine gute Idee. Ablenkung tut uns allen gut.
„Okay.“

~*~

Anna`s POV:

„Joanna überkam im ersten Augenblick Angst, als sie die Schlange sah. Aber als sie mit großen Augen auf den gewaltigen regenbogenfarbigen Körper blickte, als sie die märchenhaften Symbole und Bilder um sie herum, als sie die Brüste der Schlange betrachtete und erkannte, dass sie als ein weibliches Wesen dargestellt war, erfasste sie große Ehrfurcht und eine wunderbare innere Ruhe.
Joanna ahnte, dass diese Schlange vor vielen, vielen Jahren, vielleicht Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden an die Felswand gezeichnet worden war. Wie viele Hände hatten dieses einzigartige Kunstwerk erschaffen? Während sie sich langsam der Schlange näherte, die viele Meter groß und so lang war, dass Joanna ihr Ende nicht sah, staunte sie über die künstlerische Vollkommenheit dieser Felszeichnung – jede einzelne Schuppe auf dem Schlangenleib war mit großer Sorgfalt gezeichnet und koloriert. Die Schlange wand sich bunt schimmernd in Ehrfurcht gebietender Entfaltung ihrer ganzen Kraft von einem Ende der Höhle zum anderen. Zahllose Generationen mussten an diesem Werk beteiligt gewesen sein.
Während Joanna noch immer wie gebannt die riesige Regenbogenschlange betrachtete, entdeckte sie unter der Farbe bunte Gesteinsschichten im Fels. Geschwungene rote, orangene, braune und grüne Streifen zogen sich über die Wand. Je länger sie darauf blickte, desto deutlicher wurde ihr bewusst, dass die Schlange bereits im Stein vorhanden gewesen war, lange bevor die Farbe auf die Felswand aufgetragen wurde.
Sie sah sich in der Grotte um. Die hohe gewölbte Decke, die säulenartigen Stalaktiten, die primitiven Felszeichnungen an den Kalksteinwänden und das geisterhaft grüne Schimmern schufen die Atmosphäre eines überirdischen Heiligtums.
Ein kleiner Fluss wand sich durch die Grotte. Joanna entdeckte überall auf dem Felsboden verstreut Trinkgefäße – Kürbisflaschen, Kokosnussschalen, Becher aus Rinde und Ton, ausgehöhlte Steine. Sie alle waren mit denselben mystischen Symbolen versehen, die die Regenbogenschlange umgaben – Symbole für Leben und Sterben, dachte Joanna, Symbole der Weiblichkeit. Hier hatten jahrtausendelang die geheimen Rituale der Frauen stattgefunden. Denn hier kam das Wasser aus dem Bauch der Erde, hier begann das Leben.
Joanna griff nach einem Tonbecher und tauchte ihn in das kristallklare Wasser. Sie hob den Becher an die Lippen und trank.“

Ich blicke von meinem Buch auf. Frage mich, ob Shane mich hören kann.

Tina hat gesagt, ich solle ihr irgendetwas vorlesen.
Wahrscheinlich kennt Shane das Buch nicht. Es ist mein Lieblingsbuch. „Traumzeit“ von Barbara Wood. Es geht um eine junge Frau, die das Geheimnis ihrer Eltern aufdecken möchte. Die Geschichte spielt in Australien.
Ich liebe dieses Land. Leider war ich noch nie dort. Doch die australischen Ureinwohner, die Aborigines mit ihren Traumpfaden und ihren zahlreichen Mythen und Geheimnissen faszinieren mich irgendwie.

Wenn Shane wieder gesund ist, dann werde ich zusammen mit ihr dort hin gehen. Nur wir beide.
Ich seufze. Hoffe, dass wir die Möglichkeit dazu bekommen.

~*~

Bette`s POV:

Ich öffne die Tür zum Planet und gehe hinein. Alle Leute starren mich an. Ihre mitleidigen Blicke können sie sich sparen. Wie schnell sich eine solche Nachricht doch in der Szene verbreitet.
Ich sehe Kit an einem Tisch sitzen und gehe auf sie zu.

„Hi, Kit.“
Sie blickt von ihrer Zeitung auf.
„Oh, hey, Baby-Sis.“
Sie steht auf und umarmt mich.
„Wie geht`s Shane?“
Ich setze mich auf den Stuhl gegenüber von Kit.
„Na ja… den Umständen entsprechend, würde ich sagen.“
„Wird sie wieder gesund?“
Ich seufze und sehe sie an.
„Das wissen wir nicht. Wir müssen abwarten, bis sie aufwacht.“
„Dass so was ausgerechnet ihr passieren muss, wo sie schon soviel andere Sachen hat, mit dem sie fertig werden muss, das… ist einfach ungerecht.“

Ich nicke und denke daran, dass alle anderen gar nicht die ganze Wahrheit über Shane wissen. Sie wissen gar nichts von der verdammten Scheiße, die Shane schon durchstehen musste. Sie haben doch alle keine Ahnung.
„Ist alles in Ordnung?“
Mit ihrer Frage reißt sie mich aus meinen Gedanken.
„Was? Äh… ja. Ja, mir geht`s gut.“

„Hey, ihr.“
Ich drehe mich um. Alice und Dana.
„Hi“, sagen Kit und ich im Chor.

~*~

Alice`s POV:

Wir setzen uns an den Tisch.
Schweigen. Niemand weiß etwas zu sagen.

Dass Dana und ich zusammen sind, weiß bis jetzt nur Shane. Und ob sie es gehört hat, ist fraglich. Aber ich glaube, im Moment wäre nicht der richtige Zeitpunkt, es zu verkünden.
Marina kommt an den Tisch und nimmt unsere Bestellungen auf. Sie fragt nicht nach Shane. Und es ist wahrscheinlich besser so.
Sie geht wieder weg und wir schweigen weiter vor uns hin.

~*~

Anna`s POV:

Ich weine wieder. So sehr ich mich auch dagegen wehre, es geht einfach nicht. Vielleicht bin ich doch nicht so stark, wie ich immer dachte.

Ich nehme Shane`s Hand in meine und seufze. Über meine Wange rollen die Tränen.

„Shane, es tut mir so Leid. Es tut mir alles so unendlich Leid. Ich hätte nicht weggehen dürfen. Ich hätte dich nicht alleine lassen dürfen. Dann wäre das alles nicht passiert.
Aber ich musste gehen. Ich musste einfach, verstehst du?“

Wie sollte sie das verstehen?
Ich atme tief durch. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Wenn sie wieder aufwacht, werde ich ihr alles erzählen.

„Weißt du, Shane… ich hatte vor vielen Jahren eine Freundin. Ihr Name war Laura. Wir haben uns sehr geliebt.“
Ich zögere. Warum erzähle ich ihr das? Sie kann mich doch gar nicht hören. Aber vielleicht tut es gut, wenn ich mir die ganze Geschichte endlich von der Seele rede.

„Laura und ich… wir waren glücklich. Ich meine, es war nicht einfach. Meine Eltern wussten nicht, dass ich mit ihr zusammen war. Ich konnte es ihnen nicht erzählen. Sie hätten es nicht verstanden. Niemandem haben wir es erzählt.
Aber trotzdem waren wir glücklich. Dieses eine Jahr, in dem ich mit ihr zusammen war… ich war so… erfüllt. Ich hab mich wohl gefühlt, verstehst du? Ich habe… gelebt.“

Ich verstumme. Denke an die Zeit zurück, die ich mit Laura verbracht habe. Ich muss lächeln. Und gleichzeitig weinen. Nie habe ich um sie geweint. Es scheint mir, als ob ich die Tränen der letzten 12 Jahre nun fallen lasse.

„Und dann… wir waren über ein Jahr zusammen, da… da ist es passiert. Es war Winter. Glatteis. Laura hatte gerade erst ihren Führerschein gemacht. Und sie… sie… es gab einen Unfall. Sie starb, Shane, sie starb. Das war der schlimmste Tag in meinem Leben.“

Ich breche endgültig in Tränen aus. Mit meiner freien Hand wische ich mir übers Gesicht.
„Ich habe sie doch so geliebt. Sie war mein Ein und Alles“, schluchze ich zwischen den Tränen.

„Ich… die letzten zwölf Jahre war ich so unglaublich unglücklich. Ich hatte nicht nur mit ihrem Tod zu kämpfen, sondern auch damit, dass ich mich niemandem öffnen konnte. Das heißt, ich hätte gekonnt… aber ich wollte es nicht. Unsere Beziehung… sie ging niemanden etwas an. Das war etwas zwischen uns. Und ich wollte, dass es zwischen uns bleibt.“

Immer noch weine ich, doch ich beruhige mich langsam wieder.
Es tut so gut, darüber zu sprechen. Auch wenn niemand da ist, der mir zuhört, ist es dennoch eine Befreiung.

„Ich habe mir Vorwürfe gemacht. Ich wollte nicht mehr leben. Nicht ohne sie. Ich war so unglücklich.
Und dann bin ich hierher gekommen. Und ich habe dich kennen gelernt.“
Ich lächle jetzt.

„Lange wollte ich mir nicht eingestehen, dass ich dich liebe. Lange habe ich mir es selber verwehrt, dich zu lieben. Die Liebe zuzulassen. Doch es ging nicht. Ich konnte mich nicht einfach vor der Liebe zwischen uns verschließen. Dafür war sie viel zu stark.
Nach Laura dachte ich, ich könnte nie wieder eine Frau so lieben wie sie. Doch du hast mir wieder gezeigt, wie man liebt. Wie man fühlt. Und es tat so gut.
Ich fühle mich wohl bei dir, verstehst du? Ich liebe dich. Und ich weiß, dass du mich auch liebst. Ich sehe es. In deinen wunderschönen grünen Augen sehe ich es.
Du kannst mich nicht einfach so alleine lassen, hörst du? Es geht nicht. Ich brauche dich. Ich habe schon Laura verloren. Wenn du mich jetzt auch noch verlässt, dann… ich könnte nicht mehr leben.“
Ich seufze.

„Bitte, Shane… lass mich nicht allein. Du bist mein Leben. Und wenn du mich verlässt, dann nimmst du mir damit auch mein Leben. Ohne dich kann ich nicht sein.“
Ich nehme ihre Hand und küsse sie.

~*~

Alice`s POV:

Ich halte diese Stille nicht mehr aus.
Natürlich ist es nicht still. Um uns herum reden und lachen die Leute. Sie sind fröhlich. Doch das Schweigen zwischen uns macht mich wahnsinnig.

„So kann es nicht weiter gehen….“
Bette sieht zu mir auf.
„Was meinst du?“
„Wir helfen Shane nicht damit, dass wir uns die ganze Zeit anschweigen.“
„Wenn wir reden, hilft es ihr auch nicht.“
„Aber vielleicht hilft es uns.“

Erneut sieht mich Bette an. Dann fängt sie langsam an zu nicken.
„Ja, das stimmt. Wir können uns jetzt nicht verkriechen. Es ist schwer, aber wir sind es, die nun stark sein müssen. Für Shane.“

Ich lächle. Und weiß, dass Bette Recht hat.
Shane war immer für uns und unsere Probleme da. Jetzt ist sie krank und braucht uns mehr denn je. Wir müssen für sie da sein. Dürfen uns nicht vor den Problemen verstecken, sondern sie in Angriff nehmen und versuchen, sie zu lösen. Und das werden wir.

„Ähm… vielleicht ist das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, aber…“.
Ich sehe Dana an und lächle.
„Was?“, fragt Tina. Auch die anderen sehen mich fragend an.
Ich atme tief ein. „Dana und ich… wir sind zusammen.“
Alle kommen, um uns zu umarmen. Sie freuen sich mit uns. Wir lachen. Zum ersten Mal seit dem Unfall können wir uns ein wenig freuen. Vielleicht ist es nicht fair gegenüber Shane. Während sie in diesem Krankenbett liegt, amüsieren wir uns hier. Aber wie Bette gesagt hat: wir können nicht ewig schweigen.


Kapitel 15


Am nächsten Tag…

Bette`s POV:

Ich konnte heute einfach nicht arbeiten. Habe mir frei genommen.
Stattdessen bin ich wieder im Krankenhaus.
Anna arbeitet, um sich abzulenken. Ich glaube, ihr hilft es. Aber ich kann nicht.
Ich sitze auf einem Stuhl im Wartezimmer und warte auf Doktor Cohen.
Was will sie mir nur sagen? Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes mit Shane.

Ein paar Minuten später kommt Dr. Cohen zur Tür herein und begrüßt mich. Anschließend geleitet sie mich in ihr Büro, wo ich mich wieder hinsetze.
Ich kann mich nicht zurückhalten. Sitze wie auf Kohlen.
„Geht es ihr nicht gut?“
Sie sieht mich an und zögert.
„Im Prinzip schon.“

Oh, mein Gott, sag, dass das nicht wahr ist. Bitte lass es ihr nicht schlechter gehen.
„Was heißt das?“
„Nun ja, es ist das eingetroffen, was wir von Anfang an vermutet haben. Durch das künstliche Koma, was gleichzeitig einen Mangel von Nahrung mit sich zieht. Miss McCutcheon ist ohnehin schon untergewichtig und das Koma hat dazu geführt, dass sie in den wenigen Tagen ca. zehn Kilo ihres ursprünglichen Gewichts verloren hat.“

Verdammt. Das darf doch nicht wahr sein. Zehn Kilo. Das kann doch gar nicht sein. Bei ihr macht das mehr aus als bei vielen anderen. Dr. Cohen hat Recht, sie ist so dünn.
Dann frage ich mich, wie sie sie gewogen haben, in diesem Bett. Ich verkneife mir die Frage.
„Und… was haben Sie nun vor zu tun?“
„Es bleibt uns nichts anderes übrig, als Miss McCutcheon aus dem Koma zu holen und sie dann künstlich zu ernähren. Und auch, wenn wir somit nicht die optimalen Erholungschancen ausschöpfen können, können wir nicht mehr länger warten.“
„Ich verstehe.“

Ich bin kurz davor, zu weinen. Spüre die heißen Tränen, die in mir hochsteigen. Doch ich halte mich zurück. Will meine Gefühle nicht vor der Ärztin zeigen.
„Wir werden also jetzt alles einleiten.“
Ich nicke.
„Wie lange dauert es, bis sie aufwacht?“
„Das ist schwer zu sagen. Es ist bei jedem Patienten anders.“

Ich stehe auf. Dann wende ich mich noch einmal Dr. Cohen zu.
„Kann ich zuschauen? Ich meine, ich würde sie gern sehen.“
Nach kurzem Zögern stimmt sie zu.

~*~

Anna`s POV:

Ich habe mich in die Arbeit gestürzt. Seltsamerweise scheint jeder im Büro zu wissen, was passiert ist. Umso erstaunter waren alle, als ich hier aufgetaucht bin.
Doch ich kann nicht anders. Es tut mir gut zu arbeiten, ich kann mich ablenken. Ich kann nicht den ganzen Tag alleine zu Hause herum sitzen und nichts tun.

Meine Chefin hat mir einen neuen Auftrag gegeben. Sie meinte, ich wäre die Beste dafür. Ich soll eine Hochzeit planen. Mit allem Drum und Dran. Eine lesbische Hochzeit. Zwei Frauen wollen sich in Long Beach das Ja-Wort geben.
Wie romantisch. Eine Hochzeitszeremonie am Strand. Unter Palmen. Nachts. Mit lauter Kerzen. Lichterketten. Alles, was dazu gehört.

Ich beneide diese Frauen. Vielleicht habe ich auch irgendwann die Chance dazu, meine eigene Hochzeit zu planen. Mit Shane.
Ich weiß. Wir sind erst kurz zusammen und ich denke schon an Hochzeit. Unwillkürlich muss ich lächeln. Dann wird mein Blick wieder ernst. Sind wir überhaupt zusammen? Schließlich habe ich sie verlassen, bevor ich weg ging. Was ist, wenn sie wieder aufwacht und mich nicht sehen will?
Nein, sie liebt mich. Ich liebe sie. Das wird nicht geschehen.

~*~

Bette`s POV:

Dr. Cohen führt mich in den Vorraum, wo ich eine von den grünen Kutten überziehe, die vor Infektionen schützen. Dann gehen wir zusammen in Shanes Zimmer. Was ich dort sehe, schockiert mich zutiefst.

Sie liegt in ihrem Bett und ist scheinbar die Hälfte von dem, was sie war. So dünn. Ihr Gesicht. Eingefallen. Ringe unter den Augen. Immer noch überall Blutergüsse, die langsam eine gelb-grüne Farbe annehmen.
Langsam verstehe ich, wie die Ärztin auch ohne Waage sagen konnte, dass Shane abgenommen hat.

Anscheinend bemerkt Dr. Cohen meinen Schockzustand.
„Schädel-Hirn-Trauma-Patienten verlieren sehr schnell an Gewicht. Manche verlieren innerhalb weniger Tage mehr als 15 Prozent ihres Gesamtgewichts. Da Miss McCutcheon ohnehin untergewichtig ist, hat sie während der letzten beiden Tage einen enormen Gewichtsverlust erlitten.“

Ich sehe wieder zu Shane. Was wird sein, wenn sie aufwacht? Wird sie uns erkennen? Wird sie sich bewegen können? Wird sie sprechen können?
Die Antworten auf all diese Fragen machen mir Angst.

An Shanes Bett stehen noch ein Arzt und eine Schwester. Bereit, für den Eingriff. Bereit, Shane aus dem Koma zu holen.
„Wenn Sie ihr den Schlauch herausnehmen… kann sie denn alleine atmen?“
„Sie müsste stabil genug sein, um alleine atmen zu können. Um sicher zu gehen, legen wir ihr noch einen Schlauch in die Nase, der ihr das Atmen erleichtert und ihr zusätzlich Sauerstoff verschafft.“
Ich nicke.
„Miss Porter, ich muss Sie nun bitten zu gehen. Sie können vor der Tür warten.“
Wieder nicke ich nur. Bin nicht im Stande, irgendetwas zu sagen.

~*~

Alice`s POV:

Ich bin auf dem Weg zu Annas Büro. Marina hat mir aus der Küche des Planets etwas zu essen für sie mitgegeben. Wie ich sie kenne, hat sie heute noch keinen Bissen gegessen, sondern sich geradewegs in die Arbeit gestürzt, um sich abzulenken.

Erst mal musste ich herausfinden, wo sie überhaupt arbeitet. Aber als Journalistin hat man ja so seine Quellen. Ein paar Anrufe und ich wusste es.

Ich betrete das große Gebäude, das ziemlich in der Nähe des Planets liegt und nehme den Aufzug in den dritten Stock.
Als ich die Tür zu Annas Büro öffne, sieht sie mich überrascht an.
„Alice! Was… wie hast du mich gefunden?“

Ich grinse.
„Tja… ich bin Journalistin. Vor mir kann man nichts geheim halten. Und dein Name steht unten an einer großen Tafel, also war das überhaupt kein Problem.“
„Natürlich nicht.“

Sie scheint irgendwie entspannter zu sein als gestern. Natürlich ist dies nur die Fassade, die sie vor den anderen bewahrt. Ich weiß, dass sie jede Minute an Shane denkt und sich Sorgen macht.
„Ich bring dir etwas zu essen. Von Marina.“
„Oh, danke. Das ist echt lieb von dir, aber… eigentlich hab ich gar keinen Hunger.“
„Du musst was essen. Vergiss nicht: du musst stark bleiben.“
Sie seufzt und nimmt mir die Gabel, die ich ihr hinhalte, aus der Hand.

~*~

Bette`s POV:
Ich stehe vor Shanes Zimmer und sehe durch die Glasscheibe in der Tür hinein. Schaue zu, was die Ärzte mit ihr machen.

Ich sehe, wie Dr. Cohen Shanes Kopf vorsichtig nach hinten beugt. Wie sie den langen Schlauch aus ihrem Hals langsam herauszieht.
Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es ist, einen solch langen Schlauch im Hals stecken zu haben. Will es gar nicht. Schon beim Gedanken daran wird es mir schlecht.
Sie legt den Schlauch auf ein silbernes Tablett, das ihr die Schwester reicht, während der andere Arzt an Shane einen grünen Schlauch mit kurzen Enden für die Nasenlöcher befestigt, der sie weiterhin beim Atmen unterstützen soll.

Nun nimmt er einen anderen, sehr viel längeren Schlauch und schiebt ihn in ihre Nase. Immer weiter und weiter.
Verdammt. Wo will er denn hin damit? Dann erinnere ich mich, dass Dr. Cohen gesagt hat, Shane müsse künstlich ernährt werden. Demnach führen sie den Schlauch in ihren Magen.
Nachdem der Arzt noch ein paar Minuten geschoben hat, klebt er ihr über Beatmungsschlauch und Magensonde ein Pflaster.
Scheiße. Was machen die nur mit ihr? Es ist so schrecklich, das mit anzusehen.

Dr. Cohen schließt den Schlauch an eine Infusionsflasche an und hängt sie an den Ständer, während die Schwester eine andere Flasche abnimmt und anschließend den Katheter wechselt.
Die Ärztin legt Shanes Kopf wieder in die richtige Position und kommt jetzt auf die Tür zu.

„Alles ist gut gegangen. Sie atmet. Das Mittel, das Miss McCutcheon im künstlichen Koma hielt, wird ab sofort nicht mehr eingesetzt. In ein paar Stunden wird sie aufwachen. Dann können wir Genaueres über ihren Zustand sagen.“

~*~

Alice`s POV:

„An was arbeitest du denn?“
„Eine Hochzeit. Ein lesbisches Pärchen will sich am Huntington Beach das Ja-Wort geben.“
„Wie romantisch.“
„Ja, find ich auch. Ich freue mich richtig, dass ich das Event planen darf. Nicht nur, weil es mich ablenkt.“
„Sondern?“

Sie sieht mich an. Bin ich zu neugierig?
„Na ja… ich ähm… das bedeutet Übung für mich, für… meine eigene Hochzeit.“
Mit großen Augen sehe ich sie an.
„Welche Hochzeit?“

Das Telefon klingelt und ich platze fast vor Neugier. Denkt Anna wirklich an eine Hochzeit mit Shane? Unserer Shane?
Ich lächle. Anscheinend ist sie sich wirklich sicher, dass sie wieder gesund wird. Und das ist gut so.

Anna hebt den Hörer ab.
„Hallo?... Hi Bette!“
Interessiert habe ich den Kopf. Ich hoffe, mit Shane ist alles in Ordnung.
„Heute schon? In ein paar Stunden… ja, okay. Ja, ich komme so schnell wie möglich.“

Kann sie nicht den Lautsprecher anstellen? Sie weiß genau, dass Alice Pieszecki immer alles genau und vor allem sofort wissen muss.
„Gut. Danke, Bette, dass du mir Bescheid gesagt hast. Ja, bis später.“
Sie legt den Hörer auf und sieht mich an. Ihr Blick ist ernst.

„Alles in Ordnung?“, frage ich vorsichtig.
„Ehrlich gesagt, ich bin mir nicht ganz sicher. Shane wird heute aufwachen, sie haben sie aus dem Koma geholt.“
„Was? Warum?“
„Mehr weiß ich auch nicht. Bette musste wieder auflegen. Ich soll ins Krankenhaus kommen.“

~*~

Anna`s POV:

Alles geht viel schneller, als ich mir das vorgestellt habe.
Wieso haben sie sie heute schon aus dem künstlichen Koma geholt? Soweit ich das mitbekommen habe, dient dieses Koma dazu, die Heilungschancen zu verbessern. Aus welchem Grund lassen sie sie dann aufwachen und verschlechtern absichtlich ihre Chancen auf Heilung? Lassen sie leiden?
Ich hoffe nur, es ist nicht irgendetwas passiert.

„Anna?“
Alice holt mich aus meinen Gedanken. Ich habe ganz vergessen, dass sie da ist.
„Alles okay?“
„Ja… kommst du mit in die Klinik?“
Ich schaue sie an. Irgendwie sieht sie so aus, als ob sie damit nicht gerechnet hätte. Aber Alice und Shane stehen sich so nahe. Und Shane braucht jetzt jede Unterstützung, die sie kriegen kann.
„Natürlich.“

Ich rufe zu meiner Chefin durch, um ihr zu sagen, dass ich ins Krankenhaus fahre. Ich bin froh, dass sie mir freigibt. Sie ist ein Engel.
Dann fahren wir los.

~*~

Bette`s POV:

Ich halte Shanes Hand in meiner. Sehe sie an. Sehe die Schläuche, die über ihrem ganzen Körper verteilt sind. Die Verbände am Kopf und um die Brust.
Ich höre das stetige Piepsen der Maschinen. Es macht mich wahnsinnig. Doch gleichzeitig beruhigt mich, dass es so gleichmäßig ist.

Zwar ist der große Beatmungsschlauch nun weg, doch ihr Gesicht bietet trotzdem keinen schönen Anblick. Überall Blutergüsse. Kratzer. Nähte. Die Lippen sind blass. Rau. Ihr einst so schönes Gesicht. Nichts davon ist übrig. Was gäbe ich dafür, sie lachen zu sehen!

Schon bald wird sie aufwachen. Doch was wird dann los sein? Vielleicht wird sie nie wieder wie früher. Allein der Gedanke daran macht mir zu schaffen. Treibt mir die Tränen in die Augen. Ich halte sie zurück.

Die Tür hinter mir öffnet sich. Ich blicke über meine Schulter.
Anna kommt herein. Mit Alice.

~*~

Anna`s POV:

Shane sieht noch schlimmer aus als gestern. Gut, der riesige Schlauch ist aus ihrem Gesicht verschwunden, doch es sieht immer noch nicht besser aus. Ich hoffe nur, dass sie durch die künstliche Ernährung wieder ein paar Kilo zulegt.

„Hi Anna. Hi Alice.“
„Hallo Bette“, sagen wir im Chor.
„Anna, sie haben Shane extubiert, um sie künstlich ernähren zu können und…“.
„Ja, ich weiß“, werfe ich ein, „wir haben unterwegs hierher Dr. Cohen getroffen, sie hat uns erklärt, was los ist.“
„Oh, okay.“

~*~

Bette`s POV:

Wieder wird die Tür geöffnet.
Dr. Cohen kommt herein.
„Guten Tag.“
Sie tritt an Shanes Bett und schreibt sich ihre Werte auf. Kontrolliert die Infusionen.
Dann wendet sie sich an uns.

„Lange wird es nicht mehr dauern, bis sie aufwacht. Wenn das passiert, wird sie noch sehr desorientiert sein. Deswegen würde ich Sie bitten, dass nur einer bei ihr bleibt. Zumindest am Anfang. Andernfalls wäre sie viel zu überfordert, verstehen sie?“

Ich nicke kurz.
Dann sehe ich zu Anna und öffne den Mund, doch Alice kommt mir zuvor.
„Anna, ich glaube, du solltest bei Shane bleiben. Wir kommen dann später.“
„Ja… danke.“
„Ist doch klar.“

~*~

Alice`s POV:

Bette und ich gehen langsam hinaus. Die Ärztin folgt uns. Ich werfe noch einen kurzen Blick zurück auf Anna, die sich auf den Stuhl neben dem Bett niedergelassen hat und Shanes Hand hält.

Ich seufze.
„Geht`s dir gut?“, höre ich Bette sagen, nachdem wir unsere Kutten ausgezogen haben und nun auf dem Weg in die Cafeteria sind.
„Ja… ja, ich mach mir nur solche Gedanken. Um Shane.“
„Hm… wer tut das nicht… alle machen sich Gedanken.“
„Ich hab Angst, Bette. Ich hab Angst, dass sie nicht mehr so wird wie früher. Meine Shane. Mein Yoda.“

Bette lächelt bei dem Kosenamen, den ich Shane gebe. Doch dann wird sie wieder ernst.
„Sowas würde uns Shane nie antun, oder? Ich meine, sie ist unsere Freundin.“
„Ich hoffe, du hast Recht.“

„Ich sollte Tina anrufen und ihr sagen, was los ist.“
„Tu das. Vielleicht kann sie auch herkommen.“
Bette nickt und greift nach ihrem Mobiltelefon.

~*~

Anna`s POV:

Ich sehe auf meine Armbanduhr. Eineinhalb Stunden sind vergangen, seitdem Bette und Alice hinausgegangen sind. Es kommt mir viel länger vor.

Ich habe die Zeit damit verbracht, Shane von meinem Tag heute und insbesondere von meinem neuen Auftrag zu erzählen. Doch bis jetzt kein Zeichen, dass sie aufwacht. Nichts.

Dann denke ich an meine Eltern. Seitdem ich in den Flieger gestiegen bin, habe ich mich nicht mehr bei ihnen gemeldet. Ich fühle mich fast schuldig. Gerade jetzt, als das Verhältnis zwischen uns sich bessert. Ich muss das nachholen. Unbedingt.

Plötzlich spüre ich etwas in meiner Hand. Ein Druck, kaum merklich, und doch ist er da.
Shane. Sie wacht auf. Sie drückt meine Hand. Ganz leicht.
Ich stehe von meinem Stuhl auf.
„Shane?“
Keine Reaktion.

Ich sehe hinüber zur anderen Hand. Ganz langsam fangen die Finger an, sich zu bewegen.

Sie hat die Augen noch geschlossen. Der Mund zuckt. Die Lippen kleben aneinander, doch sie bewegen sich.

Ich beuge mich leicht über sie.
„Shane?“
Sie drückt die Augen zusammen.
Kann sie mich hören?

Ich beobachte, wie sie sich bemüht, die Augen zu öffnen. Sie schafft immer einen Spalt, doch das Licht, auch wenn es ein dunkles, dämmriges Licht ist, überwältigt sie.
Sie versucht mit all ihrer Kraft gegen dieses Licht anzukommen.

Dann, nach ein paar weiteren Versuchen, gelingt es ihr. Zuerst sieht sie an mir vorbei. Es scheint, als ob sie Probleme hat, scharf zu sehen.

Dann wandert ihr Blick weiter. Bleibt stehen. Bei mir.
Sie sieht mich an. Mit ihren wunderschönen grünen Augen. Mit den Augen, in die ich mich verliebt habe.


Kapitel 16


Anna`s POV:

Sie starrt mich an. Auf ihrem Gesicht keine Regung. Ich bekomme Angst.
Ich drücke den roten Knopf auf dem kleinen Gerät, das neben ihr auf dem Bett liegt, um die Ärztin zu rufen.

„Shane?“
Nichts.
„Shane? Honey, kannst du mich hören? Sag doch was. Bitte.“
Dann sehe ich, wie eine Träne von ihrem Auge ganz langsam über ihre Wange läuft.
Warum weint sie?

Dr. Cohen kommt zusammen mit einer Krankenschwester ins Zimmer. Sie tritt ans Bett und schiebt mich vorsichtig weg.
Als ich mich von Shane entferne, sehe ich, dass ihre Augen mir folgen. Sie weichen nicht von mir.
Erkennt sie mich?

„Miss McCutcheon?“, höre ich Dr. Cohen sagen.
Shane zeigt weiterhin keine Reaktion.
Dann wendet sich die Ärztin an mich.
„Würden Sie bitte raus gehen? Wir werden einige Untersuchungen durchführen, um die Ausmaße der Schäden festzustellen. Gehen Sie doch derweilen in die Cafeteria, wir werden Sie dann holen, wenn wir hier fertig sind.“

Alles, was ich tun kann, ist nicken. Mit einem letzten Blick auf Shane, die mich immer noch anstarrt, drehe ich mich um und gehe hinaus.

~*~

Shane`s POV:

Anna. Das war Anna. Meine Anna. Sie ist wieder da.

„Miss McCutcheon?“

Aber wer ist das? Sie hat ein kleines Schild auf der linken Brust, doch ich kann es nicht lesen.
Warum bin ich hier? Oder besser: Wo bin ich hier? In einem Krankenhaus? Wie bin ich hierher gekommen? Was ist passiert?

„Miss McCutcheon!“

Jemand ruft meinen Namen. Ich höre es, wie aus weiter Ferne.
Wo ist Anna? Warum ist sie nicht mehr da? Sie hat mich allein gelassen. Hat sie?
Ich will, dass sie her kommt.
Ich will ihr so viele Dinge sagen.

Anna.
Anna.
Wo ist sie?
Anna.
Wo?
Anna.

„Sauerstoff. Schnell.“

Ich kann nicht mehr atmen. Meine Gedanken kreisen nur um Anna. Meine Anna. Sie darf nicht gehen. Nicht noch einmal.

Ich fühle eine Hand in meinem Nacken. Jemand richtet mich ein Stück auf. Ich spüre etwas über meiner Nase. Über meinem Mund. Ich weiß nicht, was es ist, aber es hilft mir zu atmen.

~*~

Anna`s POV:

Geistesabwesend laufe ich durch die große Halle in Richtung Cafeteria. Warum hat sie geweint? Und warum hat sie nichts gesagt?

„Anna.“
Ich blicke auf. Es sind alle da. Bette und Tina und Dana und Alice. Sie haben tatsächlich gewartet. Sie winken mich zum Tisch.
Ich gehe auf sie zu und lasse mich in einen Stuhl fallen.
„Ist sie aufgewacht?“

Ich sehe sie wieder vor mir. In ihrem Bett. Mit offenen Augen. Ich sehe, wie diese eine Träne über ihre Wange kullert. Ihr leerer Blick, als wenn sie durch mich hindurch schaut. Was hat das alles zu bedeuten?

„Anna?“
Bette reißt mich aus meinen Gedanken.
„Was?“
„Shane… ist sie aufgewacht?“
Alle blicken mich erwartungsvoll an.
„Ja“, sage ich nur.

~*~

Bette`s POV:

Shane ist aufgewacht. Gott sei Dank. Ich bin so froh. Sie wird leben, unsere Shane.
Ich spüre das Gefühl der Erleichterung in mir hochsteigen. Doch gleichzeitig ist da die Angst. Die Angst vor dem, was uns noch erwartet.

Anna. Warum sagt sie nichts? Mein Gott. Hoffentlich ist nichts Schlimmes mit Shane.
„Wie geht es ihr?“, frage ich vorsichtig.
Anna sieht mich an und zuckt leicht mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Sie haben mich rausgeschickt.“
„Hat sie etwas gesagt?“
„Nein… nein, sie… sie hat mich nur angestarrt. Minutenlang hat sie mich nur so angesehen. Und dann… dann hat sie geweint. Es war nur eine Träne, aber….“
„Warum?“, fragt Alice dann.
„Ich weiß es nicht. Ich… vielleicht wegen mir. Weil ich sie allein gelassen habe. Weil ich an allem Schuld bin.“

Tina legt einen Arm um ihre Schulter.
„Anna, das ist doch Schwachsinn, du bist nicht Schuld daran.“
“Ich hab sie allein gelassen.“
„Du brauchtest Zeit für dich, das ist doch verständlich. Jetzt warte erst mal ab. Sie wird untersucht, und dann kannst du zu ihr. Es wird sich alles aufklären, du wirst sehen.“
Sie nickt.

Alle machen sich Selbstvorwürfe. Anna, weil sie Shane verlassen hat. Ich, weil ich nicht auf sie aufgepasst habe. Alice hat mir gesagt, dass auch sie sich ein wenig die Schuld dafür gibt, weil sie sich mit Shane gestritten hat.
Langsam glaube ich, dass niemand von uns Schuld hat. Es ist passiert und daran können wir nichts mehr ändern. Vielleicht war es das Schicksal.

~*~

Shane`s POV:

Da sind zwei Frauen. Ich weiß nicht, wer sie sind. Ich kann nichts erkennen. Sehe nur Konturen. Ich glaube, es sind Krankenschwestern.

Die eine beugt sich über mich. Leuchtet mir in die Augen.
„Miss McCutcheon, hören Sie mich?“
Ich versuche etwas zu sagen, doch es geht nicht. Alles, was ich heraus bringe, ist ein krächzendes Geräusch.
„Können Sie mich hören?“
Ich nicke.

Immer noch habe ich dieses Ding über Mund und Nase. Es stört mich. Ich versuche, meine rechte Hand zu bewegen, doch es funktioniert nicht. Ich nehme die linke und führe sie langsam zu meinem Gesicht. Alles tut mir weh.
Die Schwester nimmt meine Hand und legt sie wieder aufs Bett.
Dann nimmt sie dieses Ding und zieht es mir vom Mund.

„Wissen Sie, wo sie sind?“
„Ka… kan….“
Mehr bringe ich nicht zu Stande, doch sie versteht mich.
„Richtig. Im Krankenhaus. Wissen Sie auch, warum?“
Ich versuche, mich zu erinnern, doch irgendwas fehlt. Es ist fast so, als könnte ich die Lücke in meinem Kopf spüren. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist Anna. In meinem Zimmer.

~~~~~

„Shane, ich muss mit dir reden.“
„Ann, es tut mir Leid! Es tut mir so schrecklich Leid. Ich weiß nicht … ich wollte nicht … Ann, ich weiß, dass ich … ein Drogenproblem habe, aber … aber bevor ich dich kennen gelernt habe, hatte ich … einfach keinen Grund, aufzuhören, verstehst du?“
„Shane … es geht nicht, okay? Es geht einfach nicht. Nicht so.“
„Was? Was meinst du damit, es geht nicht?“
„Das mit uns. Ich …“.
„Nein! Ann, nein. Sag, dass das nicht wahr ist. Bitte sag mir, dass das verdammt noch mal nicht wahr ist! Ich brauche dich, ich … ich liebe dich! Das kannst du nicht machen!“
„Doch, Shane, ich kann. Ich fliege heute noch nach Deutschland zu meinen Eltern. Ich weiß noch nicht, wann ich wieder komme, also …“.
„Ann, bitte, tu mir das nicht an!“

~~~~~

Wieder habe ich Probleme beim Atmen. Ich bekomme keine Luft. Das alles ist zu viel.

Meine Sicht wird langsam etwas klarer. Ich sehe mich im Zimmer um. Drehe meinen Kopf und sehe nur Maschinen und Schläuche, die zu meinem Körper führen.
Was ist nur passiert? Ich will fragen, doch ich bin zu schwach.

~*~

Alice`s POV:

„Was machen die nur so lange mit ihr?“
Ich drehe hier durch, wenn ich noch länger warten muss.
Bette dreht sich zu mir und legt ihre Hand auf meinen Arm.
„Beruhige dich. Die Untersuchungen dauern eben eine Zeit. Aber sie lassen uns bestimmt bald zu ihr.“

Tina, Dana und Anna stehen an der Kuchentheke. Anna muss unbedingt etwas essen, auch wenn es ihr schwer fällt.
Ich blicke zu Dana und lächle ein wenig. Ich stelle mir vor, in der Situation von Anna zu sein. Ich wäre nie so stark wie sie es ist. Schnell verwerfe ich diesen Gedanken, allein die Vorstellung davon macht mich wahnsinnig.

Ich drehe mich wieder Bette zu.
„Ich hoffe so, dass es ihr gut geht. Dass sie keine schlimmen Folgeschäden davon trägt.“
„Ich würde das nicht ertragen.“
„Shane würde das nicht ertragen. Lieber würde sie sterben, als ein Leben lang ein Pflegefall zu sein und immer auf Hilfe angewiesen zu sein.“
Bette nickt kurz. Sie weiß, dass ich Recht habe, auch wenn es harte Worte sind.

~*~

Shane`s POV:

Diese Krankenschwester oder wer auch immer das ist, streift die Decke von meinem Körper.
Vorsichtig schaue ich an mir herunter. Jede Bewegung tut weh.
Alles, was ich anhabe, ist eine dieser hässlichen weißen Krankenhauskutten. Ich bin halb nackt.

„Miss McCutcheon, ich werde jetzt ihre Bewegungs- und Reaktionsfähigkeit testen. Wenn Sie etwas spüren, dann nicken Sie.“
Sie nimmt meinen rechten Arm und streift mit irgendetwas daran herunter. Ich kann nicht erkennen, was, aber ich fühle es.
„Spüren Sie das?“
Ich nicke leicht.
Sie legt den Arm wieder zurück aufs Bett.
„Können Sie die Finger bewegen?“
Ich bewege meine Finger auf und ab. Es tut nicht weh.

Sie streift über mein rechtes Bein. Schaut mich erwartungsvoll an.
Ich nicke wieder.
„Versuchen Sie, die Zehen zu bewegen.“
Ich tue, was man mir sagt. Es funktioniert.
Wieder streift sie über mein Bein. Diesmal über das linke.
Verdammt. Nichts. Kein Gefühl. Panik überkommt mich.
„Können Sie irgendetwas spüren?“
Ich atme schwer. Die Sauerstoffmaske ist immer noch über meinem Mund. Mir tut alles weh. Plötzlich schwitze ich.
„Miss McCutcheon, spüren Sie das?“
Noch einmal streift sie über mein Bein. Von oben nach unten. Ich fühle rein gar nichts.
Ich schüttle mit dem Kopf.
„Können Sie die Zehen bewegen?“
Ich versuche es. Doch es klappt nicht.
Wieder schüttle ich mit dem Kopf.
Nun hebt sie mein Bein an.
„Tut das weh?“
Erneutes Kopfschütteln.
Ich spüre die Panik immer mehr in mir hochsteigen.

„Wie sieht es denn mit dem linken Arm aus? Können Sie den bewegen?“
Wieder bemühe ich mich. Es ist schwer, doch ich schaffe es, den Zeigefinger ein bisschen zu bewegen.
„Spüren Sie das?“
Diesmal nimmt sie ihre Hand und knetet meinen Arm.
Es ist schwach, doch ich kann es fühlen, ein kleines bisschen.
Ich nicke.
„Ist das Gefühl schwächer als beim rechten?“
Noch einmal nicke ich.

Ich setze zum Sprechen an. Sie legt einen Finger auf ihren Mund, doch ich lasse mich nicht davon abbringen.
„Wa… wa-um….“


Sie sieht mich an. Ihr Gesichtsausdruck ist seltsam, obwohl ich immer noch nicht richtig sehen kann.
„Sie wissen nicht, warum Sie hier sind?“
Ich schüttle mit dem Kopf.
„Sie hatten einen schweren Unfall. Aber glauben Sie mir, die Erinnerung wird wieder kommen.“

„Ich muss Sie noch um ein wenig Geduld bitten, die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.“
Ich will gar nicht wissen, was noch alles kommt. Ich will, dass Anna wieder kommt. Ich brauche sie.

Diese Schmerzen im ganzen Körper bringen mich noch um.

~*~

Anna`s POV:

Jetzt warten wir hier schon über eine Stunde. Wenn nicht bald Dr. Cohen hier auftaucht, werde ich noch verrückt.

„Willst du noch etwas essen?“, fragt mich Bette.
„Nein, danke.“
Ich habe das Stück Kuchen vorhin schon fast nicht hinunter bekommen.
„Etwas trinken?“
„Ein Wasser wäre nett. Danke.“
Eigentlich habe ich gar keinen Durst.

Bette steht auf, um mir mein Wasser zu holen. Doch in dem Augenblick sehe ich Dr. Cohen auf uns zulaufen.
Ich springe auf. Und plötzlich sind auch die anderen auf den Beinen.
„Wie geht es Shane?“, platze ich heraus.
Dr. Cohen sieht mich an. Kann das etwas Gutes bedeuten?
„Kommen Sie bitte mit in mein Büro?“

~*~

Shane`s POV:

Was ist nur mit mir los? Was ist mit mir passiert?
Wo ist Anna? Wo sind die ganzen anderen? Warum sind sie nicht hier?
Was mache ich hier?

Die Fragen überwältigen mich.
Die Frau, die vorhin da war, muss mir irgendetwas gegeben haben. Ich bin müde. Die Schmerzen sind nicht mehr so stark.
Ich spüre, wie ich in den Schlaf drifte.
Doch davor schießt mir ein Gedanke in den Kopf. Ich kenne dieses Gefühl, dieses Gefühl des Friedens. Der Ruhe. Der Freiheit. Ich kenne es.
Wie oft hatte ich das Gefühl, frei zu sein. Im Drogenrausch. Im Heroinrausch.

~*~

Bette`s POV:

Anna hat mich gebeten, mit in Dr. Cohens Büro zu kommen. Die anderen warten draußen.
Wir setzen uns. Die Ärztin geht hinter ihren Schreibtisch und setzt sich ebenfalls.

„Ich habe mit Miss McCutcheon erste Tests durchgeführt. Natürlich werden wir sie in den nächsten Tagen weiter untersuchen, doch fürs erste reichen diese Tests, um das ungefähre Ausmaß der Schäden festzustellen.“

Oh mein Gott. Das hört sich nicht gut an. Anna neben mir seufzt. Ich nehme ihre Hand in meine. Sie sieht mich kurz an. Und in ihren Augen erblicke ich die pure Angst. Angst um Shane.
„Miss McCutcheon hat Schwierigkeiten, deutlich zu sehen. Dies deutet auf eine Lähmung des Augenmuskels hin. Wir können davon ausgehen, dass dies innerhalb weniger Wochen oder sogar weniger Tage vollständig heilt.“
Immerhin. Sie wird sehen. Doch was kommt noch?
„Außerdem hat sie Probleme, die linke Körperhälfte zu bewegen, insbesondere das linke Bein. Sie hat in diesem kein Gefühl. Dies kann bedeuten, dass Teile der rechten Gehirnhälfte beschädigt sind. Das muss aber nicht unbedingt sein. Es ist auch eher unwahrscheinlich, da sie sehr anwesend gewirkt hat. Sie hat auf alles reagiert.
Es kann auch daran liegen, dass bestimmte Muskeln und Gewebe funktionsunfähig sind. Diese Lähmungserscheinungen können durch eine spezielle Physiotherapie deutlich verringert werden.“
„Nur verringert? Ich meine… sie wird ihr Bein nie wieder richtig benutzen können?“
Ich bin außer mir.
„Das kann ich nicht genau sagen. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle. Der Wichtigste ist jedoch der Wille der Patientin.“
Sie sieht mich an. Ich blicke hinüber zu Anna, die ins Leere starrt.

Dr. Cohen fährt fort.
„Sie kann sich nicht mehr an die Geschehnisse erinnern. Sie weiß nicht, warum sie hier ist. Erinnerungslücken sind nach einem Schädel-Hirn-Trauma jedoch ganz normal.“
Wieder sieht sie mich an, doch ich sage nichts.

„Wie es scheint, leidet sie unter einer Sprachstörung. Durch die künstliche Beatmung wurde ihre Stimme sehr beeinträchtigt, deswegen lassen sich die Ausmaße noch nicht genau feststellen und es kann sogar sein, dass es nur von der Intubation kommt. Aber auch dies ließe sich durch logopädische Maßnahmen erheblich verbessern und in vielen Fällen auch heilen.“
Sie schaut in ihre Unterlagen.
„Das ist der bisherige Stand.“

Plötzlich scheint Anna aus ihrem Trance-Zustand zu erwachen.
„Was kann noch kommen?“
„Nun, viele Betroffene neigen zu Depressionen. Extreme wie totale Antriebslosigkeit oder ungebremste Aggressivität können auftreten. Die seelische Belastbarkeit ist oft sehr gering. Aber lassen Sie ihr Zeit. Miss McCutcheon hat eine schwierige Operation hinter sich. Und sie hat eine schwierige Zeit vor sich. Sie alle müssen ihr dabei helfen, wieder ein normales Leben zu führen.“

~*~

Anna`s POV:

Sie hat Recht. Wir alle müssen Shane zur Seite stehen. Sie braucht uns jetzt.
Ich werde für sie da sein. Ich werde ihr helfen.

Ich liebe sie so. Und ich weiß, dass sie mich auch liebt.

Sie hat dem Tod ins Auge geblickt. Doch sie lebt. Und keiner kann sie mir je wieder wegnehmen.

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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 Betreff des Beitrags: Re: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:31 
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Kapitel 17


Bette`s POV:

Immer noch sitzen Anna und ich in Dr. Cohens Büro. Die anderen warten draußen.
Anna scheint etwas ruhiger geworden zu sein.
Auch ich fühle mich etwas besser, auch wenn es eigentlich keinen Grund dazu gibt. Aber ich habe verstanden, dass jetzt nicht nur Shane stark sein muss, sondern auch wir. Auch wir müssen jetzt stark sein, um ihr helfen zu können.

„Wir haben ihr ein Sedativum kombiniert mit einem Schmerzmittel verabreicht, damit sie etwas schlafen kann.
Durch das Sedativum kann es in Einzelfällen zu einer Reduzierung des Atemantriebs kommen. Deswegen, und weil sich ihre Lunge noch nicht wieder vollständig regeneriert hat, haben wir ihr zusätzlich zur Atemunterstützung eine Sauerstoffmaske angelegt.
Miss McCutcheon hat außerdem starke Schmerzen, das ist aber normal bei einem Schädel-Hirn-Trauma. Dazu kommt noch das Stillliegen der letzten Tage. Durch den Mangel an Bewegung kommt es oft zu Spannungen im gesamten Körper.
Wir haben vor, morgen mit leichten physiotherapeutischen Übungen zu beginnen.“

Dann führt uns Dr. Cohen aus ihrem Büro, wo die anderen auf uns warten.
„Können wir zu ihr?“, fragt Anna.
Dr. Cohen sieht in die Runde, dann zu Anna.
„Nicht alle. Zu viel Besuch am Anfang kann die Patientin überfordern. Sie können meinetwegen zu zweit reingehen. Die andern müssen sich noch etwas gedulden.“

Ich schaue zu Tina.
„Bette, geh du mit Anna zu Shane, wir warten so lange in der Cafeteria.“
„Okay“, sage ich und folge Anna zu Shanes Zimmer.

Anna öffnet leise die Tür. Shane liegt friedlich schlafend da. Sie sieht schwach aus. Blass. Und doch lebt sie. Und sie wird gesund werden. Ich weiß es.

~*~

Anna`s POV:

Bemüht, Shane nicht aufzuwecken, stellen Bette und ich uns Stühle neben das Bett und setzen uns.
Ich sehe Shane an und streichle ihre Hand. Über dem Mund trägt sie eine Sauerstoffmaske.
Das einzige Geräusch im Raum ist das Piepen der Maschinen, die an Shane angeschlossen sind. Und obwohl ich es mittlerweile kenne, macht es mich fast wahnsinnig.

Shane wird bald aufwachen. Doch was soll ich dann tun? Was soll ich zu ihr sagen?
Immer noch sehe ich die einzelne Träne vor mir, die über ihre Wange gelaufen ist, während sie mich so traurig anschaute.
Wie soll ich ihr begegnen?

Ich sehe hinüber zu Bette. Sie lächelt. Erst zu mir. Dann zu Shane.
Shane hat einen starken Draht zu Bette. Ich glaube, Bette ist eine Art Mutterfigur für Shane. Und sie scheint die Einzige zu sein, die nicht nur Oberflächlichkeiten von Shane kennt. Sie weiß viel mehr über sie als sie zugibt.

Vielleicht ist es besser, Bette erst einmal mit Shane alleine zu lassen, wenn sie aufwacht. Vielleicht kann Bette eher zu Shane vordringen, als ich es kann.

Ich blicke kurz zu Shane und stehe dann auf. Bette sieht mich fragend an.
„Bette“, flüstere ich, „ich will, dass du erst allein mit ihr redest.“
„Warum?“
„Weil….“ Ich zögere. „Weil du ihre wichtigste Bezugsperson bist.“
Sie nickt.
Ich gehe aus dem Zimmer und mache mich auf den Weg in die Cafeteria.

~*~

Bette`s POV:

So ganz verstehe ich nicht, warum Anna Shane freiwillig mit mir allein lässt. Ich an ihrer Stelle würde die ganze Zeit über bei Shane bleiben wollen.

Aber vielleicht ist es auch ganz gut so.
Wenn sie aufwacht, wird sie Fragen stellen. Über den Unfall. Fragen, die nur ich ihr beantworten kann.
Außerdem ist es vielleicht auch für Shane leichter, mit mir zu sprechen als mit Anna.
Shane ist immer noch instabil. Sie darf sich nicht aufregen, das würde ihren Heilungsprozess nur gefährden.

~*~

Alice`s POV:

Tina, Dana und ich sitzen in der Cafeteria und reden. Über nichts Besonderes. Einfach über das, was uns gerade in den Sinn kommt.
Ich bin froh, dass wir wieder so reden können. Die letzten paar Tage war dies nicht möglich. Die Sorgen um Shane waren einfach zu groß.
Natürlich machen wir uns immer noch Sorgen um sie. Doch gleichzeitig sind wir nun zuversichtlich, dass sie wieder ganz gesund werden wird.

„Hey.“
Wir drehen uns um. Anna steht vor uns. Sie setzt sich auf den freien Stuhl.
Was macht sie hier? Warum ist sie nicht bei Shane?

Tina spricht das aus, was ich gerade gedacht habe.
„Bette ist bei ihr. Ich dachte, es wäre besser, wenn sie erst mal mit einer Person sprechen würde.“
„Und du denkst nicht, dass du diese Person sein solltest?“
Sie schüttelt mit dem Kopf.
„Nein. Shane hat zu Bette mehr Bezug als zu irgendjemand anderen. Shane vertraut ihr. Ich glaube, sie erzählt ihr Dinge, die sie sonst niemandem erzählt.“

Shane hat tatsächlich in Bette eine sehr wichtige Bezugsperson. Und ich glaube, umgekehrt ist es genauso.
Jeder geht zu Shane, wenn er Probleme hat. Doch Bette ist die einzige, zu der Shane geht, wenn sie Probleme hat.

~*~

Bette`s POV:

Shane ist unruhig im Schlaf. Ich vermute, dass sie Schmerzen hat.
Sie dreht ihren Kopf leicht hin und her und verzieht ihr Gesicht.

Ich lege meine Hand auf ihre und streichle sie sanft.
„Shane. Shane, wach auf.“

~*~

Shane`s POV:

Ich spüre eine Hand auf meiner.
Ich höre meinen Namen.
Diese Schmerzen. Sie machen mich wahnsinnig.

Langsam öffne ich die Augen. Noch immer kann ich nicht klar sehen. Die Ärztin hat gesagt, es dauert eine Weile, bis ich wieder völlig scharf sehen kann.

Ich sehe mich um.
„Shane.“
Da sitzt Bette.
Als ich sie sehe, schießen mir Bilder in den Kopf.

Anna – Marcus – Bette – eine Straße – Bette – Doug – ein Auto – Dunkelheit.

Ich weiß nicht, was diese Bilder bedeuten, kann nicht alle zuordnen.
Wieder bekomme ich schlecht Luft. Panik.

„Shane, ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung. Hörst du? Alles ist gut.“
Die Worte wirken beruhigend.
Ich sehe Bette wieder an.
Dann greife ich langsam mit der Hand nach diesem Ding über meinen Mund und ziehe es unters Kinn.
„Bette“, presse ich heraus. Und allein das strengt mich schon an.
Sie legt mir einen Finger auf den Mund.
„Bette“, sage ich wieder.

Sie streicht mir übers Gesicht. Über ihr Gesicht läuft langsam eine Träne.
„Ich bin so froh, dass du lebst“, schluchzt sie.
„Waas… i-ist… pasiiit…“.
Verdammt. Warum bringe ich nicht mal einen einfachen Satz heraus?
Bette sieht mich fragend an.
„Waas… i-ist… pasiiit…“, sage ich noch einmal und atme schwer unter der Anstrengung.
„Was passiert ist?“
Ich nicke.

Bette seufzt. Doch dann setzt sie zum Sprechen an.
„Wir waren auf dem Weg zu Alice. Du wurdest von einem Auto angefahren.“

~*~

Bette`s POV:

Ich kann die Anstrengung auf ihrem Gesicht sehen, mit der sie versucht, sich daran zu erinnern, was passiert ist.
„Du kannst dich nicht erinnern?“
Sie schüttelt langsam mit dem Kopf.

„Was ist das Letzte, an das du dich erinnern kannst?“
Ihr Gesichtsausdruck verfinstert sich und ihre Augen werden glasig. Hoffentlich habe ich nichts Falsches gesagt.
„Anna. Maa… Mein T… Zimmer.“
Sie scheint frustriert, dass sie nicht richtig sprechen kann.
„Anna in deinem Zimmer?“
Vorsichtig nickt sie.
„Willst du, dass ich sie hole?“
Noch einmal nickt sie.
„Okay, sie ist gleich bei dir.“

Ich stehe vom Stuhl auf. Sehe sie an.
„Und Shane, es wird alles wieder gut.“
Sie bringt ein kleines Lächeln zu Stande und ich gehe aus dem Zimmer.

~*~

Anna`s POV:

„Bette!“
Ich springe auf und laufe auf sie zu.
„Wie geht es ihr?“
Wir gehen zurück zum Tisch und setzen uns.
„Wie geht es ihr?“, frage ich noch einmal, dieses Mal etwas ungeduldiger.

Sie seufzt. Das kann nichts Gutes bedeuten.
„Den Umständen entsprechend. Sie hat große Schmerzen. Und Probleme beim Atmen, wir dürfen sie auf keinen Fall überanstrengen.“
Ich starre zu Boden. Ich spüre Tränen, doch ich halte sie zurück.

„Sie will, dass du kommst.“
Ich sehe Bette an.
„Wirklich?“
„Ja.“
Ich bleibe sitzen. Starre in die Leere.
„Was ist los?“, fragt Alice.
„Ich… ich habe Angst.“
„Wovor?“
„Ich… was, wenn sie mich hasst? Dafür, dass ich sie allein gelassen hat?“
„Anna, Shane würde dich niemals hassen. Sie liebt dich. Und sie braucht dich jetzt.“
„Sie hat geweint, als sie mich gesehen hat.“
„Anna, Shane hat geweint, weil das Letzte, an das sie sich erinnern kann, du bist, wie du in ihrem Zimmer stehst. Ich vermute, an dem Tag, an dem du nach Deutschland geflogen bist.“

Jetzt wird mir einiges klar.
Sie kann sich nur daran erinnern, wie ich sie verlassen habe. Und dann stehe ich plötzlich an ihrem Bett.
Sie muss sich schrecklich gefühlt haben.
„Anna, geh zu ihr.“
Tina legt ihre Hand auf meine.
Ich nicke langsam.
Dann stehe ich auf und gehe davon.

~*~

Alice`s POV:

Anna geht in Richtung Intensivstation.
Ich schaue zu Bette.
„Du siehst blass aus, Bette.“
„Ja, ich… es ist nur, ich habe Shane noch nie so verwundbar gesehen. Sonst war es immer sie, die sich um die anderen gekümmert hat, wenn es ihnen schlecht ging. Aber sie selbst hat nie Hilfe angenommen, wenn es ihr schlecht ging.“
„Ging es ihr denn sehr schlecht?“, fragt Dana
Bette schaut sie schockiert an.
„Na ja, ich meine… die letzten Wochen ging es ihr nicht gut, ich denke, das haben wir alle mitbekommen. Aber eigentlich war Shane doch immer sehr zufrieden mit ihrem Leben, oder?“
Bette sieht sie immer noch so seltsam an.
Anscheinend hat sie etwas Falsches gesagt
„Bette, was ist denn los?“, fragt Tina.
Bette schließt die Augen und atmet tief durch. Dann öffnet sie sie wieder und starrt uns böse an.
„Was los ist? Du fragst, was los ist? Sagt mal, habt ihr nie bemerkt, wie verdammt beschissen es Shane die ganzen Jahre ging?“

„Doch, das habe ich. Die vielen Frauen, der Sex. Ich habe ihr immer angeboten, mit mir darüber zu reden. Sie sollte endlich anfangen, lieben zu lernen. Doch dann hatte sie ja Anna, und ich dachte, es sei alles gut.“
Plötzlich springt Bette auf.

„Denkst du ernsthaft, ich rede von den Frauen?“
Dana, Tina und ich schauen Bette fragend an. Diese fängt an, mit dem Kopf zu schütteln.
„Wie blind seid ihr eigentlich?“
Mit diesen Worten und mit Tränen in den Augen dreht sie sich um und rennt auf den Ausgang zu.

Ich blicke zu den anderen.
„Was war denn das gerade?“

~*~

Shane`s POV:

Diese Schmerzen machen mich wahnsinnig. Ich halte das nicht mehr aus. Ich halte das alles hier nicht mehr aus.
Warum passiert mir so etwas? Habe ich es vielleicht verdient?

Ich schließe die Augen und versuche, die Schmerzen zu verdrängen. Versuche, an etwas Schönes zu denken. Anna.
„Shane?“
Ich öffne die Augen.
Anna.
Ist das ein Traum? Träume ich?
„Shane, ist alles in Ordnung?“
Sie streicht mir über die Hand und dieses Gefühl sagt mir, dass es kein Traum ist.
Vorsichtig nicke ich.

Langsam steigen mir Tränen in die Augen.
„Ii… bin… s… so- fooh, daas duu wiieder da bi-st.“
Ich strenge mich so an, doch manche Buchstaben wollen sich einfach nicht formen lassen.
Mir steht der Schweiß auf der Stirn. Von der Anstrengung. Und von den Schmerzen.
Ich hebe meine Hand, um mir die Sauerstoffmaske wieder über Mund und Nase zu ziehen.
„Ganz ruhig, Shane, ich bin da. Ich… ich bin auch froh, dass ich wieder hier bin. Und glaub mir, Shane, ich lass dich nie wieder allein. Nie wieder. Ich liebe dich. So sehr.“
Diese Worte lösen irgendetwas in mir aus. Eine Erinnerung, die ich nicht zuordnen kann. Oder zumindest Stücke davon.
Ich erinnere mich an Laura. Einen Autounfall. Tod. Liebe.
Anna hat mir davon erzählt. Doch wann? Wann hat sie mir von ihrer großen Liebe Laura erzählt?
Ich weiß es nicht.
Doch ich belasse es erst einmal dabei und antworte: „Ii… liieebe dii aau.“
Sie weiß, was ich meine, auch wenn ich es nicht richtig aussprechen kann.

Ich ziehe mir die Maske vom Gesicht und sie küsst mich.
Dieses Gefühl.
Es tut so gut.
Ich will es nie mehr missen.

~*~

Bette`s POV:

Ich sitze auf dem Rand des Brunnens vor der Klinik und weine. Ich kann nicht anders.
Wieso sind die anderen so kalt? Haben sie wirklich geglaubt, Shane hatte keine Probleme? Keine Sorgen? Keine Ängste?
Jeder normale Mensch hätte doch bemerkt, dass Shane jahrelang einem Abgrund nahe war. Die Drogen. Die ganzen Frauen, der Sex.

Ich blicke auf und sehe Tina auf mich zukommen. Ich drehe mich weg, kann ihr nicht in die Augen schauen.
„Hey Bette.“
Sie setzt sich zu mir.
„Hey.“
Sie legt mir eine Hand auf die Schulter.
„Was war denn da drin nur los mit dir? Ich meine, du bist völlig ausgerastet.“

„Du willst wissen, warum ich so ausgerastet bin? Weißt du das wirklich nicht?“
Verdammt. So wollte ich sie nicht anfahren.
Sie schüttelt mit dem Kopf und sieht mich fragend an.
„Habt ihr denn die ganzen Jahre lang nicht gemerkt, wie verletzlich Shane wirklich war? Welche Probleme sie hatte?“
Tina schaut mir tief in die Augen. Ich sehe ihr an, dass sie sich genau überlegt, was sie als nächstes sagt.

„Bette, ich denke, wir alle wissen, dass dich und Shane ein besonderes Band verbindet. Ich war oft eifersüchtig deswegen.“
Sie war eifersüchtig? Ich will etwas sagen, doch ich lasse sie weiterreden.
„Wir wissen, dass du die Einzige warst, die zu ihr durchdringen konnte. Dass du die Einzige warst und bist, die mehr über sie weiß, als wir anderen zusammen.
Aber für uns hat Shane immer fröhlich gewirkt. Als jemand, der sein Leben lebt und genießt. Sie hat uns nie gezeigt, dass es vielleicht anders sein könnte, verstehst du? Sie konnte sich anscheinend gut verstellen. Und das hat sie auch immer getan. Niemand von uns hat irgendetwas bemerkt. Außer du. Du wusstest, was in ihr vorging. Dir hat sie mehr erzählt, als jedem anderen, verstehst du? Du hast sie gekannt. Und damit warst du die Einzige.“

Ich sehe sie an. Und ihre Augen verraten mir, dass alles was sie sagt, stimmt.
Ich lehne mich an sie und schließe die Augen.
„Du hast Recht. Es tut mir Leid.“
„Es braucht dir nicht Leid tun. Du bist auch nur ein Mensch. Wir müssen einfach versuchen, Shane so gut zu helfen, wie wir können. Und vielleicht haben dann auch wir die Chance, sie besser kennen zu lernen.“

Wieder sehe ich sie an. Sie wischt mir die Tränen aus dem Gesicht und wir umarmen uns.


Kapitel 18


2 Tage später…

Bette`s POV:

Es sind nun zwei Tage vergangen, seitdem Shane aufgewacht ist. Es geht ihr immer noch nicht gut, aber zumindest etwas besser. Sie schläft viel, und das ist auch gut so.
Sie spricht schon viel besser. Manche Laute, die ihr vorgestern noch viele Probleme bereitet haben, kann sie jetzt fehlerfrei aussprechen. Und sie sagt, dass sie schon um einiges klarer sehen kann.

Ich bin so froh, dass es ihr besser geht. Aber sie hat immer noch Schmerzen. Außerdem macht der Ärztin, wie sie sagt, Shanes linkes Bein Sorgen. Sie hat auch Schwierigkeiten, den linken Arm zu bewegen, aber die Ärztin meint, sie könne ihn spätestens in ein paar Wochen wieder problemlos bewegen. Zum Glück. Denn andernfalls wäre sie vielleicht nicht mehr in der Lage, ihren Beruf auszuüben.
Aber was wird mit dem Bein werden? Was, wenn es gelähmt bleibt und sie es nie mehr richtig benutzen kann?

Ich bin auf dem Weg zu Shanes Zimmer. Dort angekommen, sehe ich, wie Dr. Cohen gerade aus dem Raum tritt und auf irgendeinen Zettel in ihrer Hand blickt. Ihr Gesichtsausdruck verrät mir nichts Gutes.
„Guten Morgen.“
Sie sieht auf und lächelt.
„Guten Morgen, Miss Porter.“
„Wie geht es Shane.“
„Nun ja, sie ist immer noch sehr schwach. Sprechen fällt ihr sehr schwer, es ist pure Anstrengung für sie. Aber es ist auch schon viel besser geworden, durch die Sprechübungen, die unsere Logopäden mit ihr machen.
Ihr Gesundheitszustand hat sich soweit verbessert, dass wir sie von der Intensivstation auf eine normale Station verlegen können.
Des Weiteren schlägt die Physiotherapie eigentlich ganz gut an, aber…“.
„Das Bein“, vollende ich.
„Richtig. Das Bein macht mir Sorgen. Sie hat immer noch kein Gefühl darin. Das muss bis jetzt noch nichts heißen, es kann sich von einem Tag auf den anderen ändern, aber sollte dies nicht so sein, dann…“.
„Was dann?“
Ich werde etwas nervös.
„Nun ja, durch das Liegen und die Bewegungslosigkeit können sich unter Umständen Druckstellen bilden. Die Muskeln können sich zurückbilden. Und im schlimmsten Falle müssen wir amputieren. Es tut mir Leid.“

Ich stehe da wie vom Donner gerührt.
Amputation?
Nein, das kann nicht sein. Das darf einfach nicht geschehen.

~*~

Anna`s POV:

Ich sehe auf die Uhr. Gleich 8.
In einer halben Stunde treffe ich mich mit Alice. Wir fahren ins Krankenhaus zu Shane.

Plötzlich klingelt das Telefon. Wer kann das sein?
Ich hebe ab und bin überrascht, die Stimme meiner Mutter zu hören.
In Deutschland ist es jetzt 11 Uhr nachts. Ist sie extra so lange aufgeblieben, nur um mich anzurufen?

„Mensch, Kind. Warum meldest du dich denn nicht? Wir machen uns Sorgen um dich.“
Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich wollte ja anrufen, aber irgendwie hatte ich Angst davor. Ich weiß ja nicht, wie sie reagiert hätte, wenn ich ihr von Shane erzählt hätte. Unser gutes Verhältnis, das alles ist noch so neu für mich.

„Entschuldige bitte, Mama. Ich… es tut mir wirklich Leid, die letzten Tage gingen einfach drunter und drüber.“
Ein paar Sekunden herrscht Stille.
„Ja… ist schon gut. Nun sag schon, wie geht es deiner Freundin? Shane?“
Die Frage überrascht mich.
„Na ja, es… es geht ihr den Umständen entsprechend. Sie lebt, das ist erstmal das Wichtigste. Aber sie muss vieles über sich ergehen lassen und sie braucht jetzt viel Durchhaltevermögen. Aber ich bin mir sicher, dass sie wieder gesund wird.“
„Ja, Schatz, das wird sie. Bestimmt.“
Ich habe das Gefühl, sie will noch etwas sagen, doch sie zögert. Dann überwindet sie sich schließlich.
„Anna, ich dachte eigentlich, dass ihr… dass ihr uns vielleicht zu Weihnachten besuchen kommen könntet.“

An Weihnachten habe ich noch gar nicht gedacht. Es sind noch knapp 7 Wochen bis dahin.
„Mama, sei mir nicht böse, aber ich glaube kaum, dass für Shane so ein langer Flug gut wäre. Sie muss sich schonen. Ich weiß noch nicht mal, wann sie aus dem Krankenhaus kommt.“
„Ach so, ja.“
Sie klingt traurig.
Wieder habe ich ein schlechtes Gewissen.

Doch plötzlich schießt mir eine Idee in den Kopf.
„Aber warum besucht ihr uns nicht in L.A.? Ich würde mich freuen. Ehrlich.“
„Wirklich? Wäre das in Ordnung?“
„Klar. Ihr wollt doch bestimmt auch mal sehen, wie ich lebe, oder?“
„Ja, natürlich. Ach Anna, ich freu mich so.“

Nach einigem Small Talk sage ich ihr, dass eine Freundin von mir mich gleich abholt und wir verabschieden uns.
Ich hoffe nur, dass es Shane recht ist, dass ich meine Eltern zu Weihnachten eingeladen habe.

~*~

Shane`s POV:

Das alles hier macht mich verrückt.
Alles, was ich tue, ist hier auf meinem Bett liegen, an die Decke starren und den Geräuschen der Maschinen lauschen, die noch immer an mir angeschlossen sind.

Wann werden diese Schmerzen endlich zurückgehen? Die Schmerzen in meinem Kopf. In meiner Brust. In den Gliedern. Überall. Wann?
Jeder sagt mir, ich müsse Geduld haben. Und ich kann es langsam nicht mehr hören.
Geduld. Was ist das überhaupt für ein Wort? Es beschreibt einen Zeitraum, der vielleicht nie zu einem Ende kommt. Was, wenn es so ist? Was, wenn es nie wieder wird wie früher?

Ich meine, ich merke, dass ich Fortschritte mache. Meine Gelenke, außer die im linken Bein, kann ich jeden Tag besser bewegen. Meine Sicht wird immer klarer. Und die Erinnerung kommt langsam zurück.
Und trotzdem ist alles anders.

Ich habe mir viele Gedanken gemacht während der letzten beiden Tage. Genug Zeit dazu hatte ich ja.
Anna und ich haben uns zwar versöhnt. Dennoch ist eine Kluft zwischen uns. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Es muss etwas sein, worüber sie nicht oder nicht gern spricht. Vielleicht habe ich es geträumt, aber es ist, als ob mir eine innere Stimme ihre Geschichte erzählt hat. Während ich schlief. Während ich mit dem Tod kämpfte.
Aber ich will sie nicht darauf ansprechen, sie soll es mir von alleine sagen. Sie soll das Gefühl haben, dass sie mir vertrauen kann.

Ich verschweige ihr ja auch etwas.
Die Sache mit der Vergewaltigung. Mit der Prostitution. Mit den Drogen. Das alles will ich ihr zwar sagen, mein Vertrauen hat sie. Und doch kann ich es nicht. Ich habe Angst davor.

Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Bette kommt in mein Zimmer. Mit einer Schwester, die ich noch nicht kenne.
„Hey, Shane.“
Ich lächle Bette zu.
„Guten Morgen, Miss McCutcheon. Ich bin Schwester Lynda. Wie geht es Ihnen denn heute?“
„Besser.“
„Na, das freut uns doch!“

Lynda misst Fieber und meinen Blutdruck und gibt mir einen neuen Infusionsbeutel.
Dann lächelt sie mich an.
„Miss McCutcheon, ich habe gute Nachrichten für Sie. Wir denken, dass Sie soweit stabil sind, dass wir Sie eine Station tiefer legen können.“
Endlich. Endlich komme ich aus diesem Zimmer raus. Fast wäre ich hier durchgedreht. Kein Fenster, keine frische Luft. Nur das dunkle Zimmer, mit den weißen Wänden, dem schwachen Licht und all den Maschinen.

Schwester Lynda legt den Infusionsbeutel auf mein Bett und beginnt, die Schläuche von den Maschinen zu lösen und sie ebenfalls neben mich zu legen. Dann macht sie das Bett von den Befestigungen ab und beginnt zu schieben.
„Miss Porter, würden Sie die Tür bitte aufhalten?“
„Natürlich.“
Bette läuft zu der breiten Tür und hält sie auf, so dass die Schwester mich durchschieben kann. Und wider Erwarten passt das Bett auch tatsächlich durch.

Ich werde über sämtliche Gänge geschoben, dann in einen Aufzug, der uns ein Stockwerk tiefer bringt. Ein komisches Gefühl überkommt mich, doch sobald wir wieder auf dem Gang sind, ist es weg. Während wir durch einen Glastrakt kommen, kann ich kurz die Natur draußen beobachten, den wunderschönen Park rund um die Klinik mit den vielen Bäumen und Bänken überall. Wie gern wäre ich auch da draußen, frische Luft schnappen und die Vögel beobachten. So lange habe ich das alles schon nicht mehr gesehen. Zumindest kommt es mir so vor.

„So, Miss McCutcheon, wir sind da.“
Schwester Lynda schiebt mich in ein Zimmer auf den leeren Platz zu, wo sie mein Bett wieder festmachen wird.
Auf dem anderen Bett daneben sitzt eine ältere Frau, vielleicht Mitte Sechzig, die beide Arme eingegipst hat.
„Miss McCutcheon, das ist Misses Sullivan.”
“ Guten Tag, Misses Sullivan, nennen Sie mich ruhig Shane.”
„Hallo Shane, leider kann ich Dir nicht die Hand geben“, lacht sie, „ich bin Kathy.“
Wow. Ich darf sie Kathy nennen. Sie scheint wirklich nett zu sein.

Schwester Lynda hängt die Infusionsflasche wieder an den Ständer und beginnt, mich an die Maschinen anzuschließen. Zum Glück piepen diese aber nicht, sondern zeigen nur die Werte an.
Dann lässt sie uns allein.

~*~

Alice`s POV:

In der Klinik angekommen, steuern wir auf Shanes Zimmer zu. Anna geht voraus und man meint, sie will einen Marathon gewinnen, so schnell läuft sie. Ich komme fast nicht hinterher. Aber ich kann sie ja auch verstehen, sie will ihre Shane so schnell wie möglich wieder sehen.

Doch als wir auf die Intensivstation gelangen, sehe ich, dass die Tür offen steht und eine Putzkraft alles desinfiziert. Anscheinend ist das auch Anna gleich aufgefallen, denn sie bleibt stehen.
Was ist los?
Ich sehe Anna an und bemerke, dass alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen ist.

„Ann, was hast du?“
„Was ist da passiert? Wo ist Shane?“, sagt sie. Mehr panisch als normal.
„Ich weiß nicht, vielleicht ist sie in einem anderen Zimmer.“
„Wo ist sie? Ich will wissen, wo sie ist.“
Dann läuft sie auf die Putzfrau zu.
„Hallo. Können Sie mir sagen, wo Shane McCutcheon ist? Sie war bis gestern in diesem Zimmer.“
Die Frau schüttelt den Kopf.
„Tut mir Leid, Miss, das weiß ich leider nicht. Man hat mir nur gesagt, ich solle das Zimmer desinfizieren.“
„Oh mein Gott! Sie ist doch nicht … Nein. Nein, sie ist doch nicht etwa… „.
„Ann, beruhige dich. Das wird schon alles seine Richtigkeit haben-„
„Ich will mich nicht beruhigen, ich will wissen, wo Shane ist, verdammt noch mal!“

So aufgebracht habe ich sie noch nie gesehen.
„Komm, setz dich erst mal“, sage ich zu ihr, denn sie sieht sehr müde aus.
Wir gehen zu den Stühlen auf der anderen Seite des Ganges.
„Alice, was haben sie mit ihr gemacht? Wo haben sie meine Shane hin gebracht?“
„Ich weiß es nicht, Anna. Aber es klärt sich bestimmt alles auf.“

Nach einiger Zeit sagt Ann langsam: „Alice, sie ist doch nicht tot, oder? Sie lebt, nicht wahr? Sie muss leben. Sie kann mich nicht auch allein lassen“

Ihre Worte machen mich sprachlos. Was meint sie damit? Wer hat sie allein gelassen?
Ich stehe auf.
„Ich suche Dr. Cohen. Sie kann uns bestimmt weiterhelfen.“
Doch so weit komme ich nicht, denn die Ärztin kommt um die Ecke.
Anna springt sofort auf.
„Wo ist Shane?“, platzt sie heraus.
Die Ärztin sieht sie an.
„Wo ist sie? Wo haben Sie sie hin gebracht?“
Dr. Cohen packt Anna an den Schultern.
„Beruhigen Sie sich. Es ist alles in Ordnung. Wir haben Ihre Freundin auf ein anderes Zimmer verlegt.“

Auf Annas Gesicht ist deutlich die Erleichterung zu sehen. Und auch ich bin froh, dass nichts passiert ist.
Plötzlich fällt Anna Dr. Cohen um den Hals und fängt an zu weinen.
„Oh, Gott sei Dank. Ich danke Ihnen. Danke!“, schluchzt sie.
Die Ärztin legt ihre Arme um sie.
„Dafür bin ich da.“

~*~

Anna`s POV:

Niemand kann sich vorstellen, wie erleichtert ich gerade bin.
Ich habe wirklich geglaubt, Shane hätte es nicht geschafft und ihr Zimmer wäre deshalb leer.

Für ein paar Minuten habe ich geglaubt, ich verliere wieder das, was mir am wichtigsten ist. Das, was ich am meisten liebe. Shane.

... Kapitel 19


Shane`s POV

Während Kathy bei einer Untersuchung war, hat Schwester Lynda die Schläuche aus meiner Nase entfernt. Die, die mir beim Atmen geholfen und mich künstlich ernährt haben. Es war ein sehr komisches Gefühl und tat außerdem wirklich weh. Ich frage mich, wann ich wohl wieder einen Tag ganz ohne Schmerzen erleben kann… So ein Tag liegt wahrscheinlich noch in weiter Zukunft.
Ich bin müde. Noch vor ein paar Monaten war ich Tag und Nacht auf den Beinen und jetzt schafft mich schon sowas. Ich tue mir immer noch schwer beim Atmen, aber ich sage nichts.

Ich höre, wie jemand auf dem Flur ruft „Wo ist Shane?“ Es ist Anna. Wahrscheinlich war sie durch den Zimmerwechsel verwirrt. Dann höre ich, wie Anna mit Bette redet, die Lynda hinausgeschickt hat, während ich entschlaucht wurde. Ich meine, auch Alice zu hören.

„So, wir sind fertig“, sagt Schwester Lynda endlich, nachdem sie mir noch den Blutdruck gemessen hatte. „Ich hole ihre Freundin, Miss… Porter?“ Ich nicke. „Ich hole Miss Porter wieder herein.“
„Danke.“
Als sie schon fast bei der Tür ist, fällt mir noch etwas ein. „Schwester?“ Sie kommt noch mal zurück. „Miss McCutcheon?“
„Was ist mit Essen?“ Das Sprechen strengt mich noch immer an. „Ohne den Schlauch, kann ich…“. Ich atme schwer. „Kann ich…“.
„Ob Sie wieder normal essen können?“ Ich nicke. „Nun ja, Sie haben eine große Menge Gewicht verloren in den letzten Tagen. Darum müssen wir Sie ganz langsam wieder an normales Essen gewöhnen, denn schweres Essen kann Ihr Körper im Moment noch nicht verdauen. Wir fangen also mit flüssigen Speisen wie Suppen, Jogurt oder Früchtemus an.“
Na klasse. Ich werde wie ein Baby behandelt. Kann nicht mal anständige Nahrung zu mir nehmen.

Ich lächle Lynda an und sie geht hinaus. Spricht anscheinend kurz mit Bette und Anna. Mir zieht es die Augen zu. Ich bin so müde.



~*~

Anna`s POV

Die Schwester kommt aus Shane`s Zimmer. Wie ich gerade erfahren habe, haben sie ihr die Schläuche entfernt. Anscheinend hatte sie einige Schmerzen.
Ich will sie endlich wiedersehen. Nach diesem Schreck mit den Zimmern ist es das, was ich brauche.

„Sie können nun reingehn. Aber Miss McCutcheon ist sehr schwach, also bitte ich sie, alles sehr vorsichtig und langsam angehen zu lassen.“
Bette, Alice und ich betreten das Zimmer. Shane zu sehen, macht mich glücklich. Sie sieht immer noch sehr krank aus, aber wenn man bedenkt, wie nahe sie dem Tod war, hat sie Fortschritte gemacht.
Sie hat uns gehört und öffnet ihre Augen. Ich sehe ihr an, dass sie eigentlich lieber schlafen möchte. Aber als sie mich sieht, wird sie etwas wacher.
„Anna.“
„Shane.“
Ich will sie nicht aufregen und ihr die Zimmer-Story erzählen. Ich bin einfach froh, sie zu sehen.

„Wie geht es dir?“
Sie zuckt mit der rechten Schulter. „Besser.“
Es war klar, dass sie nicht zugeben kann, wie es ihr wirklich geht. „Und jetzt im Ernst?“
Sie sieht mich an. „Ich hab Schmerzen.“
„Ich bin mir sicher, sie werden bald vorübergehen. Wir werden dir alle helfen, damit du wieder richtig gesund wirst.“



~*~

Bette`s POV

„Sie hat Recht“, füge ich hinzu. Shane lächelt schwach. Dann wendet sie sich Anna zu. „Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch, Shane.“
Anna beugt sich zu ihr und küsst sie.
„Shane, ich… ich muss zur Arbeit. Glaub mir, ich wäre lieber bei dir, aber du weißt, dass ich noch nicht lange in der Agentur bin, da kann ich es mir nicht erlauben, ständig zu fehlen.“
Shane hebt ihren gesunden Arm und streicht ihr über die Wange. „Ich versteh das. Geh schon.“ Anna lächelt. „Danke.“

Anna verabschiedet sich von mir und flüstert mir noch ins Ohr, ich solle gut auf Shane aufpassen. „Mach dir keine Sorgen“, flüstere ich zurück. Damit gehen Anna und Alice, die zusammen hierher gekommen sind, hinaus.
„Bette.“
Ich trete an Shanes Krankenbett. „Danke, Bette.“
„Wofür denn?“
„Für alles. Ich… ich kann mich wieder an das erinnern, was… was ich dir gesagt habe. Ich…“.
Ich merke, dass sie sich zu sehr beim Sprechen anstrengt. „Nicht so viel reden, Shane.“
„Danke.“
Ich lächle. „Du brauchst dich nicht dafür bei mir zu bedanken. Ich finde es toll, dass du so viel Vertrauen aufgebracht hast, um es mir überhaupt zu sagen.“

Shane hört mir gar nicht mehr zu. Vielleicht zeigen sich nun die Konzentrationsschwächen, von denen Dr. Cohen gesprochen hat.
Shane sieht aus dem Fenster. Ich erkenne den sehnsüchtigen Blick auf ihrem Gesicht.
„Bette.“ Sie sieht mich nicht an, schaut weiter in Richtung Fenster.
„Meinst du, ich kann raus? Ich würde so gerne an die frische Luft. In die Sonne.“
So gerne würde ich ihr diesen Wunsch erfüllen. Doch wahrscheinlich ist es nicht möglich. Dennoch will ich sie nicht enttäuschen. „Ich werde sehen, was sich machen lässt. Ich werde mit der Ärztin reden. In der Zwischenzeit kannst du etwas schlafen.“


~*~

Shane`s POV

Es wäre so schön, raus zu können. In die Natur. Mal den Krankenhausgeruch aus der Nase zu bekommen und die pure Natur zu riechen. Die Sonne zu spüren. Ich glaube, dass es mir gut täte.
Ich hoffe, Bette kann die Ärztin davon überzeugen. Es wäre mir so wichtig.


~*~

Bette`s POV

Ich bin auf dem Weg zu Dr. Cohens Büro. Ich denke nach. Über Shane. Über den Unfall. Ich bin so froh, dass sie lebt. Und sie wird gesund werden. Bestimmt.
Vielleicht ist es naiv von mir, so zu denken, aber vielleicht hat dieser Unfall und das künstliche Koma, die Tage im Krankenhaus, auch etwas Gutes. Ich denke da an Shanes Heroinsucht. Sie wollte davon loskommen. Jetzt hat sie es indirekt geschafft. Sie darf nur nie wieder damit anfangen. Und dafür werde ich sorgen.

Ich habe Glück. Die Ärztin ist da. Ich klopfe und sie ruft mich herein.
„Ah, guten Tag, Miss Porter.“
„Dr. Cohen. Guten Tag.“
„Was kann ich denn für Sie tun?“
„Nun ja, ich möchte gerne mit Ihnen über Shane sprechen. Sie würde so gerne raus an die frische Luft. Meinen Sie, es wäre möglich, dass ich Sie in einem Rollstuhl etwas im Park herumfahre?“
Die Ärztin sieht mich skeptisch an. Verständnisvoll, aber skeptisch.
„Ja, also… sie wird ja jetzt nicht mehr künstlich ernährt oder beatmet, von daher wäre es natürlich kein Problem. Allerdings hat sie ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Nach Operationen am offenen Schädel können verstärkt Infekt-Krankheiten auftreten. Ich kann es aber auch verstehen, dass Miss McCutcheon das ständige Liegen sehr mitnimmt.“
Ich sehe sie erwartungsvoll an.
„In einer Stunde muss ich im OP sein, bis dahin habe ich noch Zeit, mir die Wunde an ihrem Kopf anzusehen. Wenn sie einigermaßen gut verheilt ist, kann ich es erlauben.“
Ich bin erstaunt. Und zugleich freue ich mich. Für Shane. Ich hoffe, es klappt.
„Oh danke, Dr.“


~*~

Shane`s POV

Ich kann nicht schlafen. Komisch, vorhin war ich so müde und jetzt bringe ich kein Auge zu. Ich warte, dass Bette wieder kommt und mir sagt, dass ich raus darf. Ich möchte so gerne.

Ich versuche mich aufzurichten. Es ist nicht einfach, mit nur einem funktionierenden Arm, mit gebrochenen Rippen und einem Kopf, in dem sich bei der kleinsten Bewegung schon alles dreht. Ich muss mich sehr anstrengen. Es tut weh. Doch schließlich schaffe ich es, mich aufzusetzen. Mit dem rechten Arm stütze ich mich ab. Mit der Zeit, tut jedoch auch dies weh. Alles tut mir weh. Mein ganzer Körper spannt. Ich bekomme Probleme beim Atmen.

Die Tür geht auf.
„Miss McCutcheon, was machen Sie denn?“, sagt Dr. Cohen, die zusammen mit Bette hereinkommt. Sie scheint ärgerlich zu sein.
„Ich… ich wollte nur…“.
Sie kommt ans Bett, greift mir unter die Arme und legt mich behutsam wieder nieder.

Wie um das Thema zu wechseln, spreche ich sie auf meine Bitte an.
„Dr. Cohen, was sagen Sie dazu? Kann ich nach draußen gehen?“
„Gehen sicher nicht.“ Sie lächelt. „Ich werde mir die Wunde an Ihrem Hinterkopf ansehen und dann entscheiden. Dazu müssen wir Sie auf die Seite drehen.“
Nun, das gibt mir zumindest Hoffnung.
Als sie mich auf die Seite rollt, schluchze ich vor Schmerz. Es tut so weh. Die Ärztin öffnet den Verband und wickelt ihn von meinem Kopf, um die Wunde begutachten zu können.
Nach einiger Zeit sagt sie, „Na, das sieht doch ganz gut aus. Die Wunde scheint gut zu verheilen. Sie nässt zwar noch ein wenig, aber das wird sich in den nächsten Tagen geben.“
In dieser Sekunde kommt Schwester Lynda mit Kathy von einer weiteren Untersuchung zurück.
„Lynda, wenn Sie Misses Sullivan zurück ins Bett gebracht haben, würden Sie Miss McCutcheon bitte einen neuen Verband anlegen?“
Sie nickt. Dann wendet sich Dr. Cohen mir zu. „Ich würde gerne noch einen Blick auf ihr linkes Bein werfen.“
Das Bein. Ich kann es immer noch nicht bewegen. Kein Gefühl. Nichtmal ansatzweise irgendein Gefühl. Die Ärztin wirft die Decke zur Seite. Ich versuche nach unten zu sehen, aber kann nichts erkennen. Vorsichtig hebt sie mein Bein an. Wie es scheint, tastet sie es ab. Spüren kann ich nichts.
„Miss McCutcheon, morgen früh werden Sie die erste Sitzung mit dem Physiotherapeuten haben. Eine Schwester holt Sie ab und bringt Sie hin.“
Sie breitet die Decke wieder über mich.
„Dann werde ich Ihnen mal einen Rollstuhl besorgen. Damit Sie raus können.“
Ich lächle. „Danke.“


~*~

Anna`s POV

Nachdem ich nochmal schnell zu Hause war und meine Sachen geholt habe, bin ich gerade im Büro angekommen. Auf meinem Schreibtisch häuft sich die Arbeit. Ein Zettel beschreibt meine nächsten Aufträge. Der erste lautet: Geburtstagsparty für Josephine Carter.
„Josephine Carter ist die Tochter eines reichen Bankiers in Hollywood.“ Adalyn steht hinter mir.
„Wie alt wird sie?“, frage ich.
„Dreizehn.“
Das hatte ich nicht erwartet. „Dreizehn?“ Adalyn nickt. Okay, das wird nicht einfach.
Ich sehe wieder auf den Zettel. Eine Weihnachtsfeier von Dellig & Partner. Nun, da hab ich ja noch Zeit.

Ich denke an Shane. Sie hat mir heute wirklich einen Schrecken eingejagt. Nun ja, natürlich nicht direkt sie, aber die Sache mit dem Zimmertausch hat mich einfach fertig gemacht. Ich freue mich schon auf heute Nachmittag, wenn ich wieder zu ihr gehen kann.


~*~

Bette`s POV

Ein Pfleger hat Shane in den Rollstuhl gehievt. Es war eine Tortur. Sie hatte große Schmerzen. Jetzt sitzt sie darin wie ein Häufchen Elend. Aber sie ist froh, raus zu kommen.
Rechts am Stuhl ist eine Vorrichtung angebracht, an der Shanes Infusionsbeutel hängen. Sie hat einen Bademantel an, Schuhe will sie nicht.

Ich sehe Shane an. Ihr hübsches Gesicht, durchzogen von kleinen Narben und Schrammen, die noch immer nicht abgeheilt sind. Ihre großen grünen Augen. Sie ist so wunderschön. Und im Moment kommt sie mir vor wie ein junges Mädchen, so hilflos und schwach.
„Können wir gehen?“, fragt sie.
Ich lächle. „Klar.“
Der Pfleger hält die Tür auf und ich schiebe Shane hinaus. Über die Gänge. In den Aufzug, aus dem Aufzug. Über die Gänge. Nach draußen ins Freie. In den Park neben dem Krankenhaus.
Shane fühlt sich sichtlich wohl. Sie sieht sich um, atmet die frische Luft ein. Beobachtet die Menschen.
„Danke, Bette.“
Ich schaue sie an. Etwas fragend.
„Danke, dass du das hinbekommen hast. Dass ich hier draußen sein kann.“

Ich fahre mit ihr zu einer Bank und setze mich.
„Ach Shane, ich bin so froh, dass es dir etwas besser geht.“
„Ja, ich auch. Aber… das Bein, was wird damit werden?“
„Warte es ab, Shane. Mit dem Arm geht es doch auch so langsam aufwärts. Mit der Zeit kannst du bestimmt auch das Bein wieder besser bewegen.“
Insgeheim denke daran, was Dr. Cohen gesagt hat, über Amputation. Aber ich will Shane nicht damit konfrontieren. Nicht heute. Jetzt, wo sie gerade so glücklich zu sein scheint. Selbst das Reden scheint heute besser zu funktionieren als gestern.

„Shane, du kannst dich doch wieder an alles erinnern, oder?“
„Mir fehlen noch Bruchstücke. Aber das meiste weiß ich wieder, ja.“
„An diesem Abend, als… als es passiert ist… Du weißt, wo wir da hin wollten, und warum?“
Shane schweigt für einen kurzen Moment. „Ja“, sagt sie dann und sieht weg.
„Nun, ähm… was, was willst du in dieser Sache tun?“
Es ist ihr sehr peinlich, das spüre ich. Langsam dreht sie sich mir wieder zu und sieht mich an. „Wenn ich hier raus bin, will ich es erstmal so versuchen. Ich hab jetzt schließlich fast ne Woche ohne das Zeug ausgehalten. Vielleicht schaff ich es auch so.“
„Und wenn nicht.“
„Dann… dann werd ich eben in diese Klinik gehn.“
„Bist du sicher?“
„Ja, Bette. Ich will weg von dem Stoff. Egal wie.“
Ich lächle sie an. Und auch sie bringt ein kleines Lächeln zu Stande.

„Bette?“
„Was ist?“
„Ich habe Durst… Meinst du, du könntest mir in der Cafeteria ein Wasser holen?“
„Na ja, kann ich dich ganz sicher allein lassen?“
Sie rollt die Augen. „Ich bin ja kein kleines Kind mehr. Außerdem bleib ich ja hier.“
Ich atme tief durch. „Okay.“
Dann stehe ich auf und laufe zurück ins Klinikgebäude.


~*~

Shane`s POV

Ich schaue Bette eine Weile nach, dann sehe ich mich im Park um. Ich bin froh, mal wieder andere Farben als das Krankenhaus-Weiß zu sehen: das Grün der Wiese, das Blau des Himmels. Die vielen bunten Farben der anderen Patienten und ihren Angehörigen. Es macht mich glücklich, hier draußen zu sein.

„Shane?“
Ich drehe mich um. Und bin geschockt.
„Marcus?“
Nein, das ist nicht Marcus. Viel zu jung. Aber diese Gesichtszüge.
„Ich bin Moses.“
Natürlich. Moses. Der Bruder von Marcus. Er war damals zehn Jahre alt, als das alles passiert ist.
Alle Erinnerungen an dieses schreckliche Ereignis kommen wieder hoch. Ich ertrage das nicht. Warum ist er überhaupt hier? Was hat er hier zu suchen? Muss gerade ich ihm über den Weg laufen?
„Du bist doch Shane, oder? Shane McCutcheon.“
„Ja… ja, das bin ich.“
Ich bin erstaunt, dass er sich noch so gut an mich erinnern kann.

Moses sieht mich an. „Du Biest!“, sagt er kurze Zeit später.
Ich fahre auf. Schaue ihn an. Fragend. „Was?“
„Du bist ein gemeines Biest, hab ich gesagt, eine fiese Drecksau.“
„Ich… ich versteh nicht. Warum…“.
„Warum? Das, was du meinem Bruder angetan hast… ist unverzeihlich und gehört bestraft.“
„Ich habe Marcus nichts getan. Er…“.
„Willst du ihm jetzt die Schuld geben?“

Mir laufen Tränen über die Wange.
„Ich weiß doch gar nicht, wovon du eigentlich sprichst“, sage ich hilflos.
Er beugt sich zu mir herunter.
„Er ist tot. Und das wegen dir, du Biest.“
Er dreht sich um und geht.

Marcus? Tot? Das kann nicht sein. Ich muss Moses hinterher.
Ich versuche, den Rollstuhl von der Stelle zu bewegen, doch Bette hat die Bremse eingestellt. Da komm ich nicht ran.
In diesem Fall gibt es nur eine Möglichkeit… Ich versuche, aufzustehen. Es ist mühsam, meine Arme können mein Körpergewicht kaum tragen. Schließlich schaffe ich es, mich aufzurichten.
„Moses!“, rufe ich, um ihn aufzuhalten. Tatsächlich bleibt er stehen.
Verdammt, wie soll ich das mit meinem Bein schaffen? Ich versuche, den Fuß aufzusetzen, doch es geht nicht. Ich kann mich auf diesem Bein nicht halten. Auch das andere ist schwach.
Die Infusionen stören mich. Sie halten mich am Rollstuhl fest. Kurzerhand reiße ich sie mir heraus.
Es gelingt mir, ein paar Schritte auf dem guten Bein zu hüpfen, doch gebe schließlich auf.
Moses scheint das zu merken und kommt wieder auf mich zu.

„Was gibt es noch zu sagen?“
„Ich…“.
„Du siehst gar nicht gut aus, Shane. Früher sahst du sehr viel besser aus“, sagt er sarkastisch. Er findet meinen Zustand belustigend. In der Tat geht es mir in diesem Moment nicht allzu gut. Mir ist schwindelig und ich kann nicht mehr lange stehen. Vor allem nicht auf einem Bein.
„Warum meinst du, ich bin schuld?“
Er sieht mich an. „Du willst mir sagen, dass du das nicht weißt?“
Ich schüttele den Kopf und schließe die Augen. Alles beginnt, sich zu drehen.
„Er hat sich umgebracht. Wegen dir. Er war so verliebt in dich. Und als du weg warst, so plötzlich, konnte er das nicht ertragen. Du hast ihn verraten, Shane. Du hast ihn umgebracht.“

Ich befinde mich in einer Art Schockzustand. Das ist alles zu viel für mich.
„Dir tut es nicht mal Leid, oder?“
Ich sage nichts. Sehe weg. Er geht.

„Er hat mich vergewaltigt.“
Er bleibt stehen. Dreht sich um. In seinen Augen sehe ich denselben Hass, den ich damals in den Augen seines Bruders gesehen habe, als ich ihm sagte, dass ich lesbisch bin. Derselbe Blick. Dieselbe Kälte. Derselbe Hass.
Er kommt auf mich zu. Wie ein Blitz. Und packt mich am Kragen.
„Wie kannst du es wagen?“
„Es… es ist die Wahrheit. Deshalb bin ich geflohen.“

Ich hoffe, Bette kommt bald, um mich aus dieser Situation zu befreien. Es ist niemand da, der mir helfen könnte, wir sind so weit abseits. Ich kann nicht mehr. Fange wieder an zu weinen. Kann nicht mehr klar denken. Nicht mehr klar sehen.
„Du tust mir Leid, Shane. Du bist nicht nur ein Biest, sondern auch eine Lügnerin.“
Mit diesen Worten geht er. Endgültig.

Alles dreht sich. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Bette. Hilf mir. Ich hüpfe einen Schritt auf meinen Rollstuhl zu, und dann geschieht es. Alles wird schwarz.


~*~

Bette`s POV

Kurz vorher…

Ich komme aus der Cafeteria mit einer Flasche Wasser und einem Becher dazu. Es hat etwas länger gedauert, weil mich Anna angerufen hat. Ich habe ihr erzählt, dass Shane in den Park durfte und wie glücklich sie gerade ist.
Jetzt bin ich wieder auf dem Weg nach draußen zu Shane.

Plötzlich sehe ich das ganze Szenario. Ich lasse Flasche und Becher fallen. Bin geschockt.
Der Rollstuhl leer. Shane liegt einen Meter weiter neben der Bank auf dem Boden. Sie scheint bewusstlos zu sein. Zwei Leute, die ich nicht kenne, sind über sie gebeugt.
Was soll ich tun? Ich will zu ihr rennen, doch plötzlich kehr ich um und renne zurück in die Klinik. Rufe um Hilfe. Ich treffe auf einen Arzt. Erkläre ihm, was ich gesehen habe und wo sich Shane befindet.
Er meint, es würden sofort Sanitäter mit einer Trage kommen.

Ich renne so schnell ich kann wieder nach draußen.
„Shane!“
„Kennen Sie sie?“
„Ja. Shane! Shane, kannst du mich hören?“
„Sie muss mit dem Oberkörper auf der Bank aufgekommen sein.“
Sie ist bewusstlos. Ihre Nase blutet.
„Shane! Bitte, öffne die Augen.“
Als wäre es ein Befehl gewesen, folgt sie und öffnet tatsächlich die Augen. „Shane! Oh, Gott sei Dank. Was ist passiert? Was tut dir weh?“
Sie ringt nach Atem.
„Ich… ich krieg ka… keine Luft.“
„Halt durch, Shane. Die Sanitäter sind auf dem Weg.“
„Moses.“
„Wer ist Moses?“
„Er… er war hi… hier. Marcus` Bru… Bruder.“

Marcus. Das Arschloch, das Shane vergewaltigt hat. Was hat er mit ihr gemacht? Ich stelle mir vor, wie ich ihm den Hals rumdrehe, doch das nützt Shane jetzt auch nichts.
Sie hustet. Ich sehe Blut. Zuerst denke ich, ihre Lippe oder ihr Zahnfleisch blutet vielleicht. Doch sie hustet weiter und ich erkenne, dass sie Blut spuckt. Sie muss innere Verletzungen haben. In ihre Lunge muss Blut gelangt sein.
Sie ist blass. Schließt langsam die Augen.
„Shane? Shane, bleib wach. Bitte.“
Ich sehe drei Sanitäter mit einer Trage. Ich stehe auf, um ihnen Platz zu machen.
„Was ist passiert?“, fragt einer von ihnen.
„Anscheinend ist sie auf die Kante der Bank gefallen und hat sich im Brustbereich verletzt. Sie spuckt Blut. Ich… ich weiß auch nicht.“

Die Sanitäter laden Shane auf die Trage und fahren sie ins Krankenhaus. Ich laufe nebenher. Den Rollstuhl lasse ich da, wo er ist.

Ich kann nicht mehr. Wann hört denn das endlich auf? Wann? Es ist doch jetzt genug. Shane hat genug gelitten. Das darf einfach nicht sein. Gott, warum tust du ihr das an? Mir laufen die Tränen übers Gesicht. Hoffentlich hat sie sich nicht zu sehr verletzt.

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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 Betreff des Beitrags: Re: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:33 
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Kapitel 20


Anna`s POV:

Die Geburtstagsparty für Josephine Carter macht mir Probleme. So eine riesen Fete für eine Dreizehnjährige? Nun ja, die Carters haben offensichtlich viel Kohle.
Ich setze mich an den Computer, um im Web Nachforschungen anzustellen. Google wird mir sicherlich dabei helfen.
Ah, der Mann heißt also Thomas. Thomas Carter. Gut, was haben wir noch? Die Adresse. Ich sollte vielleicht wirklich heute nochmal dorthin fahren und mir das Anwesen ansehen, nur um überblicken zu können, wie viel Raum wir zu Verfügung haben, und was die Kleine für Vorstellungen von ihrer Party hat.

„Anna, du hast Besuch.“
Adalyn steht in der Tür. „Wer ist es?“
„Eine junge Frau namens Alice, soll ich sie reinschicken?“
„Alice. Klar, sie soll reinkommen.“
Sie ist viel zu früh. Wir wollten uns später treffen, um nochmals zu Shane ins Krankenhaus zu fahren. Zusammen mit Tina und Dana.

„Hi Ann.“
„Hi Alice, was machst du hier? Du bist etwas früh.“
„Ich weiß, aber ich war grad in der Nähe und wollte nachsehen, wies dir geht, und, wo du arbeitest.“
Ich grinse. „Ja, also, hier ist mein kleines Arbeitsreich. Leider muss ich noch schnell zu einem Kunden, oder besser: zu einer Kundin, bevor ich ins Krankenhaus kann. Aber wenn du willst, kannst du gerne mitkommen.“
„Ehrlich?“ Alices Augen fangen an zu leuchten, wie die eines kleinen Kindes. Ich muss lachen.
„Ja, ganz ehrlich, Das heißt, wenn du nichts besseres vorhast.“
„Natürlich nicht. Ich finde deinen Beruf ungeheuer spannend. Da lass ich mir doch so etwas nicht entgehen.“


~*~

Bette`s POV:

Verdammt. Es ging alles so schnell. Es war, als ob sich alles wiederholen würde. Das ganze Drama ein zweites Mal. Ich frage mich, was Shane verbrochen hat, das sie es verdient hätte, so zu leiden. Ich stelle mir das kleine Mädchen vor, das keine Eltern mehr hat und von einer Pflegefamilie in die andere geschoben wird. Das Mädchen, das vergewaltigt wird, wegläuft du auf den Strich geht, um nicht zu verhungern.
Ich seufze. Shane hatte wirklich noch nicht viel Glück im Leben. Warum trifft es immer sie? Jetzt, wo es ihr besser ging. Gerade jetzt muss so etwas Schreckliches passieren.

Eigentlich sollte ich Anna anrufen. Oder zumindest irgendwen. Aber ich sitze einfach nur da und tue nichts. Bin nicht im Stande, irgendetwas zu tun. Ich starre ins Leere und warte auf einen Arzt.


~*~

Alice`s POV:

Wow. Anna und ich stehen vor dem Tor des Hauses, in dem dieses Mädchen wohnt, von dem mir Anna im Auto erzählt hat, Josephine Carter. Uns beiden ist die Kinnlade herunter geklappt. Ich komme mir vor, als stände ich vor einem Schloss. Die Villa ähnelt in Größe und Aussehen dem Buckingham Palace in London. Zumindest kommt es mir so vor.
Ich drehe meinen Kopf zu Anna. Auch sie sieht mich an. Mit großen Augen.
„Versaille ist ein Dreck dagegen“, sagt sie.
„Warst du da schon?“
„Einmal. Mit meinen Eltern.“
„Wow.“
„Komm, lass uns reingehn. Mal sehn, was uns da noch so erwartet.“
„Okay.“


~*~

Bette`s POV:

Vielleicht sollte ich doch irgendjemanden anrufen. Die Warterei macht mich wahnsinnig. Ich habe es aufgegeben, irgendwelche Schwestern über Shanes Zustand auszufragen; sie sagen mir ja doch nichts.
Ich laufe den Gang hinunter in Richtung Ausgang, um zu telefonieren. Ich nehme das Handy aus meiner Tasche und wähle Tinas Nummer. Nach dem dritten Läuten nimmt sie ab.

„Hi Bette. Ich hab deine Nummer auf dem Display gesehen.“
„Hi Tina.“
„Gerade ist Dana gekommen. Wir fahren etwa in einer vierteln Stunde los ins Krankenhaus. Da bist du doch noch, oder?“
„Ja… ja, da bin ich. Tina, hör zu, es… .“
„Bette, was ist los? Du klingst so komisch.“
„Tina, es ist etwas Schreckliches passiert. Shane... .“
„Was ist mit Shane? Geht es ihr schlechter?“
„Sie ... Tina, sie ist gestürzt.“
„Oh mein Gott. Nein. Wie geht es ihr?“
„Sie ist immer noch im Operationssaal. Ich weiß nicht, was ich machen soll.“
„Aber wie konnte das denn passieren?“
„Kommt hierher. Ich erklär euch alles später. Aber ich will jetzt wieder in den Wartesaal, falls es etwas Neues gibt.“

Wir verabschieden uns und ich gehe zurück. Ich habe Tina beauftragt, Anna Bescheid zu sagen, denn ich selbst fühle mich gerade nicht dazu in der Lage.


~*~

Alice`s POV:

Anna spricht mit dem Mädchen. Man merkt genau, dass sie aus reichem Hause stammt. Sie führt sich auf wie ein Prinzesschen. Und was diese Geburtstagsparty kosten wird, will ich besser gar nicht wissen. Aber dem ganzen Schnickschnack, den sie haben will, nach zu urteilen, wird es wohl sehr sehr teuer werden.

Annas Handy klingelt. Sie nimmt ab und währenddessen sehe ich hinab auf den riesigen Garten, in dem die Fete stattfinden soll. Doch plötzlich ruft Anna laut, „Was?“
Ich drehe mich zu ihr um.
„Mein Gott. Ja… ja, ich komme so schnell ich kann.“
Sie nimmt langsam das Handy vom Ohr, starrt einige Sekunden ins Leere.
Ich sehe sie fragend an, aber sie wendet sich zu Miss Prinzesschen Carter.
„Miss Carter. Leider muss ich jetzt gehen, es gibt einen Notfall. Aber ich habe mir alles aufgeschrieben und wenn ich noch Fragen habe, werde ich Sie anrufen. Wenn nicht, werde ich Ihnen in den nächsten zwei Wochen ein Konzept vorstellen, dass wir dann natürlich noch nach Belieben umändern können.“
„Das ist okay. Danke für Ihren Besuch.“
„Ich danke auch. Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen.“

Sie läuft so schnell zum Tor, dass ich fast nicht mithalten kann.
„Anna, was ist denn los?“ Sie läuft weiter. Zum Auto.
„Jetzt sag, was los ist, verdammt.“
Ich erreiche ebenfalls das Auto und stehe jetzt neben ihr. Sie lehnt sich ans Fenster und atmet tief ein. Dann fängt sie an zu schluchzen.
„Hey, Ann, komm her.“ Ich nehme sie in den Arm
„Tina hat eben angerufen. Shane ist gestürzt.
„Was?“
„Al, wir müssen ins Krankenhaus. Sofort.“
„Okay. Ich fahre.“ Ich frage nicht weiter nach, sicher weiß sie auch nicht mehr. Wir werden bald erfahren, was los ist.


~*~

Bette`s POV:

Endlich. Da kommt Dr. Cohen. Ich stehe auf und gehe auf sie zu.
„Dr. Cohen! Wie geht es Shane?“
„Kommen Sie mit in mein Büro?“
Ich sage nichts und folge ihr. Aber gut klang das eben nicht. Ich hoffe, Shane schafft es.

Sie öffnet mir die Tür und zeigt auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch, um mir zu bedeuten, mich hinzusetzen. Sie setzt sich ebenfalls.
„Miss Porter, wie sie wissen wurden durch den ersten Unfall ein paar von Miss McCutcheons Rippen gebrochen, die sich in die Lunge gebohrt haben. Dadurch, dass die Wunden noch nicht ganz verheilt waren, ist dies ein zweites Mal passiert. Beim letzten Mal ist es uns gelungen, dies unter Kontrolle zu bringen, doch dieses Mal ist ein Pneumothorax aufgetreten.“
Ich schaue sie fragend an. Das hört sich nicht gut an.
„Bei einem Pneumothorax gerät Luft in die Lunge, die dann die Ausdehnung eines oder beider Lungenflügel behindert und somit die Lungenfunktion, also die Atmung eingeschränkt ist.“
„Ist dieser… Pneumothorax lebensgefährlich?“
„Es gibt verschiedene Arten eines Pneumothorax. Die einfachste Form wird vom Patienten meist gar nicht wahrgenommen. Ein Spannungspneumothorax hingegen erfordert Intensivmaßnahmen und ist lebensbedrohlich. Ich… ich muss ihnen leider sagen, dass es sich bei Miss McCutcheon um eine schwere Form handelt und sie im Moment sehr instabil ist. Miss Porter, sie ist noch nicht übern Berg.“

Oh Gott. Bitte nicht. Nicht schon wieder. Warum? Ich versteh die Welt nicht mehr. Ich verstehe einfach nicht, warum gerade Shane so etwas Schreckliches passieren muss. Und das nicht nur einmal. Wenn ich diesen verdammten Moses oder wie er heißt in die Finger kriege…
„Wir haben eine Bülau-Drainage gelegt, das heißt ein Schlauch, der seitlich am Körper auf Brusthöhe in die Lunge eingeführt wird. Mit dieser Drainage kann sowohl die Luft wieder abgesaugt werden kann, als auch das Blut, das durch die nach innen spießenden Rippen in die Lunge gelangt ist, wieder abgeleitet werden.
Außerdem haben wir einen Luftröhrenschnitt vorgenommen. Wir haben also die Halsvorderseite leicht geöffnet, um einen Beatmungsschlauch einzuführen, über den die Patientin beatmet wird. Durch diese Methode kann Miss McCutcheon auch beatmet werden, wenn sie wach ist, da die Mundhöhle frei ist. Wenn sie aufwacht, werden wir geeignete Kanülen legen, durch die sich dann auch wieder sprechen kann.“
„Wann wird sie denn aufwachen?“
„Das kann ich nicht genau sagen. Wir haben ihr spezielle Sedativa gegeben, um ihr das Schlimmste zu ersparen. Aber ich denke, wenn es keine Komplikationen geben, wird sie im Laufe des morgigen Tages aufwachen. Ich muss ihnen außerdem sagen, dass bei einem Pneumotorax oft eine Sepsis, also eine Blutvergiftung folgt, durch die sich der Zustand der Patientin zusätzlich verschlechtern könnte. Miss McCutcheon wird aber rund um die Uhr beobachtet, sodass eine frühzeitige Erkennung gegeben ist.“

Ich nicke. Mir ist schlecht. Ich kann nicht mehr. Wann hört das endlich auf?


~*~

Anna`s POV:

Wir sind an der Klinik angekommen und stürmen hinein. An der Information stehen Tina und Dana. Anscheinend haben sie schon nach Shane gefragt.
„Dana! Tina!“ Die beiden drehen sich zu uns um. Dana geht auf Alice zu, Tina kommt zu mir und nimmt mich in den Arm.
„Anna, wie geht es dir?“, fragt sie liebevoll.
Ich fange wieder an zu schluchzen. „Ich bin mit dem Nerven am Ende. Warum Shane? Warum immer sie? Sie hat doch niemandem etwas getan.“
„Ich weiß, Süße. Es ist alles so schrecklich.“
„Was hat die Frau an der Information gesagt?“
„Sie meinte, sie erkundigt sich und es wird dann gleich jemand kommen, der uns zu Shane bringt und uns sagt, was genau passiert ist. Wollen wir uns vielleicht solange setzen? Du bist so blass, ich will nicht, dass du hier umkippst.“
„Ja… ja, warum nicht.“
„Alice, Dana. Wir setzen uns da drüben an den Tisch, kommt ihr mit?“
„Klar“, sagen die beiden im Chor.

Ich lehne die Ellbogen auf den Tisch und stütze den Kopf in meine Hand.
„Wenn sie stirbt, will auch ich nicht mehr leben“, sage ich ruhig und ohne Tränen. Die anderen sind offensichtlich geschockt, dass ich so etwas sage, oder verwundert, dass ich es so ruhig gesagt habe, denn es dauert eine Weile, bevor sie mir widersprechen.
„Anna, sag doch sowas nicht. Shane wird nicht sterben!“, sagt Dana und legt ihre Hand auf die meine.
„Woher willst du das wissen?“
„Ich weiß es. Shane ist stark. Und sie würde dich nie alleine lassen, denn sie liebt dich!“
Laura hat mich auch geliebt und ist trotzdem von mir gegangen, denke ich mir.
„Shane ist nicht stark, zumindest nicht im Moment. Sie ist schwach durch den Unfall. Vielleicht hat sie nicht die Kraft, das alles ein zweites Mal durchzustehn.“
„Wie gesagt, ich bin mir sicher, dass sie es schafft.“


~*~

Bette`s POV:

Ich sitze immer noch in Dr. Cohens Büro, als eine Schwester hereinkommt.
„Eve, entschuldige bitte die Störung. Unten wartet eine Gruppe von Frauen, die wegen Shane McCutcheon hier sind. Jemand sollte ihnen sagen, was passiert ist. Du bist die behandelnde Ärztin.“
„Ich komme gleich. Einen Moment Geduld noch, bitte.“
Schwester Carina, wie ich auf dem Namensschild gelesen habe, geht hinaus und Dr. Cohen wendet sich mir zu.
„Wie wärs, wenn ich Sie zu Miss McCutcheons Zimmer führe und dann runter gehe zu Ihren Freundinnen, um Ihnen alles zu erklären?“
Sie lächelt. Ich tue es ihr gleich. „Das wäre nett. Danke.“


~*~

Alice`s POV:

Anna macht mir Angst. Sie muss Shane wirklich sehr lieben, sonst hätte sie nicht so etwas gesagt. Aber Shane wird nicht sterben. Nein, sie wird nicht sterben. Sie ist eine Kämpferin, und wird es auch diesmal schaffen.

Von weitem sehe ich Shanes Ärztin auf uns zulaufen. Ich stehe auf. Die anderen schauen in ihre Richtung und stehen dann ebenfalls auf.
Endlich kommt jemand.
„Doktor, was ist mit Shane? Können wir sie sehen?“
„Miss Porter ist im Moment bei ihr. Vielleicht setzen wir uns wieder an den Tisch und ich erkläre Ihnen alles in Ruhe?“

Wir sind damit einverstanden und setzen uns.


~*~

Bette`s POV:

Ich sitze neben Shanes Bett und halte ihre Hand. Weine leise. Immer wieder stelle ich mir dieselbe Frage: Warum sie? Warum nur?

Sie liegt da. Leblos. Nur das Piepen der Maschinen. Und alles ist schon fast familiär … wie oft habe ich vor einer Woche hier gesessen.
Sie ist fast nackt. Nur ein Verband im Brustbereich entblößt sie nicht völlig. An der Seite befindet sich die Drainage, von der Dr. Cohen erzählt hat.
Sie wird durch einen Schlauch an der Vorderseite ihres Halses beatmet. Sowieso sind überall Schläuche, Kabel und Infusionen.
Der Gedanke, dass sie im Moment selbstständig, ohne die ganzen Medikamente und medizinischen Vorrichtungen, nicht überleben könnte, macht mich fertig.

Die Ärztin hat gesagt, sie wird morgen aufwachen, falls keine Komplikationen auftreten. Ich hoffe, sie schafft es. Und ich hoffe, sie wird bald wieder gesund.

Die Tür geht auf und Anna kommt herein. Bestimmt müssen die anderen draußen warten.
Anna steht an der Tür und hat die Hand auf den Mund geschlagen. Sie ist geschockt. Langsam kommt sie ans Bett. Ich stehe auf, um ihr Platz zu machen. Sie setzt sich und streicht Shane über die Hand. Wahrscheinlich denkt sie in diesem Moment genau das, was ich ein paar Minuten vorher gedacht habe.

Ich lege ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich lasse euch jetzt allein. Wenn du soweit bist, sag Bescheid, dann können die anderen nacheinander reinkommen.“
Sie nickt nur kurz. Ich gehe hinaus.


~*~

Anna`s POV:

Shane. Meine Shane. Warum sie? Warum kann ich nicht stattdessen hier liegen? Ich würde ihr so gerne den Schmerz ersparen, den sie ertragen muss, und doch kann ich es nicht.
Wer weiß, ob sie je wieder gesund wird? Ob sie je wieder ihren Beruf ausüben kann?
Und da ist ja immer noch die Sache mit ihrem Bein. Vielleicht wird sie es nie wieder bewegen können.

Ich sitze an ihrem Bett. Sehe sie an. Halte ihre Hand. Mir gehen so viele Sachen durch den Kopf. Ich habe so viel Angst um Shane.
Ich fange an zu weinen.
„Shane, du musst das schaffen. Bitte! Du musst wieder gesund werden. Ich … ich kann nicht ohne dich, also bitte …“
Ich fange an zu schreien.
„… bitte tu mir das nicht an. BITTE!“
Ich breche zusammen. Ich kann nicht mehr.

Jemand kommt herein. Ich weiß nicht wer, und es ist mir auch egal. Ich weine weiter, schreie vielmehr. Das ist einfach alles zu viel.
„Hey, Süße. Beruhige dich.“
Es ist Bette. Sie umarmt mich. Die Schwester sieht nach Shane. Verdammt, hat sie etwa gedacht, ich habe Shane irgendetwas angetan?
Ich kann mich nicht beruhigen.
„Komm, lass uns erstmal raus gehen.“
Ich weigere mich. „Nein! Nein, ich will hier nicht weg. Ich will bei Shane bleiben, sie braucht mich.“
„Ich weiß, Anna, ich weiß. Aber du musst dich erstmal beruhigen. In deiner Verfassung kannst du ihr auch nicht helfen.“
Schließlich gebe ich nach.

Bette hilft mir auf. Ich bin ganz wackelig auf den Beinen. Fühle mich nicht gut. Ich weine immer noch. Eigentlich will ich nicht, dass mich Bette und die anderen so schwach sehen, aber im Moment geht das nicht anders. Ich muss es einfach mal rauslassen.
Ich muss schon die ganze Zeit an Laura denken. Ihr konnte damals niemand helfen. Und ich fühle mich schuldig dafür. Ich muss Shane einfach helfen. Irgendwie.

Die anderen empfangen uns draußen. Ich kann nicht mehr stehen, kann nicht mehr denken. Ganz plötzlich wirkt alles so verschwommen. Ich sehe die Umrisse von Dana, Alice und Dana. Und plötzlich wird alles schwarz.


~*~

Alice`s POV:

Anna ist einfach umgekippt. Wir konnten sie gerade noch so halten.
Sofort kommen Schwestern gelaufen und wir erzählen kurz und knapp, was passiert ist.
Anna kommt langsam wieder zu sich. Dennoch kommen zwei Pfleger mit einer Trage und transportieren sie in ein Zimmer, das mit einer Liege ausgestattet ist. Dort soll sie kurz untersucht werden.

Wahrscheinlich war ihr das alles zu viel. Die Sache mit Shane ist verständlicherweise nicht leicht für sie. Ich wäre an ihrer Stelle schon viel eher zusammengeklappt.

Bette, Tina und ich stehen an der Tür, solange einer der Pfleger sich um Anna kümmert. Sie ist wieder wach und sieht mit blassem Gesicht zu uns herüber.
„Miss, möchten Sie etwas zur Beruhigung?“
„Nein, nein, das geht schon. Danke“, antwortet Anna.
„Gut. Bleiben Sie einfach so lange hier, bis sie sich wieder gut fühlen. Falls Sie irgendetwas brauchen, lassen Sie es uns bitte wissen. Eine Schwester wird gleich nochmal nach Ihnen sehen.“
„Okay. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache.“
„Ach, ich bitte Sie, Miss, das ist unser Job.“
Sie lächelt schwach. „Danke.“
Die Pfleger verabschieden sich.

Wir gehen hinüber zu Anna.
„Mensch, was machst du denn für Sachen, hm?“, frage ich und streichle ihr über die Stirn.
Sie zuckt die Schultern. „Tut mir Leid. Ich hatte nur so Angst um Shane, und dass sie das nicht schafft.“
„Sie wird es schaffen, Anna, ganz bestimmt“, schaltet Tina sich ein. Wir stimmen ihr zu.

„Anna, ich will nicht, dass du heute Nacht allein bleibst. Du wirst heute Nacht bei uns schlafen“, sagt Bette dann.
Anna sieht sie an. „Bette, ich bin kein kleines Kind mehr. Ich schaff das schon, ehrlich.“
„Bitte, tu mir den Gefallen. Es ist doch nur für eine Nacht. Du bist gerade hier vor unseren Augen zusammengebrochen. Wir wollen einfach nicht, dass du das im Moment allein durchstehen musst.“
Anna überlegt kurz.
„Okay.“


~*~

Anna`s POV:

Es ist mir zwar überhaupt nicht recht, bei Bette und Tina zu schlafen, aber sie meinen es ja wirklich nur gut und ich will sie nicht enttäuschen.

Ich finde es schön, dass ich schon so fest in dieser Gemeinschaft integriert bin, wo ich sie doch erst vor kurzem alle kennen gelernt habe. Aber sie behandeln mich, als wäre ich schon ewig mit ihnen befreundet.
Wenn nur Shane wieder gesund werden würde. Dann wäre alles perfekt. Und wir könnten endlich unser gemeinsames Leben beginnen und genießen.


Kapitel 21


Am nächsten Tag …


Anna`s POV:

Ich konnte kaum schlafen. Die ganze Nacht habe ich an Shane gedacht. Ob es ihr wohl gut geht? Zumindest hat niemand vom Krankenhaus angerufen. Die Ärztin musste Bette versprechen, sich sofort zu melden, falls es Komplikationen gäbe.

Ich verlasse das Gästezimmer und gehe in Richtung Wohnzimmer zum Esstisch, welcher sehr liebevoll gedeckt ist.
Tina kommt aus der Küche.
„Oh, guten Morgen, Anna, wie geht es dir? Hast du gut geschlafen?“
Sie stellt einen Korb mit Brötchen auf den Tisch.
„Guten Morgen. Mir geht’s gut, geschlafen hab ich allerdings nicht so viel.“
„Das kann ich verstehen. Aber setz dich doch erstmal.“

Als ich mich hinsetze, kommt Bette durch die Haustür herein.
„Anna, guten Morgen.“
„Guten Morgen, Bette.“
Auch sie fragt mich, wie es mir geht. Es ist schön, dass sie sich so um mich kümmern.

Bette hat Croissants geholt, die Tina auf einem Teller auf den Tisch stellt.
„Anna, greif zu, es ist genug für alle da.“
„Danke, ihr beiden.“

Während wir frühstücken, kommt mir plötzlich ein Gedanke. Bette scheint zu merken, dass mich irgendetwas beschäftigt, denn sie blickt mich besorgt an.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Bette, ich bin doch gerade dabei, eine Geburtstagsparty für dieses Mädchen zu organisieren, Josephine Carter. Die Party ist in zwei Wochen, und wenn ich heute im Büro nicht aufkreuze, bringt mich meine Chefin um. Eigentlich hat sie sehr viel Verständnis, aber hier geht es um sehr viel Geld. Bette, meinst du, du könntest für mich ins Krankenhaus? Nur für den Fall, dass sie aufwacht. Ich will nicht, dass sie aufwacht und ganz alleine ist.“
„Hey, Ann, das ist doch klar. Ich mach das gerne. Ich wäre ohnehin ins Krankenhaus gefahren.“
„Wirklich?“
„Wirklich. Im CAC ist im Moment nicht so viel zu tun, da ist das wirklich kein Problem.“
„Danke, das ist lieb von dir.“
Sie lächelt.


~*~

Alice`s POV:

„Wo gehst du hin?“, frage ich schläfrig.
„Training“, antwortet Dana.
„Ich werd auch gleich aufstehen und endlich diesen blöden Bericht über die zehn beliebtesten Hollywood-Schauspielerinnen fertig schreiben. Wann kommst du denn wieder?“
„Mal sehn… in zweieinhalb Stunden sollte ich eigentlich wieder hier sein.“
„Gut, dann mach ich uns zu Mittag etwas zu Essen und vielleicht können wir ja nachmittags mal zusammen zu Shane ins Krankenhaus fahren?“

Sie lächelt. „Deine Planung ist perfekt.“
Sie kommt zu mir und drückt mir einen dicken Kuss auf den Mund.
„Bis später.“
„Ja, bis dann.“

Ich stelle den Wecker auf 30 Minuten später ein und drehe mich nochmal um. Eine halbe Stunde kann ich mir schon noch genehmigen.


~*~

Bette`s POV:

Gerade bin ich in der Klinik angekommen. Ich hoffe, Shane ist noch nicht wach. Wie Anna gesagt hat, es wäre nicht gut, wenn sie ganz allein aufwachen würde.

Auf dem Gang treffe ich auf die Ärztin.
„Guten Morgen, Dr. Cohen.“
„Miss Porter, guten Morgen. Ich war gerade bei Miss McCutcheon.“
Ich blicke sie fragend an. „Und?“
„Sie wird bald aufwachen. Ich denke, so lange wird es wohl nicht mehr dauern. Ansonsten geht es ihr den Umständen entsprechend. Sie ist noch sehr instabil, aber ihr Zustand hat sich deutlich verbessert. Wenn sie aufwacht, wird sie Schmerzen im Brustbereich haben, das ist aber ganz normal. Sie wird erstmal nicht sprechen können, doch wir werden umgehend passende Kanülen anlegen, sobald sie wach ist, und dann kann sie auch sprechen. Allerdings darf sie sich auf keinen Fall aufregen. Sie muss für ein paar Tage ganz ruhig liegen bleiben.“
Ich nicke.
„Okay, dann werde ich jetzt zu ihr gehen.“
„Tun Sie das. Aber drücken Sie den roten Knopf, sobald sie wach ist.“
Ich nicke noch einmal. Dann gehe ich in Richtung von Shanes Zimmer.

Ich trete ein und setze mich auf den Stuhl neben dem Bett. Sie sieht genauso aus wie gestern. Schwach und leblos.
Sie haben ihr wieder einen Katheter angelegt.
Meine arme Shane. Wieder und wieder frage ich mich, wann dieser Alptraum endlich vorbei sein wird. Langsam muss es doch ein Ende geben.


~*~

Anna`s POV:

Ich sitze an meinem Schreibtisch im Büro und kann mich kaum konzentrieren. Wie auch. Meine Freundin liegt in der Klinik und kämpft um ihr Leben während ich mich hier damit abgeben muss, eine riesige Geburtstagsparty für ein verwöhntes dreizehnjähriges Prinzesschen vorzubereiten. Am liebsten würde ich alles hinschmeißen, aber ich weiß ja, dass das nicht geht. Die Arbeit ist mir wichtig, und unter normalen Umständen würde sie mir auch sicherlich Spaß machen. Aber im Moment fällt mir dies sehr schwer.

Aber es nützt ja alles nichts. Erst, wenn ich meine Arbeit hier gemacht habe, kann ich Shane sehen. Und wenn ich nichts zu Stande bringe, dauert es nur noch länger.
Also versuche ich mich zu konzentrieren und meine schweren Herzens meine Gedanken zumindest ein wenig von Shane wegzulenken und der Arbeit zu widmen.


~*~

Bette`s POV:

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Shane in den nächsten Minuten aufwacht. Die Ärztin hat ja gesagt, dass es nicht mehr lange dauern kann und ich bin immerhin schon fast eine Stunde da. Aber bald wird es soweit sein. Ich weiß nicht, warum. Ich fühle es einfach.


~*~

Alices`s POV:

Warum habe ich eigentlich zu Dana gesagt, dass ich etwas für uns kochen werde? Anscheinend war ich da nicht klar bei Gedanken, denn wenn ich mich jetzt so in der Küche umsehe, dann zweifle ich schon an meinen Fähigkeiten in Sachen Kochen. Nicht, dass ich das nicht schon wusste, aber irgendwie scheint es mir, dass ich mir es trotzdem immer wieder beweisen will.
Jetzt habe ich also massenweise Töpfe und Kochlöffel und so ziemlich den ganzen Lebensmittelvorrat verbraucht, aber dabei nichts Essbares erzeugt.

Ich muss an Shane denken. In so einer Situation hätte ich sie angerufen und sie wäre hierher gekommen. Hätte mir geholfen. Sie ist nämlich eine hervorragende Köchin, das weiß nur niemand. Sie kocht nicht gerne, weil es ihr zu viel Aufwand ist, aber sie kann es.
Ich hoffe, es geht ihr gut und frage mich, ob sie schon aufgewacht ist. Ich ziehe kurz in Erwägung, jemanden anzurufen und mich über ihren Zustand zu informieren, verwerfe diesen Gedanken aber schnell wieder. Nachmittags werde ich mit Dana ins Krankenhaus fahren, und dann werden wir sehen, was los ist. Wenn irgendetwas passiert wäre, hätten wir das sicherlich erfahren.

Ich gehe an das kleine Tischchen in der Ecke, auf dem das Telefon steht, und greife nach einer Karte. Die Karte aus dem Restaurant, das um die Ecke liegt. Ich werde da einfach anrufen und Essen bestellen, damit etwas auf dem Tisch steht, wenn Dana nach Hause kommt. Mein erster Gedanke ist, dass sie es bestimmt nicht merken wird, mein zweiter sieht schon ganz anders aus: wir waren schon so oft in diesem Lokal und sie kennt das Essen dort. Wenn sie nicht herausschmeckt, dass das Essen nicht von mir zubereitet wurde, dann muss sie eindeutig an einer Geschmacksstörung leiden. Nun gut. Ich habe keine andere Wahl.

Nachdem ich mir ein Gericht aus der Karte ausgesucht habe, rufe ich an und bestelle.
In zwanzig Minuten kann ich meine Bestellung abholen. Bis dorthin kann ich die Küche etwas aufräumen.


~*~

Bette`s POV:

Sie hat sich bewegt. Ihre Hand hat sich bewegt. Ich habe es ganz deutlich gespürt. Und ich spüre es noch einmal.
Sie dreht ihren Kopf zur Seite und versucht die Augen zu öffnen, kneift sie aber gleich wieder zusammen, da das Licht sie überwältigt. Sie versucht es wieder und wieder und schafft es schließlich.

Sie sieht mich an.
Lächelnd sage ich, „Hi, Shane.“
Sie lächelt zurück und versucht etwas zu sagen.
„Shane, du kannst noch nicht sprechen. Ich werde jetzt die Ärztin rufen und dann wird sie dir eine Kanüle anlegen, mit der zu in der Lage bist, zu reden.“
Sie nickt leicht und ich drücke auf den roten Knopf, um Dr. Cohen zu verständigen.


~*~

Anna`s POV:

Über die Stadtverwaltung habe ich nun endlich einen Grundstücksplan vom Anwesen der Carters organisieren können. Nun muss ich mir gut überlegen, wo ich die große Bühne hinstellen werde. Gut, dass größere Problem wird dann wohl, wer auf dieser Bühne singen wird. Prinzesschen will, dass an ihrer Party eine Band oder sowas singt. Ich kann immer noch nicht ganz glauben, dass eine solche Forderung von einer Dreizehnjährigen stammt. Als ich so jung war, bekam ich von meinen Eltern eine Torte mit dreizehn Kerzen geschenkt und ich durfte ein paar Freunde einladen, und das war`s dann auch. Und das Prinzesschen feiert eine Party mit 200 Gästen, was sie, oder besser ihren reicher Vater, mindestens zwanzig Riesen kosten wird.
Na ja, mir soll es recht sein. An dem Geld werde ich schließlich beteiligt.

Aber was nützt mir das Geld, wenn meine Shane nicht bei mir ist? Ich kann einfach nicht aufhören, an sie zu denken. Ob sie wohl schon aufgewacht ist? Ob es ihr gut geht? Ich hoffe es so sehr.
Ich schaue auf die Uhr. Noch zweieinhalb Stunden, dann kann ich hier weg und zu ihr.
Bis dahin werde ich mir den Lageplan wohl noch ein wenig anschauen müssen, auch wenn die Konzentration völlig im Keller ist.

Nun gut. Welche Sängerin, welcher Sänger oder welche Band würde einer Dreizehnjährigen gefallen? Von ihrer Art her, kam mir Josephine Carter ja wirklich wie eine Prinzessin vor, die auf ihrer rosa Wolke schwebt.
Wer mir als erstes einfällt, ist dieses junge Mädchen, Miley Cyrus. Ich sehe sie vor mir mit ihrem schwarz-weiß-rosa-karierten Minirock und dem passenden Oberteil. Vielleicht wäre sie wirklich die richtige. Sie ist außerdem nicht viel älter Gastgeberin.
Ich werde Josephine fragen, was sie davon hält oder was sie sich vorstellt.


~*~

Alice`s POV:

Ich schließe meine Haustür auf und gehe in die Wohnung. Dana ist zum Glück noch nicht da.
In der Küche drapiere ich das Essen aus dem Restaurant auf Tellern und muss zugeben, dass es sehr auffällig nicht von mir ist. Aber da kann ich jetzt auch nicht helfen.

Ich höre die Tür.
„Alice?“
„In der Küche.“
Schnell räume ich die Aluminium-Schalen, in denen die Speisen waren, weg und trage die beiden Teller an den Tisch im Esszimmer.
„Hi Schatz, wie war dein Training?“
„Ging so. Hast du das Essen selbst gemacht?
Ich stelle die Teller ab.
„Äh… ja! Warum nicht? Ich meine, traust du mir das etwa nicht zu?“
„Doch, klar, Schatz, ich…“.
„Super, dann setzen wir uns am besten. Guten Appetit.“

Sie setzt sich mir gegenüber und beginnt mit dem Curryhähnchen.
„Mhh, das… das schmeckt wirklich gut.“
Ich lächle.
„Es ist nur…“.
„Was?“
„Na ja, weißt du, das Hähnchen schmeckt genauso wie im Ganesha.“
Ich verschlucke mich am Reis und muss husten.
„Wirklich? Das… ist ja ein nettes Kompliment.“
Sie sieht mich an und schmunzelt. Sie weiß genau, dass ich das nicht selbst gekocht habe. Verdammt.


~*~

Bette`s POV:

Nachdem ich eine halbe Stunde auf dem Gang gewartet habe, kommt die Ärztin wieder aus Shanes Zimmer.
„Wie geht es ihr?“, frage ich sie.
„Miss McCutcheon ist sehr schwach, was in ihrem Zustand auch kein Wunder ist. Sie kann jetzt wieder sprechen, allerdings fällt ihr dies sehr schwer und sie sollte sich nicht zu sehr verausgaben. Den Beatmungsschlauch wird sie wohl noch eine Weile ertragen müssen, denn momentan ist sie noch zu instabil, um eigenständig zu atmen. Ihr Gehirn würde zu wenig Sauerstoff bekommen und das hätte schwerwiegende Folgen.
Sie darf sich auf keinen Fall aufregen. Die Beatmungsmaschine reguliert die Luftmenge, die ihr zugeführt wird, und die Abstände dazwischen. Wenn sie sich aufregt, dann braucht sie mehr Sauerstoff und ihre Eigenatmung wird schneller. Die Maschine kann den Bedarf nicht mehr decken und sie bekommt keine Luft mehr.“
„Gut, ich werde darauf achten. Aber Dr. Cohen… was ist denn nun eigentlich mit ihrem Bein?“

Sie sieht mich an.
„Ich habe es mir eben angesehen… wir müssen dringend mit der Physiotherapie beginnen, sonst kann es tatsächlich sein, dass sie es gar nicht mehr benutzen kann. Dieses Bein braucht unbedingt Bewegung, und ich habe vor, damit morgen anzufangen, auch wenn sie dabei noch Schmerzen hat. Aber ich will es ihr ersparen, nur noch ein funktionsfähiges Bein zu haben.“
„Kann es irgendwelche Komplikationen geben?“
„Wie schon gesagt, ist die Gefahr bei einem Pneumothorax immer, dass eine Sepsis auftritt, eine Blutvergiftung, wie man sagt. Wir hoffen nicht, dass dies passiert, denn es ist wirklich eine Tortur, doch wir müssen damit rechnen.“

Ich atme tief durch. Es steht sehr ernst um Shane. Wir müssen sie in den nächsten Wochen und Monaten alle tatkräftig unterstützen, damit sie gesund werden kann. Ich hoffe nur, dass sie tatsächlich wieder gesund wird.


~*~

Anna`s POV:

Mein Handy klingelt. Auf dem Display sehe ich, dass es Bette ist, die anruft. Ich nehme ab.
„Hallo, Bette.“
„Anna, hi. Shane ist wach.“
„Wirklich? Wie geht es ihr?“
Sie schweigt. Ein bisschen zu lange. Es wird doch nichts passiert sein.
„Es geht ihr den Umständen entsprechend. Sie ist schwach und noch sehr instabil.“
„Bette, ich kann in frühestens eineinhalb Stunden hier weg. Bitte sag ihr einen lieben Gruß von mir. Ich komme so schnell wie möglich.“
„Sie schläft im Moment. Die Ärzte haben ihr gerade eine Sprechkanüle angelegt und das hat sie etwas erschöpft. Aber ich werde gleich wieder zu ihr gehen.“
„Danke, dass du mich angerufen hast.“
„Ist doch klar.“
Wir verabschieden uns.

Ich setze mich wieder über meinen Grundstücksplan. Eigentlich bin ich schon recht zufrieden damit, es fehlt nur noch der letzte Schliff. Ich denke, dass ich ihn Miss Carter morgen so vorstellen kann.


~*~

Alice`s POV:

„Also ich muss dich wirklich loben, Al. Du hast wirklich gut… gekocht.“
„Danke.“
„Oder… sollte ich vielleicht besser sagen… bestellt?“
„Was? Wie kommst du denn darauf?“ Verzweifelt versuche ich, meine Ehre zu retten.
„Nur so. Kein besonderer Grund. Ich frag ja nur.“

Ich will mich verteidigen, doch dann sehe ich sie an. „Dana, ich kann nicht kochen. Ich bin keine gute Freundin, weil ich im Haushalt eine absolute Niete bin. Es tut mir soo Leid!“
Sie kommt zu mir. Ich schmunzle, genau das war meine Absicht.
„Ach Alice, hör auf. Ich liebe dich auch so.“
„Ehrlich?“
„Ganz ehrlich.“
Ich lächle. „Ich liebe dich auch.“

Wir räumen den Tisch ab und stellen das Geschirr in der Küche ab.
„Wann gehen wir zu Shane?“, fragt Dana.
„Ich wollte später erstmal Bette oder Anna anrufen, um mich zu erkundigen, wie es ihr geht. Ob sie Besuch empfangen kann.“
„Ja, gute Idee.“


~*~

Bette`s POV:

Ich gehe in das Zimmer und trete an das Bett.
„Hey Shane.“
„B-Bette.“ Ich merke, wie sehr sie sich anstrengen muss.
„Wie geht`s dir?“
„M-Mir tut a-alles weh.“
„Du brauchst jetzt viel Ruhe. Wir sind bei dir, Shane und wir stehen das gemeinsam mit dir durch.“
Sie lächelt und nickt leicht mit dem Kopf.

Ich will sie fragen, was da draußen genau los war, doch sie soll sich nicht aufregen. Ich werde damit bis morgen oder übermorgen warten, vielleicht fühlt sie sich dann etwas besser.

Kapitel 22


Anna`s POV:

Endlich bin ich auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus angekommen. Alle Arbeit ist erledigt und ich kann nun zu Shane. Ich hoffe nur, es geht ihr einigermaßen gut.

Ich gehe durch die Eingangstür der Klinik auf die Information zu, um zu fragen, in welchem Zimmer Shane liegt. Ich war zwar schon gestern bei ihr, doch da war ich anderweitig beschäftigt, als mir die Zimmernummer zu merken.
Nachdem ich diese in Erfahrung gebracht habe, mache ich mich auf den Weg.

Es ist schon spät. Die Besuchszeit ist schon bald zu Ende, ich habe noch etwa eine Stunde. Aber die Hauptsache ist, ich kann meine Shane sehen.

Auf dem Gang vor ihrem Zimmer angelangt, sehe ich durch das kleine Fenster in ihrer Tür hinein. Sie schläft.
Leise öffne ich die Tür und schleiche mich an ihr Bett, um sie nicht zu wecken. Vorsichtig ziehe ich mir einen Stuhl heran und setze mich.

Ihr Anblick bricht mir wieder fast das Herz. Aber ich muss stark bleiben für sie.

Plötzlich regt sie sich ein wenig.


~*~

Shane`s POV:

Ich bin müde. Die Schlafmittel, die die Ärzte mir verabreichen, sind wirklich heftig. Trotzdem öffne ich langsam die Augen.

„Hey Shane.“
Schläfrig drehe ich meinen Kopf zur Seite und lächle.
„A-Anna. Sch-Schön, dass du da b-bist.“
Sie streicht mir über die Wange. „Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht. Was machst du auch für Sachen? Ab jetzt musst du dich darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden, okay?“
Ich nicke leicht. „O-Okay.“
„In sechs Wochen ist Weihnachten. Bis dahin musst du gesund werden, damit wir das Fest zusammen feiern können.“
Ich lächle. „Ich werd m-mich be-bemühen.“
Sie lächelt ebenfalls und beugt sich zu mir herunter, um mir einen Kuss auf die Stirn zu drücken.

Nach einer Weile kommt eine Schwester und wechselt meinen Infusionsbeutel.
„Miss, es tut mir Leid, aber die Besuchszeit ist in fünf Minuten zu Ende. Sie können morgen früh wiederkommen.“
„Ist gut. Ich gehe gleich“, sagt Anna und die Schwester verlässt das Zimmer. Dann wendet sie sich zu mir. „Du hast es gehört, ich muss leider gehen.“
Ich nicke.
„Aber ich werde morgen gleich nach der Arbeit wiederkommen, okay?“
Wieder nicke ich. „Okay.“
Sie sieht mir tief in die Augen. „Ich liebe dich.“
„I-Ich dich auch.“
Wir verabschieden uns und ich bin müde genug, um schnell einzuschlafen.


~*~

Am nächsten Tag …


Bette`s POV:

Das morgendliche Sonnenlicht scheint durch das Fenster, die warmen Strahlen haben mich geweckt. Ich drehe mich auf die andere Seite und schmiege mich an Tina, die schläfrig gähnt.
„Ist es schon Zeit, aufzustehen?“
„Für mich schon, aber du kannst ruhig liegen bleiben. Ich will zu Shane ins Krankenhaus. Eigentlich müsste ich etwas arbeiten, aber ich kann mich ohnehin nicht konzentrieren.“

Tina dreht sich zu mir und küsst mich leidenschaftlich. Dann stehe ich auf und mache mich auf den Weg ins Bad.
Nachdem ich Zähne geputzt und mich fertig angezogen habe, gehe ich in die Küche und will mir gerade einen Kaffee machen, als das Telefon klingelt. Wer kann denn das so früh sein?
Ich nehme ab. „Bette Porter.“
„Guten Morgen, Miss Porter. Hier ist Dr. Eve Cohen aus der Klinik.“

Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Verdammt. Es muss irgendetwas mit Shane sein, sonst würde mich die Ärztin nicht anrufen. Mein Gott. Bitte lass es ihr gut gehen.
„Ist etwas mit Shane?“, frage ich leise. Meine Stimme zittert.
„Heute Nacht ist leider das eingetreten, was wir befürchtet haben… es ist zu einer Infektion gekommen, die wir nicht unter Kontrolle bringen konnte, wodurch eine Sepsis, eine Blutvergiftung aufgetreten ist.“
„Was heißt das nun konkret?“, will ich wissen.
„Sie hat hohes Fieber und ist dementsprechend desorientiert, was normal ist bei einer Sepsis. Wir müssen versuchen, das Fieber zu senken und anschließend unten zu halten und haben ihr Antibiotika verabreicht. Weiter können wir im Moment nichts tun. Aber vielleicht sollte jemand bei ihr sein.“
„Natürlich. In bin so schnell wie möglich da.“

Ich lege den Hörer auf und fahre mit den Fingern durch die Haare.
„Was ist los?“
Ich drehe mich um. Tina steht in der Tür
„Das war Dr. Cohen aus dem Krankenhaus. Shane hat eine tatsächlich Blutvergiftung.“
„Verdammt. Auch das noch.“
Sie kommt zu mir und nimmt mich in den Arm. „Das wird wieder. Ich weiß es. Shane hat schon so vieles durchgestanden. Sie ist stark.“
Ich atme tief durch. „Ich weiß.“

Nach einer Weile löse ich mich aus Tinas Umarmung.
„Ich muss Anna anrufen.“
„Tu das. Ich mach dir schnell einen Kaffee.“
Ich lächle. „Danke.“ Sie ist zu gut zu mir.

Ich wähle Annas Nummer. Als sie sich meldet, erzähle ich ihr, was passiert ist.


~*~

Anna`s POV:

Die Ärzte haben ja prophezeit, dass eine Blutvergiftung auftritt, aber ich habe so gehofft, dass es nicht so weit kommt. Jetzt ist es also so.

Ich streife mir mit den Fingern durch die Haare und fange an, leise zu schluchzen.
„Bette, wann hört denn das endlich auf? Ich kann nicht mehr.“
„Ich weiß, Anna, ich weiß. Es ist für uns alle schwer. Aber wir müssen versuchen, für Shane stark zu sein. Es wird ihr bestimmt bald besser gehen.“
„Meinst du?“
„Ich bin mir ganz sicher, Anna.“
Ich hoffe nur, Bette hat Recht.

„Bette, hast du Zeit, zu ihr zu gehen? Ich meine, ich würde so gerne ins Krankenhaus fahren und bei ihr sein, aber diese blöde Party… ich hab einen Termin, den ich unmöglich absagen kann. Aber ich will auch nicht, dass Shane allein ist und-“.
„Hey“, unterbricht sie mich, „das ist doch kein Problem. Ich kann mich ohnehin nicht auf die Arbeit konzentrieren, außerdem ist in nächster Zeit keine Ausstellung geplant. Ich werd gleich zu ihr fahren, okay?“
Mir fällt ein Stein vom Herzen. „Danke, Bette.“
Wir verabschieden uns und ich lege den Hörer auf.

In diesem Moment verfluche ich meine Arbeit und diese Josephine Carter. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich nicht bei Shane sein kann. Schließlich ist sie meine Freundin und ich sollte mich um sie kümmern. Ich will mich auch um sie kümmern, doch ich hatte jetzt schon so oft frei und ich kann es mir einfach nicht erlauben, noch öfter zu Hause zu bleiben. Erst muss diese Feier geplant sein.


~*~

Bette`s POV:

Ich bin nun schon eine ganze Weile bei Shane und warte auf Dr. Cohen, die ich vorhin nicht angetroffen habe. Man hat mir gesagt, sie sei im Operationssaal, würde aber so bald wie möglich herkommen.

Shanes Zustand ist eher schlecht. Manchmal ist sie voll da, dann spricht sie deutlich und ihre Sätze sind logisch. Und ganz plötzlich ändert sich das und sie halluziniert und ihre Aussprache ist undeutlich. Dann gibt es noch die Phasen, in denen sie am ganzen Körper zittert und Schweißausbrüche hat.
Es muss eine schreckliche Tortur sein. Und ich kann ihr nicht helfen.

Ich nehme ihre Hand. Sie hat die Augen geschlossen und dreht ihren Kopf hin und her und redet wirr. Die einzigen Worte, die ich verstehe, sind „Nacht“, „Blumen“ und „Mommy“.
Mommy. Etwas daran, zerbricht mir das Herz. Die Vorstellung von Shane mit ihrer Mutter, löst Emotionen bei mir aus. Ihre Mutter, die sie allein gelassen und in ein Waisenhaus gesteckt hat. Ich frage mich, ob sie noch lebt und was Shane sagen würde, wenn sie wieder auftauchen würde, nach 20 Jahren.

„Guten Morgen, Miss Porter.“
Ich drehe mich um. Dr. Cohen steht in der Tür. Ich habe sie gar nicht bemerkt.
„Guten Morgen.“
„Wollen Sie mit in mein Büro kommen?“
Ich nicke und stehe auf, um der Ärztin zu folgen.


~*~

Alice`s POV:

„Dana?“, rufe ich, noch immer das Telefon in der Hand haltend, und laufe durch die Wohnung.
„Ich bin im Bad“, höre ich sie zurückrufen.
Ich trete an die Tür. „Darf ich rein kommen?“
„Klar.“

„Anna hat gerade angerufen. Shane hat eine Blutvergiftung. Bette ist bei ihr.“
Sie sieht mich schockiert an.
„Mein Gott. Eine Blutvergiftung? Sowas ist gefährlich.“
„Kennst du dich damit aus?“
Gedankenversunken antwortet sie, „Ja… ja, meine Tante hatte eine Sepsis. Sie… sie ist daran gestorben. Sie war die jüngere Schwester meiner Mutter und war erst 36.“
„Gestorben?“

Oh mein Gott. Ich wusste ja nicht, dass das so schlimm ist. Ich hoffe, Shane packt das. Sie kann uns jetzt nicht verlassen. Nach allem, was sie bisher durchgestanden hat, muss sie es schaffen.


~*~

Bette`s POV:

„Miss Porter, wie schon gesagt, hat Miss McCutcheon eine Sepsis erlitten. Dies ist eine sehr ernst zu nehmende Krankheit, nicht wenige Menschen sterben daran, wenn sie nicht früh genug erkannt wird. Bei Miss McCutcheon ist es allerdings so, dass es sehr früh erkannt wurde. Ich habe verordnet, dass heute Nacht alle zehn Minuten jemand nach ihr gesehen hat und beim geringsten Temperaturanstieg ist ein Arzt gerufen worden.
Ihre Temperatur ist dann auch sehr rasch auf über 39 Grad angestiegen. Dr. Sandner, mein Kollege, der die Nachtschicht hatte, hat sofort reagiert und Miss McCutcheon wurde auf eine Kühlmatte gelegt und man hat ihr Antibiotika verabreicht.
Durch diese Früherkennung ist ihr das Schlimmste erspart geblieben und wir sind guter Dinge, dass es ihr morgen wieder besser geht.“

Ich bin so froh und dankbar, dass es trotz allem nicht lebensgefährlich ist.
„Danke, Dr. Cohen, vielen Dank, auch an Ihr Team.“
Sie lächelt. „Das ist unser Job.“

„Wie geht es nun weiter?“, frage ich.
„Nun, das Fieber ist schon etwas gesunken und wir werden alles tun, dass es weiter sinkt. Die Antibiotika schlagen auch gut an. Wie sie sicher schon gemerkt haben, ist Miss McCutcheon sehr desorientiert und wirkt manchmal aber auch anwesend und klar.“
Ich nicke.
„Das ist ganz normal bei einer Sepsis. Auch die gelegentlichen Anfälle von Schüttelfrost und die Schweißausbrüche sind gängige Symptome bei einer Blutvergiftung, die mit der Zeit wieder abklingen. Sie wird manchmal nicht wissen, wo sie ist und scheint völlig neben der Spur zu sein. Dann müssen sie ihr ruhig erklären, was los ist. Es sollte tagsüber immer jemand bei ihr sein.“
„Ich werde mich darum kümmern.“


~*~

Anna`s POV:

Wieder stehe ich vor dem riesigen Tor, das das weitläufige Grundstück der Carters begrenzt. Ich würde viel lieber bei Shane sein und ihr in dieser schweren Zeit beistehen, aber Arbeit ist nun mal Arbeit.

Ich drücke die Klingel und als sich der Portier meldet, sage ich ihm meinen Namen.
Als ich durch den großen Garten laufe, kommt mir ein Mann entgegen.
„Miss Carter erwartet Sie schon.“
Meine Güte. Ich komme mir wirklich vor, als wäre ich in irgendeinem Schloss und diese Josephine wäre die Schlossdame, der alle zu Füßen liegen. Na ja, das Mädchen kann wahrscheinlich gar nichts dafür. Wie die Eltern, so die Kinder. Bestimmt ist sie auch noch ein Einzelkind, das alles bekommt, was es will. Egal. So lange ich mein Geld bekomme, soll mir das recht sein.

Der Mann führt mich zu einer Art überdimensionalen Terrasse. Josephine sitzt an einem Tisch und steht auf, als sie mich kommen sieht.
„Guten Tag. Schön, dass Sie hier sind“, sagt sie freundlich.
„Miss Carter, guten Tag.“
„Sagen Sie doch bitte Josephine.“
„Gut, Josephine. Ich bin Anna.“
Wir setzen uns. Mir wird etwas zu Trinken angeboten und ich entscheide mich dankend für einen Kaffee. Dann gehen wir zum Geschäftlichen über.


~*~

Alice`s POV:

Dana und ich gehen den Gang entlang, der zu Shanes Zimmer führt. Ich öffne die Tür und sehe Bette an ihrem Bett sitzen.
„Hey, Bette.“
Sie dreht sich um und lächelt.
„Alice, Dana. Schön, euch zu sehen.“
Sie steht auf und umarmt uns.
„Wie geht es Shane?“, fragt Dana.
„Den Umständen entsprechend. Aber sie haben die Blutvergiftung glücklicherweise sehr früh erkannt. Es hätte schlimmer kommen können.“

Im Bett regt sich etwas. Shane stöhnt und dreht ihren Kopf hin und her.
Bette geht zu ihr und hält ihre Hand.
„Shane.“
Sie sieht Bette an. Wir treten ans Bett und sie sieht uns ebenfalls an.
„Bette? Al? Dane?“
„Wir sind hier, Shane“, sage ich beruhigend und streiche ihr übers Gesicht. Es ist ganz nass vom Schweiß.
„Bette, was… wo b-bin ich?“
Dana und ich sehen uns an, doch Bette bleibt ganz ruhig. „Du bist im Krankenhaus, Honey.“ Sie erklärt ihr in Ruhe die Situation. Bald ist sie wieder eingeschlafen.

Bette wendet sich uns zu.
„Würdet ihr kurz bei ihr bleiben? Ich hol mir was zu Trinken und ein Sandwich oder sowas.“
„Klar, kein Problem.“
„Sie redet manchmal wirres Zeug, kriegt Schweißausbrüche oder zittert, das ist aber ganz normal.“
Ich nicke und Bette geht aus dem Zimmer.


~*~

Anna`s POV:

Kaum zu glauben. Josephine hat mein Konzept tatsächlich gefallen. Und die Idee, Miley Cyrus auftreten zu lassen, fand sie klasse. Zum Glück. Ich glaube, wenn sie heute irgendwelche Einwände gehabt hätte, wäre ich durchgedreht.

Ich bin auf dem Weg zum Auto und werde gleich zu Shane ins Krankenhaus fahren, nachdem ich nochmal schnell im Büro vorbeigeschaut habe.


~*~

Bette`s POV:

Als ich wieder ins Zimmer komme, ist die Schwester da und misst Shanes Temperatur. Shane selbst scheint sehr orientiert zu sein.
Ich trete ans Bett, das jemand höher gestellt hat, sodass Shane etwas sitzen kann. Sie lächelt mich an. Es ist so schön, Shane lachen zu sehen.

„Es geht aufwärts, Miss McCutcheon“, sagt die Schwester dann. „Ihre Temperatur ist um einiges gesunken.“
Das ist gut zu hören. Auch die anderen und Shane selbst scheinen erleichtert zu sein. Jetzt wird alles besser, ich weiß es einfach.

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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 Betreff des Beitrags: Re: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:34 
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Kapitel 23


3 Tage später …

Shane`s POV:

Ich liege in meinem Bett und starre an die Decke, als die Ärztin herein kommt.
„Guten Morgen, Miss McCutcheon“, begrüßt sie mich freundlich.
„Guten Morgen“, sage auch ich.
Dr. Cohen mustert mich. „Sie sehen heute schon viel besser aus“, stellt sie fest.
„Mir geht es auch besser.“
Sie lächelt. „Das ist schön. Ich werde Ihnen gleich den Beatmungsschlauch entfernen und dann werden Sie auf die normale Station verlegt. Später wird noch die Drainage herausgenommen.“

Endlich. Endlich komme ich hier raus. Das Gepiepse der Maschinen macht mich wahnsinnig.
„Dr. Cohen?“
Die Ärztin sieht von ihrem Klappbrett auf.
“Würden Sie mir einen Gefallen tun?“
„Klar.“
„Rufen Sie bitte meine Freundin an und informieren Sie, dass ich von der Intensivstation runter bin? Sonst macht sie sich wieder unnötig Sorgen.“ Bette hat mir erzählt, dass es da wohl einige Missverständnisse gegeben hat.
Dr. Cohen lacht. „Natürlich.“


~*~

Bette`s POV:

Ich sitze mit Tina am Frühstückstisch. Das Telefon klingelt und ich stehe auf, um abzuheben.
„Bette Porter.“
„Hi Bette, hier ist Anna.“
„Hi Ann, was ist los? Irgendetwas mit Shane?“ Panik steigt in mir auf.
„Nichts Schlimmes, ganz im Gegenteil. Dr. Cohen hat eben angerufen. Shane ist auf die normale Krankenstation verlegt worden und liegt jetzt in Zimmer 161, nur dass du Bescheid weißt.“
„Na, das sind ja mal gute Nachrichten.“ Ich bin froh, dass nicht wieder irgendetwas passiert ist. „Ich muss allerdings erst noch ins Büro, bevor ich zu ihr kann.“
„Das ist kein Problem“, erwidert Anna, „heute ist mein freier Vormittag, ich muss erst nachmittags zur Arbeit. Da ist also noch viel Zeit.“

Nach einigem Small Talk verabschieden wir uns und ich gehe zurück ins Esszimmer, um Tina die tollen Neuigkeiten mitzuteilen. Auch sie ist erleichtert und wir verabreden uns für den Nachmittag, um zusammen zu Shane zu gehen. Ich werde auch die anderen Mädels anrufen, ob sie mitkommen möchten.


~*~

Shane`s POV:

Zufälligerweise bin ich erneut mit Kathy Sullivan in einem Zimmer, was mich sehr freut, da ich sie wirklich sehr nett finde. Immer noch hat sie beide Arme eingegipst.

„Ach Mädchen, was machst du denn für Sachen?“, fragt sie mich mitleidig. Anscheinend hat sie irgendjemand eingeweiht, was vor ein paar Tagen draußen im Park passiert ist. Vielleicht Bette, als sie meine Sachen aus dem Zimmer geholt hat.
„Ich war unvorsichtig und dann bin ich etwas ungünstig gestürzt.“
Kathy schüttelt den Kopf und lächelt dabei. „Na ja, jetzt wird alles gut.“
Ich lächle ebenfalls. Hoffentlich hat sie Recht.


~*~

Anna`s POV:

Ich klopfe an Shanes Zimmertür und öffne sie. Ihr Bett ist hoch geklappt und sie sitzt fast aufrecht, so wie seit Tagen nicht mehr. Sie unterhält sich mit einer älteren Frau, die im Nebenbett liegt. Als sie mich sieht, lächelt sie.
„Hey Engel“, sage ich und trete an ihr Bett.
„Hi Ann.“
Ich beuge mich zu ihr hinunter und küsse sie auf die Stirn. Dann begrüße ich auch die andere Frau, die freundlich lächelt, bevor ich mir einen Stuhl hole und mich zu Shane setze.

„Wie geht es dir?“, frage ich und halte ihre Hand in meiner.
„Schon viel besser. Ich habe noch Schmerzen, aber sie haben heute Morgen die Schmerzmitteldosis senken können und das ist gut. Mein Hals tut weh, aber das kommt vom Herausziehen des Beatmungsschlauches.“
Ich blicke auf ihren Hals. Erst jetzt fällt mir das große weiße Pflaster auf, das sich dort befindet, wo gestern noch der Schlauch war. „Das muss echt weh getan haben.“
„Ja, es war ein komisches Gefühl und es tat wirklich weh. Es war, als ob mir jemand für kurze Zeit die Luft abgedrückt hat.“

Ich sehe Shane mitfühlend an. Ich will nicht, dass sie leidet. Dass sie noch mehr leiden muss.


~*~

Alice`s POV:

„Alice?“, ruft Dana aus dem Wohnzimmer. Ich bin gerade aus der Dusche gestiegen, um mich für ein Interview fertig zu machen, dass ich in etwa zwei Stunden im Rahmen eines Artikels führen werde.
„Ich komme gleich“, rufe ich zurück. Ich trockne mich ab und wickle das Handtuch um. Dann gehe ich in Richtung Wohnzimmer.

„Was ist los?“, frage ich Dana, die mit einem Tennis-Katalog in der Hand auf dem Sofa sitzt.
Sie sieht zu mir auf und lächelt. „Bette hat gerade angerufen. Shane wurde in ein anderes Zimmer auf der normalen Station verlegt.“

Das sind doch endlich einmal erfreuliche Neuigkeiten. „Schön zu hören. Endlich. Hat Bette noch etwas gesagt?“
„Ja. Sie und Tina statten Shane heute Nachmittag einen Besuch ab. Sie hat gefragt, ob wir vielleicht mitkommen wollen. Anna muss leider arbeiten, aber Kit und Jenny werden auch da sein.“
Ohne zu überlegen, sage ich, „Na klar. Ist doch schön, wenn wir alle mal wieder beisammen sind.“


~*~

Anna`s POV:

Es klopft an der Zimmertür und Dr. Cohen kommt herein. Wir begrüßen uns. Dann wendet sie sich an Shane.
„Miss McCutcheon, ich werde Ihnen jetzt die Drainage entfernen. Das wird allerdings etwas weh tun.“
Shane nickt. „Okay.“

Die Ärztin schlägt die Bettdecke zurück und ich blicke auf den weißen Verband, der immer noch dick um Shanes Brust gewickelt ist. Sie nimmt den Schlauch und zieht vorsichtig daran. Shane drückt fest meine Hand. Sie stöhnt und verzieht ihr Gesicht vor Schmerzen. Es muss wirklich weh tun.
„Es ist gleich vorbei“, sagt Dr. Cohen beruhigend.

Nach beendeter Prozedur liegt Shane schwer atmend im Bett, die Augen noch immer geschlossen. Der Schweiß steht ihr auf der Stirn. Die Ärztin nimmt ein frisches Tuch aus ihrer Tasche und wischt ihn ab.
„Gut gemacht, Miss McCutcheon.“ Shane öffnet die Augen. „Vielleicht sollten Sie etwas schlafen, das war doch sehr anstrengend.“ Sie nickt müde. „Heute Abend haben Sie Ihren ersten Termin mit dem Physiotherapeuten, Sie werden abgeholt.“

Shane nickt erneut. Sie scheint wirklich müde zu sein. Dr. Cohen stellt ihr Bett tiefer, verabschiedet sich und verlässt dann das Zimmer.
Ich wende mich an Shane. „Ich lass dich jetzt allein, damit du dich etwas ausruhen kannst und geh dann auch gleich zur Arbeit. Die Mädels wollen nachmittags mal vorbeischauen. Vielleicht komme ich heute Abend nach der Physiotherapie nochmal.“
Sie gähnt. „Okay. Liebe dich.“
Ich drücke ihr einen dicken Kuss auf den Mund. „Ich liebe dich auch, Shane. Ciao.“

Im Hinausgehen drehe ich mich nochmal um. „Auf Wiedersehen, Mrs. Sullivan.“ Mittlerweile weiß ich, wer sie ist. Shane hat sie mir vorhin vorgestellt. Lächelnd sagt auch sie, „Auf Wiedersehen.“


~*~

Bette`s POV:

Ich sitze in meinem Büro und denke über Shane nach. Es war klar, dass ich mich nicht konzentrieren kann.
Vielleicht bekomme ich heute die Gelegenheit, mit ihr über das zu reden, was im Park des Krankenhauses passiert ist, während ich Wasser geholt habe. Seit Tagen schweigen wir über dieses Thema und es muss nun endlich einmal zur Sprache gebracht werden.

Shane muss darüber reden. Und nicht nur über das, sondern über alles, was sie durchgemacht hat. Über alles, was in ihrer Vergangenheit passiert ist. Was ihre Kindheit zerstört hat und sie noch heute quält.
Ich werde ihr vorschlagen, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Das wird sie zwar nicht freuen, aber ich denke, dass es das Beste für sie wäre.


~*~

Einige Stunden später …


Shane`s POV:

Ich unterhalte mich mit Kathy, als es an der Tür klopft und meine Mädels herein kommen. Alle sind da. Kit, Dana und Alice, Jenny, und Bette und Tina. Es freut mich so, dass wir endlich mal wieder beisammen sind.
„Hey Shane“, sagen alle im Chor und eine nach der anderen kommt, um mich zu umarmen. Alle achten darauf, mir nicht weh zu tun. Ich bitte Alice, mein Bett wieder etwas hochzustellen.

„Wie geht es dir?“, fragt Tina.
„Viel besser. Ich durfte vorhin zum ersten Mal wieder einen Joghurt essen.“
Ich lächle und die anderen tun es mir nach.
„Weißt du schon, wann du nach Hause darfst?“
„In ein paar Tagen werde ich in eine spezielle Reha-Klinik verlegt. Da werde ich wohl noch etwa drei Wochen bleiben müssen.“

Wir unterhalten uns noch eine Weile, bevor die Mädels beschließen, zu gehen, damit ich mich etwas ausruhen kann. Nur Bette bleibt noch. Irgendwie macht sie ein ernstes Gesicht.

„Shane, du hast noch etwas Zeit, bevor deine Therapie anfängt. Wie wärs, wenn ich dich etwas spazieren fahre?“
Ich zögere kurz. Das letzte Mal, als wir raus gingen, endete das in einer Katastrophe. Dennoch stimme ich zu.


~*~

Bette`s POV:

Ich habe natürlich mitbekommen, dass sie sich unwohl dabei fühlt, hinaus in den Park zu gehen. Aber wie gesagt, das Thema muss angesprochen werden.

Ich rufe einen Pfleger, der Shane in den Rollstuhl hilft. Sie hat Schmerzen, das sehe ich ihr an. Dann verabschieden wir uns von Mrs. Sullivan und ich schiebe Shane hinaus.

Auf dem Parkgelände der Klinik angekommen, steuere ich absichtlich genau auf die Bank zu, an der der Unfall vor ein paar Tagen geschehen ist.
„Bette?“, fragt Shane. Und sie klingt irgendwie panisch.
„Was ist?“, antworte ich unschuldig. Ich meine es ja nur gut.
Sie zögert. „Ach, nichts.“

Ich stelle den Rollstuhl so ab, dass sie mir genau gegenüber sitzt und setze mich selbst auf die Bank. Dann sehe ich ihr in die Augen.
„Weißt du, warum ich dich hierher gebracht habe?“
Sie sieht zu Boden.
„Shane, du musst darüber reden. Du kannst nicht alles in dich hineinfressen. Davon wird es nicht besser.“
Sie weiß, dass ich Recht habe, doch sie schweigt.
„Was ist an dem Tag passiert?“


~*~

Alice`s POV:

„Ich bin so froh, dass es Shane besser geht“, sage ich erleichtert.
„Ich auch. Sie sah heute wirklich gut aus, im Vergleich zu den vorigen Tagen.“

Dana und ich sitzen im Planet, um eine Kleinigkeit zu essen. Wir haben – das heißt, ich habe einen Tisch in der hintersten Ecke des Cafés ausgesucht, um ungestört zu sein, denn ich habe vor, Dana etwas zu fragen.

Nachdem wir Marina ausführlich erklärt haben, wie es Shane geht und sie unsere Teller abgeräumt hat, wende ich mich an Dana.
„Dana, ich will dich etwas fragen.“
Sie sieht mich seltsam an. „Oh Gott, etwas Schlimmes?“
„Äh… nein. Wieso?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Es klang so.“
„Nein. Also…“. Wo fange ich nur an? „Wir sind zwar erst seit ein paar Wochen zusammen, aber ich dachte… ich dachte, du bist ohnehin die meiste Zeit bei mir und… meine Wohnung ist groß genug, also…“.
„Du willst, dass ich bei dir einziehe?“

Shit. War wohl keine so gute Idee. „Es war nur so ein Gedanke. Du musst nicht, es ist-“.
„Alice.“ Ich sehe sie an. „Ich würde sehr gerne mit dir zusammenziehen.
Ich lächle glücklich. „Wirklich?“
„Ja, wirklich.“ Auch Dana lächelt nun und wir sitzen Händchen haltend am Tisch.

Ich winke Marina zu uns und bitte sie, uns zwei Gläser Sekt zu bringen.
„Wollt ihr heiraten?“
Ich sehe sie verdutzt an. „Was? Äh, nein. Nicht so schnell. Dana zieht erstmal bei mir ein.“
Auch Marina freut sich mit uns und bringt uns wenig später den bestellten Sekt, mit dem Dana und ich auf unsere gemeinsame Wohnung anstoßen.


~*~

Shane`s POV:

„Er hat sich umgebracht. Wegen dir. Er war so verliebt in dich. Und als du weg warst, so plötzlich, konnte er das nicht ertragen. Du hast ihn verraten, Shane. Du hast ihn umgebracht.“

Ich erinnere mich wieder an all das, was Moses an dem Tag zu mir gesagt hat. Ich habe es die letzten Tage verdrängt, doch jetzt kommt alles wieder hoch.

„Du tust mir Leid, Shane. Du bist nicht nur ein Biest, sondern auch eine Lügnerin.“

Tränen steigen in mir hoch.
„Bette, ich…“.
Ich fange an zu weinen. Bette nimmt mich in die Arme.
„Shane, es ist gut. Wenn du noch nicht darüber reden willst, dann ist das okay. Du sollst dich nicht aufregen, das ist nicht gut für deine Gesundheit.“

Nach einiger Zeit fasse ich mich wieder.
„Ich will darüber reden. Du hast Recht, es nützt nichts, wenn ich darüber schweige.“
Sie lächelt schwach.

Ich atme tief durch.
„Marcus hatte noch einen Bruder, Moses. Moses war damals, als ich wegging, etwa zehn Jahre alt. Als ich da im Park saß, rief jemand plötzlich meinen Namen, und als ich mich umdrehte, dachte ich im ersten Moment, Marcus stehe vor mir. Ich bekam Panik. Ich weiß nicht, warum Moses hier war, aber das ist eigentlich auch egal. Er sagte, dass Marcus sich umgebracht hätte und dass ich schuld daran wäre, weil er so verliebt in mich gewesen war und nicht ertragen konnte, dass ich nicht mehr da war. Als Moses wegging, habe ich mir die ganzen Schläuche herausgerissen und bin aufgestanden. Mir tat alles weh, doch irgendwie funktionierte es und ich konnte einige Meter auf ihn zu hüpfen. Ich sagte ihm, dass Marcus…“.
Ich schluckte. Bette streichelte mich über den Rücken.
„… dass er mich vergewaltigt hat, doch das wollte er nicht hören. Er nannte mich eine Lügnerin. Dann ging er endgültig und als ich wieder zurück zum Rollstuhl humpeln wollte, wurde mir plötzlich schwindelig und ich fiel. Das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, dass du über mich gebeugt warst.“

Ich sehe zu Boden und wieder laufen Tränen meine Wange hinab. Es ist mir sehr schwer gefallen, all das auszusprechen, aber andererseits bin ich nun erleichtert, dass ich es getan habe. Zumindest einen Teil des Ballastes bin ich los.

„Shane, vielleicht solltest du, wenn das hier alles überstanden ist, einen Psychotherapeuten aufsuchen und versuchen, mit ihm diese Erlebnisse, dieses Trauma zu verarbeiten.“
Ich sehe sie an.
„Vielleicht hast du Recht.“

Wir bleiben noch eine Weile sitzen. Dann sieht Bette auf die Uhr.
„Wir sollten reingehen, deine Physiotherapie beginnt bald.“
Ich nicke und sie schiebt mich zurück in die Klinik und in mein Zimmer.


Kapitel 24


Shane`s POV:

Ich bin gleich im Rollstuhl sitzen geblieben, da mich ohnehin gleich jemand zur Physiotherapie abholen wird. Und ich muss nicht lange warten. Nach ein paar Minuten öffnet sich die Zimmertür und ein gut aussehender junger Mann kommt herein, der lächelnd auf mich zukommt.
„Miss McCutcheon, ich bin Leo, Ihr Physiotherapeut. Ich werde Sie gleich zu Ihrer ersten Sitzung mitnehmen.“
Ich nicke.

„Gut, dann wird ich mal gehen“, meldet sich Bette zu Wort. Doch ehe ich ihr etwas antworten kann, sagt Leo, „Wenn Sie wollen, können Sie ruhig bleiben und uns bei den Übungen unterstützen, wenn Miss McCutcheon das auch möchte.“
„Nennen Sie mich doch Shane.“
Er lächelt wieder. „Also gut, wenn Shane das möchte.“
Bette zögert kurz, stimmt dann aber zu, nachdem sie sich mit einem kurzen Blick auf mich versichert hat, dass ich nichts dagegen habe.


~*~

Bette`s POV:

Ich verstehe zwar nicht ganz, was ich da soll, aber vielleicht kann ich ja lernen, die Übungen auch mit Shane zu machen, wenn sie wieder zu Hause ist. Allerdings bin ich mir nicht so sicher, ob ich für so etwas geeignet bin… na ja, wenn es Shane hilft. Für sie würde ich wahrscheinlich alles tun, ohne lange zu zögern.


~*~

Anna`s POV:

Die Geburtstagsparty von Josephine Carter steht soweit. Am Wochenende soll sie stattfinden und die Einladungen sind schon letzte Woche verschickt worden. Es waren genau 268 Stück. Und das bei einem dreizehnten Geburtstag! Wie soll das nur werden, wenn sie einen runden Geburtstag hat, ihren 30. oder 40.? An meinem dreizehnten Geburtstag durfte ich genau dreizehn Leute einladen, das war bei uns immer so. Die Anzahl der Gäste richtete sich nach dem Alter, jedes Jahr einer mehr. Ich müsste also 268 Jahre alt werden, um Josephines Party heran zu kommen.

Aber was mache ich mir da überhaupt für Gedanken? Schließlich kann es mir ja egal sein, Hauptsache ist es, ich bekomme mein Geld, und da gilt: je mehr Gäste, desto besser.

Da die Planungen für diese Feier nun abgeschlossen sind, kann ich mich meinem nächsten Projekt widmen. Ich sehe auf den Zettel, den mir Adalyn vor Wochen ins Büro gelegt hat: Weihnachtsfeier für Dellig & Partner.
Ich suche online nach Informationen dieses Unternehmens, um die Feier direkt darauf zuschneiden zu können. Eine Telefonnummer des Geschäftsführers steht auf dem Zettel. Ich werde ihn morgen anrufen, um besondere Wünsche und Vorstellungen in Erfahrung zu bringen. Heute ist es dafür schon zu spät.

Ich sehe auf meinen Kalender. Für die Planungen habe ich noch genau vier Wochen und drei Tage Zeit. Ich finde, das ist mehr als genug.
Genug, um für heute Schluss zu machen.


~*~

Shane`s POV:

Leo, der meinen Rollstuhl schiebt, Bette und ich kommen in einem kleinen Zimmer an, das gefüllt ist mit Gymnastikbällen, Matten, Bändern, Hanteln und einer Liege, vor der Leo Halt macht.
„Shane, ich werde dich jetzt erstmal da drauf legen und einfache Übungen mit dir machen, um dich nicht gleich zu überanstrengen.“
Ich nicke und Leo legt einen Arm um meinen Hals und den anderen um meine Beine, um mich hochzuheben. Ich habe leichte Schmerzen, lasse mir aber nichts anmerken. Er legt mich sanft auf der Liege ab und stellt den Kopfteil etwas höher.
„Liegst du bequem?“
„Ja, danke.“
„Gut, dann fangen wir an.“


~*~

Bette`s POV:

Leo stellt Shanes rechtes Bein gebeugt auf und hält es fest.
„Kannst du dein Bein oben halten?“ Er lässt los.
Ich kann eine leichte Anstrengung auf Shanes Gesicht feststellen, doch anscheinend macht es ihr nicht viele Probleme. Kein Wunder, es ist ja auch das gute Bein.
Jetzt nimmt er das rechte und stellt es auf.
„Nun versuch dasselbe mit dem anderen Bein.“
Er lässt es los und Shane stößt einen Schmerzensschrei aus, als alles wie ein Kartenhaus zusammenfällt.

Shane sieht verzweifelt aus, als hätte sie schon alle Hoffnung aufgegeben, ihr Bein wieder voll nutzen zu können.
„Shane, das Wichtigste ist Geduld. Du musst Geduld haben und dich langsam vortasten. Wenn man zu viel auf einmal erwartet, dann passiert es schnell, dass man Niederlagen einstecken muss und enttäuscht wird. Und das ist nicht der Sinn der Sache. Gib deinem Körper Zeit, sich zu erholen, es kann nicht von heute auf Morgen gehen.“
Sie nickt traurig.

Leo setzt Shane auf einen ausgepolsterten Stuhl und fordert mich auf, mich ihr gegenüber zu setzen.
„Streckt beide eure Hände nach vorne aus, sodass sich eure Handflächen berühren. Bette - darf ich Bette sagen?“
„Natürlich.“ Ich lächle ihm kurz zu.
„Bette, lass deine Arme einfach ausgestreckt und übe nur leichten Druck aus. Du dagegen Shane, versuch, so fest wie möglich gegen Bettes Hände zu drücken.“

Sie tut, wie Leo es gesagt hat und ich spüre deutlich, wie schwach sie ist. Ich drücke nur wenig dagegen, doch sie schafft es kaum, sich durchzusetzen. Nach weniger Zeit sacken ihre Arme auf die Oberschenkel.
„Ich kann nicht mehr.“

Nachdem Leo mit Shane noch einige Streckübungen vollführt hat und mir vieles gezeigt hat, was man zu Hause in so etwas wie Partnerarbeit mit ihr üben kann, bringt er sie wieder zurück in ihr Zimmer. Sie ist sichtlich erschöpft. Ich verabschiede mich schon auf dem Gang von ihr, da ich noch etwas arbeiten muss, warte aber vor dem Zimmer auf Leo.

Plötzlich klingelt mein Handy. Verdammt. Hier im Krankenhaus darf man keine Mobiltelefone benutzen.


~*~

Anna`s POV:

„Bette Porter?“
Na endlich. Ich dachte, sie hebt nie mehr ab. Aber irgendwie klingt sie genervt.
„Hey Bette, ich bin es, Anna.“
„Anna, ich bin im Krankenhaus.“
„Oh.“ Es ist verboten, dort Handys zu benutzen.
„Ich wollte nur fragen, wie es Shane nach ihrer ersten Physiotherapie geht. Lohnt es sich, noch vorbei zu kommen.“

Bette seufzt. Hoffentlich ist das kein schlechtes Zeichen.
„Ehrlich gesagt, sie ist ziemlich erschöpft. Es geht ihr gut, aber sie ist müde. Ich habe mich gerade von ihr verabschiedet, damit sie sich ausruhen und etwas schlafen kann.“
„Okay, dann lass ich sie wohl auch lieber in Ruhe.“
„Ich denke, das wäre besser, ja. Hör mal, ich muss jetzt wirklich Schluss machen.“


~*~

Bette`s POV:

„Die Benutzung von Mobiltelefonen ist in diesem Krankenhaus strengstens untersagt“, spricht eine ärgerliche Stimme hinter mir. Verdammt.
„Ciao, Ann“, sage ich ins Telefon und schalte es dann schnell aus.
Ich drehe mich um und sehe Leo lachend vor mir stehen.
„Leo, jag mir doch nicht so einen Schrecken ein.“
Er schmunzelt. „Ich hab ja Recht. Lass dich bloß nicht von den Chefärzten erwischen.“
Ich nicke.

„Hast du auf mich gewartet?“
„Ja, ähm… ich wollte dich etwas wegen Shane fragen.“
Er bedeutet mir, ein Stück zu laufen. Wahrscheinlich hat er seinen nächsten Termin.
„Schieß los.“
„Na ja, ich meine… wie siehst du ihre Chancen? Wird sie wieder laufen können?“
Er seufzt. „Es ist zumindest nicht ausgeschlossen.“

Ich bleibe stehen. „Was soll das heißen, es ist nicht ausgeschlossen?“ Ich sehe ihn schockiert an.
„Na ja, vor allem die Muskeln in Shanes linkem Bein sind sehr strapaziert und sie wird wirklich viel Geduld haben müssen. Wahrscheinlich wird es sehr schleppend voran gehen.“
„Aber es besteht Hoffnung?“
„Es besteht Hoffnung, ja. Aber wie gesagt, es wird eine Weile dauern.“


~*~

Alice`s POV:

„Unsere erste gemeinsame Nacht in unserer ersten gemeinsamen Wohnung. Ist das nicht schön, Dana?“
Sie zögert. Findet sie es etwa nicht toll?
„Äh… Alice, ich bin noch gar nicht hier eingezogen, schließlich haben wir uns erst heute dazu entschlossen, zusammen zu ziehen. Und außerdem ist es nicht unsere erste Nacht in deiner Wohnung.“
Nun, da hat sie wohl nicht ganz Unrecht…
„Aber Dana, jetzt verdirb doch nicht alles. Ich freue mich eben.“
„Ich freu mich doch auch.“

Eine Weile liegen wir einfach nur da und halten uns gegenseitig in den Armen. Das Mondlicht scheint durch den Schlitz, den die Vorhänge in der Mitte des Fensters offenlegen. So romantisch…

„Ich bin gespannt, was die anderen dazu sagen werden“, sagt Dana dann.
„Na, was wohl… sie werden sich natürlich für uns freuen. Außerdem warten sie bestimmt schon darauf, dass das kommt.“
„Meinst du?“
„Jep. Sie wundern sich wahrscheinlich schon, dass du noch nicht hier eingezogen bist.“
„Na dann ist es ja gut, dass sich das bald ändert!“, schmunzelt sie und kuschelt sich noch fester an mich heran.
„Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch, Al.“


~*~

Anna`s POV:

Ich habe eben noch einmal mit Bette telefoniert. Vorhin war sie ja im Krankenhaus und konnte nicht lange reden. Deshalb habe ich sie zu Hause angerufen. Sie hat mir mitgeteilt, wie Shanes Physiotherapie gelaufen ist und was ihr Therapeut, Leo glaube ich, über ihren Heilungsprozess gesagt hat. Und ich muss gestehen, dass ich nun zum ersten Mal ernsthaft darüber nachdenke, wie es wird, wenn Shane aus der Reha kommt.


Sie wird weiterhin viel Pflege brauchen. Wenn die Therapie ihres Beines länger andauert, wird sie vielleicht im Rollstuhl sitzen, zumindest zeitweise, und wer weiß, wie lange. In ihrer Wohnung kann sie unmöglich bleiben. Aber wird sie zustimmen, wenn ich ihr anbiete, bei mir zu wohnen? Wird sie meine Hilfe annehmen? Kann ich ihr überhaupt die nötige Hilfe bieten? Wie soll ich sie pflegen, wenn ich den ganzen Tag arbeite?

So viele Fragen und keine Antworten… ich lege den Kopf in beide Hände und stütze mich auf dem Tisch ab. Ich muss dringend mit Shane reden.


~*~

Bette`s POV:

Ich liege mit Tina im Bett. Sie liest in ihrem Buch und ich sehe mir eine Kunst-Zeitschrift an. Schon den ganzen Abend scheint sie so seltsam aufgeregt zu sein, als wolle sie mir etwas erzählen.
„Bette?“
„Hm?“, sage ich und drehe mich zu ihr.
„Ich muss dir was erzählen.“
Da haben wir es. Ich wusste es.
Ihre Augen leuchten. Es muss etwas Gutes sein.

„Ich… ich… verdammt, den ganzen Tag habe ich geübt, wie ich es dir sagen werde, und jetzt? Jetzt bring ich trotzdem nichts heraus.“
Ich lege meine Zeitung auf den Nachttisch und wende mich dann ganz ihr zu. Auch sie legt ihr Buch weg.
Wir sehen uns eine Weile tief in die Augen.

„Es ist schon eine Weile her, dass ich es weiß, aber die ganze Aufregung um Shane… ich wollte, dass du dich um sie kümmern kannst und dir um mich keine Sorgen machen musst.“
Jetzt ist mir doch etwas mulmig zumute. „Was ist los?“, frage ich, nun schon nicht mehr so überzeugt davon, dass Tina eine gute Nachricht für mich auf Lager hat.

„Bette, du weißt, was wir schon seit langer Zeit planen und du weißt auch, dass es sehr lange nicht geklappt hat. Nun ist es endlich soweit.“
Mein Herz schlägt heftig in meiner Brust. Nein, das ist nicht möglich. Wie lange haben wir darauf gewartet.
„Du bist schwanger?“
Sie lächelt mich an und nickt. Mit Tränen in den Augen nehmen wir uns in die Arme.


~*~

Anna`s POV:

Ich weiß nicht, wie ich auf den Gedanken gekommen bin, aber unwillkürlich muss ich an meine Eltern denken und die Idee, dass sie an Weihnachten zu uns kommen könnten. Plötzlich verspüre ich das Bedürfnis zu reden und beschließe, meine Mutter in Deutschland anzurufen. Dort ist es nun etwa halb neun Uhr in der Früh, um diese Zeit ist Mom immer wach. Es gibt wenige Tage, außer vielleicht sonntags, an denen sie nach halb sieben aufsteht. Also greife ich zum Hörer und wähle die Nummer. Nach nur wenigen Klingeltönen nimmt jemand ab.

„Ja?“
Meine Mutter.
„Hi Mom.“
„Anna, Schätzchen. Mit dir hab ich ja nun überhaupt nicht gerechnet. Schön, dass du anrufst. Wie geht es dir? Und wie geht es Shane?“
Ich bin immer wieder erstaunt, wie offen sie mittlerweile über Shane spricht.
„Mir geht’s gut. Shane liegt immer noch im Krankenhaus, aber es geht ihr schon viel besser. Nächste Woche geht sie auf Reha.“
„Das sind doch endlich mal gute Nachrichten.“

„Mom, warum ich eigentlich anrufe… ich habe, um ehrlich zu sein, noch nicht mit Shane darüber geredet, aber ich wollte dich nochmal auf die Idee von neulich ansprechen, dass ihr über Weihnachten zu uns nach L. A. kommt.“
Sie lacht. „Welcher Zufall, erst gestern habe ich mich mit deinem Vater darüber unterhalten und wir würden wirklich gern kommen.“
„Das ist schön.“
„Voraussetzung dafür ist natürlich, dass auch Shane zustimmt.“
„Okay, aber ich denke nicht, dass sie etwas dagegen hat.“

Wir plaudern noch ein wenig, ehe ich am Telefon so oft gähne, dass mich meine Mutter ins Bett schickt. Wir haben fast eine Stunde telefoniert und es ist schon gleich halb zwölf. Es ist wirklich Zeit, ins Bett zu gehen, denn morgen ist wieder Arbeit angesagt.

Nachdem ich mich schnell noch abgeschminkt und meine Kontaktlinsen entfernt habe, falle ich todmüde in mein Bett.

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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 Betreff des Beitrags: Re: The Power Of Love
BeitragVerfasst: 25.09.2012, 05:36 
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Kapitel 25


Am nächsten Tag…

Anna’s POV:

Ich bin auf dem Weg zu Shane ins Krankenhaus, um mit ihr über einige wichtige Dinge zu sprechen.
Dort angelangt, treffe ich auf Dr. Cohen, die mir schon von weitem zuruft: „Ah, gut, dass ich Sie treffe.“
„Warum? Ist etwas mit Shane?“
„Nein nein, keine Sorge, Shane geht es gut. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass heute die Bestätigung aus der nahe gelegenen Reha-Klinik, in die Miss McCutcheon verlegt werden soll, per Fax eingetroffen ist. In zwei Tagen wird das für sie vorgesehene Bett frei. Wir können sie also in zwei Tagen dorthin verlegen.“
„Gut. Wie lange muss Shane in der Reha bleiben?“
„Ich denke, drei bis vier Wochen. Und danach etwa dreimal pro Woche eine Stunde Physiotherapie.“


~*~

Bette’s POV:

„Guten Morgen, euch beiden“, sage ich lächelnd zu Tina gewandt, die Hand auf ihrem Bauch.
Wir konnten heute länger schlafen und haben dies voll ausgekostet.
„Guten Morgen, Schatz“, erwidert Tina gähnend.
„Weißt du, jetzt wo ich weiß, dass du schwanger bist, bemerke ich erst, dass du um den Bauch rum etwas zugelegt hast.“
Tina gibt mir einen Klaps aufs Bein. „Was fällt dir ein?“
Ich kichere. „Ich freue mich eben. Mensch Tina, in einem halben Jahr werden wir Eltern sein.“
„Ja. Ein wundervoller Gedanke, nicht?“
Voller Genuss beobachte ich Tina, wie sie träumerisch hoch zur Decke sieht.


~*~

Shane’s POV:

Ich rede mit Kathy gerade über das Leben in Waisenhäusern und Pflegefamilien, als sich die Tür öffnet und Anna herein kommt.
„Hey Ann.“
„Hi Schatz. Guten Tag, Miss Sullivan.“
„Kathy, bitte“, lächelt sie.
„Gut, Kathy, ich bin Anna.“

Anna wendet sich an mich. „Wie geht’s dir?“, fragt sie und gibt mir einen Kuss.
„Ich fühle mich irgendwie müde und ausgelaugt, aber die Schmerzen sind okay.“
„Wie wäre es, wenn wir nach draußen in den Park gehen, damit du etwas frische Luft abbekommst. Vielleicht fühlst du dich dann fitter.“
„Gerne. Ich bin froh, wenn ich etwas raus komme.“

Ich betätige den roten Knopf über meinem Bett und kurze Zeit später kommt Schwester Lynda herein.
„Miss McCutcheon, was kann ich für sie tun?“
„Können Sie bitte einen Rollstuhl bringen? Ich möchte nach draußen gehen.“
„Klar. Ich bin gleich wieder da.“

Nach einigen Minuten kommt überraschend Leo mit dem Rollstuhl durch die Tür.
„Shane. Hey, wie geht’s dir?“
„Gut, danke. Leo, das ist übrigens Anna, meine Freundin. Anna, das ist Leo, mein Physiotherapeut.“
„Freut mich, dich kennen zu lernen“, sagt Anna lächelnd und streckt ihre Hand aus.
„Freut mich ebenso.“

„Dann wollen wir mal“, sagt Leo und streift meine Bettdecke zurück, um mich in den Rollstuhl zu heben. Ich verziehe mein Gesicht vor Schmerzen, doch als ich sitze, geht es wieder.
„Wir sehen uns heute Abend, Shane. Ach übrigens, du wirst in die Reha-Klinik verlegt, in der ich arbeite. Du musst mich also noch ein paar Wochen ertragen.“
Ich lache. „Gern. Bis heute Abend.“

Anna schiebt mich hinaus aus dem Zimmer und hinaus aus der Klinik in den Park, wo wir an einer Bank, die sich am Rande eines kleinen Sees befindet, stehen bleiben.


~*~

Alice’s POV:

„Schatz?“, rufe ich ins Schlafzimmer.
„Was ist?“, antwortet Dana gähnend, als ich den Raum betrete.
„Bette hat eben angerufen. Sie und Tina haben uns allen etwas Wichtiges zu sagen und deswegen wollen wir heute Nachmittag zusammen zu Shane ins Krankenhaus.“
„Cool. Bin dabei.“ Und mit diesen Worten dreht sie sich um und will weiter schlafen.

„Hey, Dana. Es ist gleich halb 12. Wir können nicht den ganzen Tag schlafen.“
„Was kann ich dafür, wenn Du mich die ganze Nacht wach hältst.“
Ich schmunzle und lege mich zu ihr ins Bett.
„Nun, dann muss ich dich jetzt wohl wachmachen.“
Dana grinst. „Ich hab gewusst, du kannst nicht widerstehen.“


~*~

Anna’s POV:

Ich lege meine Hand auf Shanes Bein und sie nimmt sie in ihre.
„Shane, ich muss einige Dinge mit dir bereden.“
Sie senkt den Kopf, als ob sie schon gewusst hätte, dass das kommt. „Okay.“
„Wenn du aus der Reha kommst, wirst du nicht in deine Wohnung zurück können. Deine Mitbewohnerinnen können sich nicht um dich kümmern und du kannst dich auch nicht selbst um dich kümmern.“
Ich erwarte einen Gegenspruch, doch Shane sagt nichts. Deshalb fahre ich fort: „Aus diesem Grund möchte ich dir anbieten, erst mal bei mir zu wohnen.“
Sie hebt den Kopf und sieht mich an. „Anna, ich will dir nicht zur Last fallen.“
„Aber du fällst mir nicht zur Last. Du bist meine Freundin, ich liebe dich, und ich möchte für dich da sein. Ich möchte, dass wir das zusammen durchstehen.“
Langsam nickt sie mit dem Kopf. „Gut.“

Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell zusagt, doch offensichtlich sieht sie es selbst ein. Ich werde mit ihren Mitbewohnerinnen sprechen.

„Da ist noch etwas“, beginne ich zaghaft, worauf mich Shane fragend ansieht. „Meine Eltern wollten, dass ich über Weihnachten nach Deutschland komme.“
„Du willst nicht, dass ich mitkomme, oder? Anna, das kannst du nicht von mir erwarten.“
„Shane, warte doch erst mal ab, was ich dir sagen will… Ich habe meinen Eltern gesagt, dass das in diesem Jahr unmöglich ist und ihnen deshalb angeboten, zu mir zu kommen und in Los Angeles Weihnachten zu feiern. Aber unter der Bedingung, dass du zustimmst.“
Sie lächelt mich an. „Anna, es sind schließlich deine Eltern. Ich möchte nicht der Grund sein, dass sie nicht kommen können. Natürlich hätte ich diesen Tag gern mit dir verbracht, aber wir haben doch noch so viel gemeinsame Zeit vor uns.“
„Oh Shane, du verstehst da was falsch. Ich habe meine Eltern gefragt, ob sie zusammen mit uns, mit dir und mir, Weihnachten feiern wollen.“

Nun sieht sie mich mit großen Augen an. „Aber… aber deine Eltern können nicht mit der Tatsache umgehen, dass wir ein Paar sind, oder? Dann wäre es nicht gut, sie gerade an Weihnachten damit zu konfrontieren.“
„Meine Eltern haben eingesehen, dass es keine Krankheit ist. Und sie würden dich gern kennen lernen.“
Langsam verzieht sie ihren Mund zu einem Lächeln. „Na gut, okay.“
Ich lächle ebenfalls.


~*~

Shane’s POV:

Ich bin Anna ehrlich gesagt sehr dankbar, dass sie mir angeboten hat, bei ihr zu wohnen. Sie hat Recht, ich wäre alleine nicht klar gekommen.
Und dass ich ihre Eltern kennenlerne, ist ebenfalls eine große Überraschung.

Plötzlich klingelt Annas Handy.
„Entschuldige“, sagt sie und greift in ihre Tasche. „Ja?“

Während Anna telefoniert, sehe ich mich im Park um. Auf dem See schwimmen ein paar Enten fröhlich umher, und zwei Schwäne haben ihre Hälse zu einem Herz geformt. Überall um den See herum stehen kleine Bänke und auf fast allen davon sitzen ebenfalls Leute und genießen die Idylle.

Ich höre Anna sagen „Okay, dann bis später.“ und blicke zu ihr.
„Das war Bette“, sagt sie, als sie das Handy zurück in die Tasche steckt. „Die Mädels kommen nachmittags vorbei. Bette sagte, sie hätten etwas mit uns zu bereden.“
„Aha? Was könnte das sein? Klang sie eher ernst oder eher vergnügt?“
„Keine Ahnung. Lassen wir uns überraschen.“

Wir sitzen noch eine Weile ruhig am See, bevor Anna sagt, sie wolle noch schnell einkaufen gehen und später mit Bette und den anderen wieder kommen. Sie schiebt mich zurück in mein Zimmer.
„Lass mich einfach da stehen. Ich rufe Leo, dass er mich zurück ins Bett bringt.“
„Sicher, dass das in Ordnung ist?“
„Klar.“
„Gut. Bis später. Ich liebe dich.“
„Ich dich auch. Bis dann.“
Wir küssen uns kurz.

Anna verabschiedet sich noch von Kathy, bevor sie aus dem Zimmer geht.
Ich rolle mich nah ans Bett heran und stütze mich mit den Armen ab.
„Was hast du vor, Liebes?“, fragt Kathy vom Nebenbett aus.
„Ich will zeigen, dass ich es auch alleine schaffe.“
„Ach, sei doch nicht albern. Lass dir helfen.“
„Nein. Ich kann es alleine.“

Ich spüre den Schmerz, der durch meine Arme schießt, doch ich habe nicht vor, aufzugeben. Ich verlagere mein Gewicht und versuche mich, vom Boden abzustoßen. Stattdessen schiebe ich den Rollstuhl von mir weg. Ich verliere den Halt und stürze schmerzvoll zu Boden.
„Shane! Verdammt, ich kann nicht mal den Knopf drücken mit meinen eingegipsten Armen. Geht’s dir gut?“

Shit. Zuerst sehe ich nur Blut, doch ich merke schnell, was die Ursache ist. Ich habe versehentlich den Infusionsschlauch herausgerissen. Ich benutze die andere Hand, um Druck auszuüben und so die Blutung zu stoppen. Dann wird mir bewusst, in welch unbehaglicher Lage sich mein linkes Bein befindet, doch spüre ich keinen Schmerz. Meine Rippen stechen etwas, doch es ist nicht so schlimm. Ich denke, dass ich Glück hatte.
„Mir geht`s gut. Ich denke, dass ich an den Knopf herankomme.“
Als ich meine Hand ausstrecke, kommt Leo herein.
„Anna hat mich gebeten, dir zu… Shane!“
Er stürmt zu mir. „Was ist passiert?“
„Ich habe versucht, alleine ins Bett zu kommen. Aber keine Sorge, es ist alles in Ordnung.“
„Alles in Ordnung? Und wo kommt das ganze Blut her?“
Ich zeige auf die Infusionsnadel.

Nachdem mich Leo zurück ins Bett gehoben hat, geht er, um die Ärztin zu holen.
„Mensch, Kindchen. Hör doch endlich auf, solche Dummheiten zu machen.“
Ich sehe Kathy schweigend an. Ich fühle mich durch den Blutverlust noch müder als ohnehin schon.
„Versprichst du mir, ab jetzt vorsichtiger zu sein und dir helfen zu lassen?“
Ich seufze. „Ja.“

Leo kommt mit Dr. Cohen und einer unbekannten Schwester herein, die anfängt, den Boden von meinem Blut zu säubern. Von Dr. Cohen darf ich mir eine offenbar endlose Standpauke über das richtige Verhalten in meiner Situation anhören. Ich fühle mich, als wäre ich ein Invalide.
Dann untersucht sie mich auf irgendwelche Verletzungen. „Sie hatten Glück, Miss McCutcheon. Außer ein paar blauen Flecken ist nichts passiert.“
Sie führt eine neue Infusionsnadel unter meine Haut und legt um einen Verband um die Wunde an der Hand.
„Ich gebe Ihnen ein leichtes Schlafmittel, sie sollten auf Grund des Bluverlustes etwas schlafen.“
Sie spritzt mir irgendein Mittel und verlässt dann zusammen mit Leo, der den Rollstuhl schiebt, und der Schwester das Zimmer.


~*~

Einige Stunden später …

~*~

Alice’s POV:

Wir haben uns alle bei Bette getroffen, um zusammen zu Shane zu fahren.
„Fehlt noch jemand?“, frage ich in die Runde.
„Anna“, sagt Bette, „sie hat mir vorhin noch Bescheid gesagt, dass sie ebenfalls vorbeikommt, um mit uns gemeinsam nochmal zu Shane zu gehen.“
„Gut. Dann warten wir noch kurz.“

Nach einigen Minuten sehe ich vom Küchenfenster aus Annas Auto den Vorplatz hochfahren.
„Sie kommt“, rufe ich ins Wohnzimmer, als es auch schon an der Tür klingelt.
Wir empfangen Anna mit Umarmungen.

„Wie geht’s Shane?“, fragt Dana.
„Es geht ihr heute sehr gut. Sie sagt, sie ist müde, doch die Schmerzen halten sich in Grenzen. In zwei Tagen wird sie in die Reha-Klinik verlegt.“
„Das ist schön.“
„Wo ist diese Reha-Klinik?“
„Sie ist direkt neben dem Krankenhaus. Sie hat sogar denselben Physiotherapeuten.“
„Es geht also aufwärts.“
„Zum Glück.“
„Shane wird einstweilen bei mir wohnen, wenn sie aus der Reha kommt.“
„Wirklich?“
„Ja, sie hat heute Morgen zugestimmt. Außerdem kommen uns meine Eltern an Weihnachten besuchen.“

Nach kurzem Small-Talk machen wir uns auf den Weg.


~*~

Anna’s POV:

Wir sind auf dem Weg zu Shanes Zimmer, als wir auf ihren Physiotherapeuten Leo treffen, der gerade einen jungen Mann durch die Gänge schiebt.
„Wollt ihr zu Shane?“
„Ja“, sage ich und wende mich dann den Mädels zu. „Das ist Leo, der Physiotherapeut.“
Die anderen begrüßen ihn.
„Ähm, ich schätze mal, dass sie noch schläft. Die Ärzte haben ihr vorhin ein Schlafmittel gegeben.“

Oh Gott. Es ist wieder irgendetwas passiert. Bitte, lass es ihr gut gehen.
„Wa-warum?“, frage ich zögerlich. Auch den anderen steht die Angst im Gesicht geschrieben.
„Nun ja, als ich vorhin ins Zimmer gekommen bin, nachdem du mir Bescheid gesagt hast, ich solle ihr helfen, lag sie auf dem Boden. Sie hat es selbst versucht und dabei hat sich ihr Infusionsschlauch gelöst. Dadurch hat sie etwas Blut verloren, aber nicht lebensgefährlich viel. Sie hat ein paar blaue Flecke, aber sonst geht es ihr wirklich gut. Ihr müsst euch keine Sorgen machen, wirklich.“
Ich atme auf. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert.
„Diese Frau kann man aber auch keine Sekunde aus den Augen lassen.“

„Geht doch einstweilen in die Caféteria. Ich sag ihrer Bettnachbarin, dass sie Bescheid geben soll, wenn Shane aufwacht und dann hole ich euch.
„Das wäre nett. Danke, Leo.“


~*~

Bette’s POV:

Wie Anna schon gesagt hat: man kann Shane wirklich nicht alleine lassen. Mit ihrer Dickköpfigkeit kann sie sich noch in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Aber ich bin natürlich froh, dass nichts weiter passiert ist.

Wir sitzen schon eine Weile in der Caféteria, als Leo auf unseren Tisch zukommt.
„Alles klar, sie ist wach. Ihr könnt nach oben gehen“, sagt er fröhlich.
„Danke, Leo.“
„Ist doch kein Problem.“

Als wir in Shanes Zimmer kommen, sitzt sie schon im Bett, als ob sie uns erwartet hätte. Sie sieht müde aus, doch sie lächelt.
„Hey. Sorry, dass ihr warten musstet.“
Anna geht auf sie zu. „Was machst du denn für Dummheiten? Versprich mir, dass du nie wieder solche Versuche unternimmst.“
„Ja, Mama.“ Dann wendet sie sich uns anderen zu. „Setzt euch.“
„Wir haben Blumen mitgebracht. Ich stell sie dir auf den Tisch.“
„Danke, Tina. Die sind aber hübsch.“

„Wo ist denn Kathy?“, fragt Anna.
„Sie musste zu einer Untersuchung.“
„Und wie geht es dir?“
„Ich bin immer noch müde und meine Rippen tun etwas weh, aber das ist nicht so schlimm.“


~*~

Shane’s POV:

Es ist rührend, wie sich alle um mich sorgen. Klar war es dumm von mir zu glauben, ich könnte das alleine schaffen, aber ich wollte einfach niemandem zur Last fallen.

Alice ergreift das Wort. „Leute, Dana is im Übrigen bei mir eingezogen.“
„Ohh. Und wann wird geheiratet?“, fragt Jenny.
„Soweit sind wir noch nicht“, kichert Alice.
„Ich ziehe auch bei Anna ein“, sage ich und lächle.
„Anna hat es uns vorhin gesagt. Das ist wirklich toll. Wir freuen uns für euch. Auch für euch, Alice und Dana. Und da wir nun schon bei den Ankündigungen sind… Tina?“ Bette sieht zu ihr rüber.
„Ja… Bette und ich, wir bekommen ein Kind.“

Wir alle sehen sie an. Dann lächeln alle. „Wow! Bette, Tina, das ist toll!“
„Super Neuigkeiten. Kommt her, lasst euch drücken.“
„Wann ist es denn soweit?“
„Im Mai.“
„Schon? Dann bist du ja schon im dritten Monat.“
„Stimmt, ihr habt mich erwischt. Ich habe gewartet, damit ich es euch allen zusammen sagen kann“, sagt Tina und sieht mich an.
Ich lächle. Tina hat diese wunderbare Neuigkeit allen verheimlicht, nur damit ich dabei sein kann.

Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich heute wieder das Gefühl, dass es bergauf geht. Dass alles wieder gut wird. Natürlich habe ich noch viel vor mir. Die Reha wird bestimmt kein Zuckerschlacken. Außerdem werde ich Anna früher oder später von meiner Vergangenheit erzählen müssen. Doch heute ist das alles vergessen. Wir haben Spaß. Und das zählt.


Kapitel 26


Zwei Tage später …

Shane’s POV:

„Shane, wie gefällt dir dein neues Zimmer?“, fragt Leo.
Erneut sehe ich mich in meinem Zimmer in der Reha-Klinik um. Die Wände sind gelb gestrichen und nicht so traurig-weiß wie im Krankenhaus, überall hängen bunte Bilder. Auf dem kleinen Holztisch stehen die Blumen, die mir Tina geschenkt hat und durchs Fenster habe ich eine wunderschöne Aussicht auf den See, den ich so gerne mag.
„Es ist wirklich sehr schön hier, viel freundlicher als in der Klinik.“

Leo lächelt. „Und wie geht es dir?“
Ich denke einen Augenblick darüber nach. „Gut“, sage ich dann, „es geht mir wirklich gut. Ohne all die Nadeln und Schläuche fühle ich mich viel besser.“
„Das ist schön. Es freut mich wirklich, dass es dir besser geht. Und das mit dem Bein, kriegen wir auch noch geregelt.“
Ich versuche, enthusiastisch zu wirken, doch anscheinend will mir das nicht so recht gelingen.
„Ach komm schon, Shane, das wird schon, ich weiß es.“
Ich seufze. „Hoffentlich“, sage ich mit kleinlauter Stimme.


~*~

Anna’s POV:

Seit drei Tagen versuche ich nun, meine Eltern zu erreichen, doch es hört niemand. Gerade starte ich einen neuen Versuch, und es nimmt tatsächlich jemand ab.
„Ja?“
„Mama?“
„Oh, Anna, schön, dass du anrufst.“
„Hallo Mama, ich hab die letzten paar Tage schön öfter angerufen, aber niemand hat abgenommen.“
„Dein Vater und ich waren übers Wochenende weg, eine kleine Städtereise nach Salzburg.“
„Toll, ich hoffe, ihr hattet Spaß!?“
„Es war wundervoll, Schatz. Aber sag, wie geht es Shane? Und wie geht es dir?“
„Mir geht es gut und Shane geht es ebenfalls viel besser. Sie wurde heute in die Reha-Klinik verlegt, aber ich war noch nicht bei ihr. Ich werde heute Nachmittag gehen. Aber weswegen ich anrufe, ich habe mit Shane über Weihnachten gesprochen und sie ist einverstanden, wenn ihr beide kommt und mit uns feiert. Sie sagte, sie würde euch gerne kennen lernen.“
„Das freut uns, wirklich. Na dann werde ich deinem Vater gleich sagen, er soll Flüge buchen, ja?“
„Mach das. Bis bald, Mama.“
„Bis bald, Schätzchen.“

Ich lege den Hörer auf und gehe in die Küche, um mir einen zweiten Kaffee zu machen. In einer halben Stunde kommt jemand von einer Firma, die Häuser für Rollstuhlfahrer umbaut. Shane weiß bisher nichts davon. Und ich habe, um ehrlich zu sein, etwas Angst, es ihr zu sagen.


~*~

Shane’s POV:

Ich sitze in meinem Rollstuhl und sehe mir den idyllischen See an und die vielen Leute, die trotz der frühen Stunde schon auf den Bänken sitzen. Ohne Mrs. Sullivan ist es fast langweilig, niemand ist da, mit dem ich reden könnte. Ich genieße zwar die Ruhe, doch ich könnte wirklich etwas Gesellschaft gebrauchen.
In dem Moment, in dem ich das denke, klopft es an der Tür.
„Herein.“ Ich drehe mich leicht um und sehe Alice und Dana in der Tür stehen.

„Hey Shane.“
„Hi Shane.“
„Hey ihr beiden. Was macht ihr hier? So früh? Müsst ihr nicht arbeiten?“
„Nein“, sagt Alice und grinst.
„Habt ihr dann nichts Besseres zu tun, als mich zu besuchen? Jetzt, wo ihr unter einem Dach wohnt?“ Nun grinse auch ich.
„Nein, wir dachten einfach, du könntest etwas Gesellschaft gebrauchen.“
Bingo.
„Das ist lieb von euch.“

„Möchtest du hinunter zum See?“, fragt Dana dann.
„Oh ja. Es ist so wunderschön dort unten.“


~*~

Alice’s POV:

Shane sieht heute so viel besser aus, und sie hat endlich diese ganzen Geräte los, an die sie angeschlossen war. Kein lästiges Gepiepe mehr, und keine Nadeln, die sie sich aus Versehen herausreißen könnte.
Wir sind am See angekommen und Dana und ich setzen uns auf eine Bank.

„Du ziehst also bei Anna ein?“
„Ja“, antwortet Shane und klingt dabei fast etwas traurig.
„Was ist?“, fragt Dana, die das offenbar ebenfalls mitbekommen hat.
„Nichts, es ist nur … es ist eben schwer für mich, von jemandem so … abhängig zu sein.“
„Ach Shane, mach dir doch darüber keine Gedanken. Du fällst niemandem zur Last.“
„Genau“, werfe ich ein, „und wenn die Wohnung erstmal umgebaut ist, dann bist du auch nicht mehr abhängig.“
Shane sieht mich an, zuerst überrascht und dann wütend. Dana wirft mir einen grimmigen Blick zu. Was ist nur los?
„Was hast du gerade gesagt?“
Ich sehe verdutzt drein. „Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Anna lässt ihre Wohnung umbauen? Für … mich?“

Erst jetzt dämmert es mir. Oh nein. Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich beiße mir auf die Lippe.
„Ähm … nun ja … also …“. Ich seufze. „Shane, sie meint es doch nur gut.“
„Das tut nichts zur Sache“, sagt Shane und zittert vor Wut. „Sie gibt Geld aus, für mich, und ich kann es ihr nicht zurückzahlen. Ich weiß nicht einmal, ob ich es ihr je zurückzahlen kann. Vielleicht bin ich für immer ein Krüppel. Dann hat sie mich ein Leben lang am Hals.“

Dana und ich sehen uns geschockt an.
„A-Aber Shane. So darfst du doch nicht denken. Du wirst kein … kein -.“
„Kein Krüppel sein? Woher willst du das wissen? vielleicht kann ich mit diesem verdammten Bein nie wieder etwas anfangen. Und dann? Am Anfang wird Anna mich vielleicht noch pflegen wollen, aber mit der Zeit wird sie ihrer Aufgabe müde werden. Sie hat Besseres verdient.“
„Shane, bitte beruhige dich, und sag nicht solche Sachen. Das stimmt doch alles nicht.“
„Dana hat Recht, Shane. Anna braucht dich.“
Wieder unterbricht sie mich. „Vielleicht braucht sie mich, aber sie braucht mich gesund. Sie ist noch so jung. Sie hat ihr ganzes Leben noch vor sich. Sie könnte jemand anderes finden und glücklich werden und … und …“.
Sie fängt an zu schluchzen und vergräbt ihr Gesicht in ihrer guten Hand.

Ich rutsche näher an sie heran und nehme sie in den Arm.
„Beruhige dich, Shane. Du hast vieles durchgemacht und es ist nur natürlich, dass du dich so fühlst, aber ihr werdet das durstehen. Wir alle werden das gemeinsam durchstehen, okay? Ich kann dir nicht versprechen, dass alles gut wird, denn du hast Recht, das kann ich nicht wissen. Aber ich kann dir versichern, dass wir alles dafür tun werden, dass es besser wird. Und wir werden das schaffen, okay?“
Leises Schluchzen.
Ich beuge mich etwas zurück und sehe in ihre verweinten Augen.
„Okay?“, frage ich erneut.
Langsam nickt sie.

„Komm, wir bringen dich zurück in dein Zimmer, damit du dich etwas ausruhen kannst.“
Widerstandslos lässt sie sich zurück in die Klinik schieben.


~*~

Anna’s POV:

Mr. Maher ist gerade gegangen. Er hat mich ausführlich beraten, worauf ich achten muss und was unbedingt notwendig für einen Rollstuhlfahrer ist. Ich habe gleich alles fest gemacht und bestellt. In etwa einer Woche werden die Leute kommen und mit den Umbauarbeiten beginnen.
Es ist nicht besonders viel. An einigen Stufen werden Rampen angebracht, im Badezimmer zusätzliche Griffe zum Hochziehen und eine Art Sitzbank in der Dusche. Alles in allem kostet das Ganze weniger, als ich gedacht habe, was gut ist. Denn ansonsten hätte ich entweder meine Eltern oder Bette fragen müssen, ob sie mir etwas Geld leihen können und das hätte Shane bestimmt zur Weißglut getrieben. Ich bin mir ohnehin nicht sicher, ob sie die Sache gut aufnimmt.

Plötzlich klingelt mein Handy. Auf dem Display sehe ich, dass es Alice ist.
„Hey Al.“
„Hi Ann. Du, ich habe gerade etwas sehr Dummes getan. Ich habe Shane ungewollt von deinen Umbauplänen erzählt. Es war keine Absicht, es ist mir nur so rausgerutscht, ehrlich.“
Oh nein.
„Wie hat sie reagiert.“
„Nun ja … sie ist etwas ausgeflippt.“
„Was?“
„Wir konnten sie beruhigen. Es ist alles gut. Es tut mir wirklich Leid.“
„Nein, ist schon in Ordnung. Sie musste es ja irgendwann erfahren.“
„Okay. Wie gesagt, tut mir Leid. Bis dann.“
„Ciao, Alice.“

Ich seufze. Es war klar, dass sie überreagiert. Ich hoffe nur, sie ist nicht allzu sauer auf mich.


~*~

Shane’s POV:

Wieder sitze ich am Fenster und schaue hinaus auf den See. Ich weiß, dass Anna es nur gut meint, aber das wahre Problem ist ohnehin ein ganz anderes. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich längerfristig an diesen Rollstuhl gefesselt bin. Natürlich hat Dr. Cohen mir gesagt, dass es länger dauern kann, aber ich dachte immer, durch die Physiotherapie geht das alles ganz schnell. Ich muss mich wohl wirklich mit dem Gedanken abfinden.

„Shane?“
Ich schrecke auf. Ich war so in Gedanken, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie Leo ins Zimmer kam.
„Hey Leo. Sorry, ich habe dich nicht gehört.“
„Alles in Ordnung?“
„Ja, alles klar“, sage ich und setze ein fröhliches Gesicht auf. Zumindest versuche ich es.
Er scheint es mir abzukaufen. „Gut, dann lass uns an die Arbeit gehen.“

Ich seufze leise, so dass Leo mich nicht hört, als er mich aus dem Zimmer schiebt. Was hat Alice nochmal gesagt?
Ich kann dir nicht versprechen, dass alles gut wird. Aber ich kann dir versichern, dass wir alles dafür tun werden, dass es besser wird.
Ich hoffe, sie hat Recht.

Kapitel 27 - Part 1


Fünf Wochen später …
Zwei Tage vor Weihnachten

Anna’s POV:

„Du siehst gut aus, Tina.“
„Meinst du? Ich fühle mich immer mehr wie ein Walross.“
„Ach was“, sage ich und lache.
„Sie hat Recht“, sagt Alice.
Es tut gut, mal wieder aus dem Haus zu kommen. Tina hat mich heute Morgen angerufen und mich und Alice auf einen Kaffee bei ihr eingeladen, da Bette arbeiten muss. Ihr Babybauch steht ihr meiner Meinung nach wunderbar. Und man kann fast zusehen, wie er wächst. Sie ist nun am Anfang des fünften Monats.

„Wie geht es Shane?“
„Nun ja, manchmal beschwert sie sich, dass sie sich nicht groß bewegen kann und dass sie ständig auf meine Hilfe angewiesen ist, aber sie kommt immer besser zurecht. Und es geht ihr sehr gut momentan.“
„Das ist schön zu hören.“
„Ihr wisst ja, wie sie sich am Anfang angestellt hat, zu mir zu ziehen. Und die Tatsache, dass ich Geld für den rollstuhlgerechten Umbau ausgegeben habe. Aber sie hat eingesehen, dass ich das mache, weil ich sie über alles liebe.“

„Und wie geht es dir?“, fragt Tina mich nach einiger Zeit.
Ich zucke mit den Schultern. „Es geht mir gut, eigentlich.“
„Eigentlich?“, fragt Alice.
„Ja, ich bin glücklich. Shane lebt und wohnt mit mir zusammen, morgen sehe ich endlich meine Eltern wieder und der Job läuft super.“
„Aber?“
„Also um ehrlich zu sein, hatte ich mir mehr von Shane’s Therapie versprochen. Ich habe nicht erwartet, dass sie laufen kann, aber ich dachte, sie macht wenigstens Fortschritte. Ich glaube, Shane dachte das auch.“
„Hey“, sagt Tina und legt eine Hand auf meine, „es ist schwer am Anfang, aber sie wird das schaffen. Sie wird wieder laufen. Da bin ich mir ganz sicher.“
Auch Alice legt nun ihre Hand dazu und lächelt.
Ich lächle zurück und nicke.

~*~

Shane’s POV:

Es ist zum verrückt werden. Ich sitze den ganzen Tag zu Hause und weiß nicht, was ich machen soll. Ich sitze in diesem Ding und lerne auch, damit umzugehen, aber auf Dauer kann ich nicht tagelang auf der Terrasse sitzen und Autos zählen und Wolken beobachten. Ich werde mir überlegen müssen, was ich mit meinem Leben anfangen möchte. Irgendetwas muss es doch geben, was mir Erfüllung bringt.

Ich seufze und rolle zurück ins Wohnzimmer und an Anna’s Schreibtisch, wo der Computer steht. In zwei Tagen ist Weihnachten und ich habe noch kein Geschenk für sie. Und da ich schlecht in die Stadt fahren und etwas für sie kaufen kann, muss das gute alte Internet her.
Ich suche die Seite eines Juweliers in Los Angeles, der seine Schmuckstücke auch im Internet verkauft. Eigentlich kann ich es mir nicht leisten, Geld auszugeben, viel habe ich nicht, aber Anna soll ein Geschenk bekommen, das ihr gefällt. Außerdem dauert es nicht mehr lange, bis der Prozess gegen Doug an und da kann ich wohl einiges an Schadensersatz erwarten. Vielleicht ist es falsch, so zu denken, doch was bleibt mir jetzt noch.

Ich finde einen hübschen Ring mit einem Bernstein, der auch nicht ganz so teuer ist. Der würde Anna bestimmt gefallen.
Sofort schreibe ich mir die Nummer auf und rolle zum Telefon. Es klingelt drei Mal, bis sich jemand meldet.
„Cole Juwelry Los Angeles. Hier spricht John Cole.“
„Mr. Cole, hier spricht Shane McCutcheon.”
“Guten Tag, Ms. McCutcheon, was kann ich für sie tun?”
„Ich habe einen Ring auf Ihrer Internetseite gesehen, den ich gerne kaufen möchte. Leider kann ich nicht selbst vorbeikommen.“
„Um welchen Ring handelt es sich denn?“
„Der Berstein-Ring, Nummer 347.“
„Oh, der ist besonders schön. Kaufen Sie ihn für sich selbst?“
„Nein, für meine Freundin.“
„Zur Verlobung? Dieser Ring wird oft zur Verlobung gekauft. Ich könnte etwas eingravieren.“
„Ich… nein, keine Verlobung. Nur ein Weihnachtsgeschenk.“
„Ich verstehe.“
„Ich werde eine Freundin von mir vorbeischicken, Bette Porter. Sie wird alles Weitere mit Ihnen klären. Legen Sie mir den Ring doch bitte bis dahin zurück.“
„Kein Problem, Ms. McCutcheon. Vielen Dank.“
„Ich danke auch, Mr. Cole. Auf Wiederhören.“

Ich lege den Hörer auf und schaue aus dem Fenster.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dagesessen habe, als ich plötzlich erneut den Hörer in die Hand nehme und wähle.
„Cole Jewelry Los Angeles. Hier spricht John Cole.“
„Shane McCutcheon.“
„Ms. McCutcheon, was ist passiert? Wollen Sie den Ring doch nicht kaufen?“
„Doch… doch, es ist nur… ich habe nochmal nachgedacht über das, was Sie gesagt haben. Ich möchte den Ring immer noch kaufen, und zwar als Verlobungsring.“

~*~

Bette’s POV:

Es wird Zeit, dass Weinachten ist. Dann habe ich endlich zwei komplette Wochen Urlaub. Und ich finde, ich hab mir das redlich verdient. Der ganze Papierkram auf meine Schreibtisch macht mich noch wahnsinnig.
Plötzlich klingelt das Telefon.
„Bette, Shane ist dran. Soll ich sie durchstellen.“
„Klar. Danke.“

„Bette?“
„Hey Shane, alles in Ordnung?“
„Na ja, ich bin nicht so sicher.“
„Was heißt das, ist irgendetwas passiert?“ Ich werde etwas unruhig.
„Nein, nein. Ich.. na ja, ich hab gerade einen Verlobungsring bestellt.“
Ich bin kurz sprachlos. „Du hast was?“, frage ich dann ungläubig?
„Ich… hab einen Verlobungsring bestellt.“
„Shane, das… das ist ja super. Ich freue mich so!“
„Wirklich? Meinst du, ich tue das Richtige?“
„Aber klar. Anna und du, ihr gehört zusammen, auf jeden Fall! Aber wie kommst du jetzt darauf? Hast du das schon länger geplant? Warum erfahre ich erst jetzt davon?“
„Es war eher spontan, würde ich sagen.“
Dann erzählt sie mir die Geschichte mit dem Juwelier.

„Und jetzt brauche ich deine Hilfe.“
„Meine Hilfe? Du willst dich verloben.“
„Ja, schon, aber du musst erstens den Ring für mich abholen. Und du musst mir helfen, alles vorzubereiten. Für heute Abend.“
„Du willst es heute Abend tun?“
„Ja, morgen kommen Anna’s Eltern und ich will sie unbedingt vorher fragen. Außerdem….“ Sie bricht ab.
„Was?“
„Außerdem will ich ihr endlich von Marcus und der Vergewaltigung erzählen. Wenn ich mich mit ihr verlobe, will ich, dass sie das weiß. Alles. Nichts soll zwischen uns stehen, verstehst du?“
Ich lächle, auch wenn sie das nicht sehen kann. „Ja, Shane, das kann ich sehr gut nachvollziehen. Und ich halte es für die richtige Entscheidung.“

~*~

Alice’s POV:

Tina, Anna und ich sind zu Small Talk übergegangen, als mein Handy klingelt.
„Hallo?“
„Hey Alice, hier ist Bette. Bevor du was sagst, bist du noch bei Tina? Ist Anna auch da?“
„Äh… ja, warum?“, frage ich etwas verdutzt.
„Geh am besten mal woanders hin, ich muss dir was erzählen.“
„Okay.“

Ich stehe auf, nicke den beiden anderen zu und gehe auf die Terrasse.
„Was ist los, Bette?“
„Okay, Alice, ich sag es dir, aber versprich mir, dass du ruhig bleibst, okay? Tina und Anna dürfen nichts davon mitbekommen, vor allem nicht Anna, alles klar?“
„Nun sag schon.“
„Versprichst du es?“
„Jaha.“ Ich platze fast vor Neugier.
„Shane will Anna heute Abend einen Heiratsantrag machen.“
„Was?“
„Brüll doch nicht so. Ich hab doch gesagt, dass du leise sein sollst.“
„Sorry, aber das ist ja wohl mega-aufregend, oder?“
„Ist es. Aber du musst dich jetzt zusammenreißen, Al, wir brauchen nämlich deine Hilfe.“
„Wobei?“
„Du musst Anna auf jeden Fall noch mindestens drei Stunden aufhalten, vorher darf sie nicht nach Hause kommen, hast du verstanden?“
„Nichts leichter als das. Wir machen Last Minute-Weihnachts-Shopping.“
„Super. Danke, Alice.“

Ich gehe zurück ins Wohnzimmer zu Tina und Anna. Ich muss mich zusammenreißen, dass ich die Neuigkeiten nicht ausplaudere.
„Wer war das?“, fragt Tina.
„Das… das war Dana.“
„Und was war so geheimnisvoll, dass du quasi vor uns geflüchtet bist?“
„Ähm, das… also das… kann ich euch nicht sagen.“
„Alice, ihr hattet nicht etwa Telefonsex, oder?“
Einen Moment schaue ich sie verblüfft an. Dass sie überhaupt auf einen solchen Gedanken kommen kann. Doch ich zögere einen Moment zu lange.
„Alice! Ihr haltet es auch nicht ohne einander aus.“
Ich werde rot. Aber sie haben mir immerhin abgenommen, dass das wirklich Dana am Telefon war.

~*~

Shane’s POV:

„Hast du den Ring?“ frage ich nervös und rolle auf Bette zu, die gerade die Tür geöffnet hat.
„Hallo erstmal.“
„Hallo. Und?“
„Was und?“
„Na, hast du den Ring?“. Ich bin ganz aufgeregt.
„Meine Güte, Shane. Nun mach dich mal locker. Du machst mich noch ganz nervös. Ich hab den Ring und auch die anderen Sachen.“
Ich atme tief durch. „Gut. Zeig her.“

Ich nehme die kleine viereckige Schachtel aus Bette’s Hand und öffne sie, als mir schon der Ring entgegenblitzt. Er ist noch viel schöner als auf dem Bild, das ich im Internet gesehen habe. Ich nehme den Ring aus der Schachtel und betrachte den Bernstein. Der gefällt Anna bestimmt. Ich drehe ihn so, dass ich die Innenseite sehen kann. „Shane & Anna“ steht da in verschnörkelter Schrift eingraviert.
„Er ist wirklich wunderschön“, stimmt Bette mir zu und lächelt.
„Ja“, antworte ich verträumt, bevor ich wieder aus meiner Verwunderung hochfahre. „Jetzt aber an die Arbeit. Es gibt noch viel vorzubereiten.“

~*~

Anna’s POV:

„Hast du denn schon ein Geschenk für Shane?“, fragt mich Alice, als wir durch die Stadt laufen. So viele Leute, die alle noch Geschenke für ihre Liebsten besorgen, sind unterwegs. Ich komme mir vor wie auf dem Volksfest.
„Nein. Ich hatte gehofft, ich finde noch was. Ich habe ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer, was ihr gefallen könnte. Sie hat extra noch zu mir gesagt, ich solle ihr nichts schenken. Ich hätte ihr schon so viel geschenkt. Sie hat mir wieder eine Moralpredigt gehalten, wie viel Geld ich in den Umbau gesteckt habe.“
„Shane hält nicht viel von Geschenken. Sie mag es nicht, wenn man Geld für sie ausgibt“, wirft Tina ein.
„Ich weiß, und deshalb möchte ich ihrem Wunsch gerne zumindest entgegenkommen. Es muss ja nichts Großartiges sein, aber ich möchte ihr zumindest eine Kleinigkeit schenken. Schließlich ist Weihnachten.“

Ohne noch ein Wort zu sagen, laufen wir weiter in dem Trubel, der auf den Straßen von Los Angeles herrscht. Wahrscheinlich haben Alice und Tina auch keine Idee, was ich Shane schenken könnte.
Doch plötzlich sehe ich einen Drehständer mit verschiedenen Schlüsselanhängern und mir kommt eine Idee. Shane wohnt nun seit fünf Tagen bei mir und sie hat noch keinen Schlüssel. Bisher hat sie noch keinen gebraucht, deshalb habe ich auch gar nicht dran gedacht, ihr einen zu geben. Ich kaufe ihr einen hübschen Anhänger und schenke ihr meinen, nein, unseren Haustürschlüssel.

Tina und Alice haben mich anscheinend auf den Ständer starren gesehen, den Tina sagt: „Das ist eine wunderbare Idee, Ann.“
„Stimmt. Und so hast du noch nicht mal viel Geld ausgegeben.“
Ich lächle sie an. „Welchen würdet ihr nehmen?“
„Geh doch mal in das Geschäft rein, vielleicht gibt es da noch mehr“, schlägt Alice vor.

Und tatsächlich. Es gibt eine riesige Auswahl an Anhängern. Nach zwanzig Minuten habe ich einen eigenen zusammengestellt, aus vielen kleineren Elementen. Da war ein „S“ und ein „A“, außerdem einen grünen Jadestein, der Stein der Liebe und ein kleines Herz. Ich hoffe, Shane findet das nicht allzu kitschig.


to be continued...


Kapitel 27 - Part 2


Bette’s POV:

„War’s das? Ich hoffe, dass du dich nur ein Mal verlobst, ein zweites Mal mach ich das nämlich nicht mit.“
„Keine Sorge, Bette. Ich verspreche dir, das wird das einzige Mal sein. Und ja, ich denke, es ist soweit alles fertig.“

Auf dem Tisch stehen zwei Teller, Kerzen, Weingläser und ein paar Rosenblätter sind darauf verstreut. Auf dem Ofen steht eine Pfanne mit Pasta, eigenhändig zubereitet von Shane und mir.
„Anna wird überwältigt sein, Shane.“
Shane lächelt. Doch dann wird ihr Gesichtsausdruck plötzlich ernst.
„Was ist los? Shane?“
„Bette, was ist, wenn Anna… wenn sie nicht will?“
„Ach Shane, rede keinen Schwachsinn, natürlich sagt sie ja.“
„Aber was mache ich, wenn nicht?“
„Shane.“ Ich werfe ihr einen Blick zu, der keine Fragen offen lässt.
„Okay, okay. Nun, Bette, es tut mir leid, aber ich muss dich jetzt rauswerfen. Geschlossene Gesellschaft.“
Ich lache. „Klar. Shane, das wird gut, okay? Ich weiß es. Mach dir keine Gedanken. Sie wird ja sagen, ihr werdet heiraten und bald werden hier viele kleine Sharmens rumtapsen.“
„Ach, halt den Mund, Bette.“
Ich kichere. „Schon gut, schon gut. Morgen will ich Infos, klar?
„Klar. Und jetzt raus.“

Lächelnd gehe ich aus dem Haus zu meinem Auto. Als ich einsteigen will, sehe ich am Ende der Straße Anna’s Auto auftauchen. Ich warte, bis sie in die Einfahrt gefahren ist und aussteigt, 2 große Tüten in der Hand.“
„Hey, Bette.“
„Anna. Na, Weihnachtseinkäufe erledigt?“
„Du, ich kann dir sagen, das war gar nicht so einfach. Und in der Stadt war die Hölle los.“
„Kann ich mir vorstellen.“ Ich lächle.
„Was habt ihr den ganzen Nachmittag getrieben?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ach, nicht viel. Wir… wir haben uns einen Film angesehen und gequatscht. Wir hatten Spaß.“
„Das ist schön. Ich freue mich, wenn es Shane gut geht.“
„Das tut es. Sie wartet auch schon auf dich.“
„Gut. Wir seh‘n uns, Bette.“
„Ciao, Ann.“
Mit einem Grinsen auf dem Gesicht steige ich in mein Auto und fahre davon.

~*~

Anna’s POV:

Als ich ins Haus komme, sitzt Shane in ihrem Rollstuhl vor einem liebevoll gedeckten Tisch, zwei Gläser Wein in der Hand. Sie lächelt und hält mir eines davon entgegen.
„Was ist denn hier los?“, frage ich überrascht, stelle meine Taschen ab und nehme das Glas.
„Ich dachte, ich überrasche dich.“
Ich blicke zum Tisch. Kerzen, Rosenblätter, einfach wunderschön.
„Nun, ich würde sagen, das ist dir gelungen.“
Wir stoßen an und trinken. „Hunger?“, fragt Shane dann.
„Auf jeden Fall“, sage ich und setze mich an den Tisch.
Sie stellt ihr Weinglas auf den Tisch, rollt zum Herd und nimmt eine Pfanne mit Pasta, von der sie mir etwas auf meinen Teller gibt. Nachdem sie sich selbst etwas davon auf den Teller getan hat und die Pfanne wieder zurückgestellt hat, setzt sie sich zu mir an den Tisch.
„Sag, womit hab ich das verdient?“
„Anna, ich wollte dir einfach mal danke sagen. Für alles, was du für mich getan hast.“
„Du weißt, dass ich das aus Liebe getan habe.“
„Ja. Und trotzdem möchte ich dir danken. Nun lass uns essen, bevor es kalt wird.“

Ich kann nicht glauben, dass Shane das alles für mich vorbereitet hat. Und Bette hat vorhin noch so unschuldig getan.
Ich lächle und fange an, zu essen. Die Pasta ist köstlich. Shane entwickelt ungeahnte Fähigkeiten.

~*~

Shane’s POV:

Ich glaube, Anna hat es geschmeckt. Und ich bin unglaublich froh darüber. Langsam werde ich etwas nervös. Ich muss es jetzt tun. Ich muss es ihr sagen. Endlich. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Und bevor ich mich mit ihr verlobe, will ich reinen Tisch machen. Das ist nur fair Anna gegenüber. Außerdem macht das die ganze Sache auch leichter für mich.

„Das war köstlich, Shane. Vielen Dank.“
Ich lächle. „Kochen ist nicht so schwer, wie ich immer dachte.“
Anna steht auf, um die Teller wegzuräumen, und ich lasse sie. Ich selbst würde die Teller nie heil zum Spülbecken bringen. Dann setzt sie sich wieder zu mir.

„Anna. Ich möchte dir gerne etwas sagen. Das… das ist nicht so ganz einfach für mich, aber ich will, dass du das weißt. Ich muss allerdings zugeben, dass ich etwas Angst davor habe.“
Sie legt ihre Hände auf meine und sieht mich ernst an.
„Shane, was immer es ist, du musst keine Angst haben. Du kannst mir alles sagen. Ich liebe dich.“
Ich lächle. „Ich liebe dich auch. Trotzdem ist es nicht einfach für mich.“
„Lass dir alle Zeit der Welt.“

~*~

Anna’s POV:

Ich möchte ihr Zeit geben. Die Zeit, die sie braucht, wie lange es auch dauert. Shane ist bereit, sich mir zu öffnen, und dafür habe ich Geduld.
Lange starrt sie auf die Tischplatte. Dann fängt sie an zu reden.

„Meine Mutter war drogenabhängig. Als ich ein kleines Kind war, hat sie mich weggegeben. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.“
Sie sieht mich an, um sich zu vergewissern, dass ich will, dass sie weiter erzählt. Ich werfe ihr einen ermutigenden Blick zu und sie fährt fort.
„Zuerst kam ich in ein Kinderheim, danach war ich in vier verschiedenen Pflegefamilien. Mit den ersten dreien bin ich nicht gut zurecht gekommen, doch die vierte Familie war… na ja, sie waren das, was man sich unter einer Familie vorstellt. Tom und Christine Johnson, mit ihren drei Kindern Sarah, Johnny und Claire.“
Ihre Augen leuchten, als sie mir von ihrer Pflegefamilie erzählt. Ich frage mich, was passiert ist, dass sie nicht bei ihnen geblieben ist.

„Meine Geschwister waren meine Freunde. Dann waren da noch die Nachbarsjungen, Marcus und sein jüngerer Bruder, Moses. Marcus und ich verstanden uns blind und ich dachte wirklich, mein Glück wäre perfekt. Ich hatte eine Familie, die mich liebte und die ich liebte. Und ich hatte einen Freund, der mich verstand. Zumindest dachte ich das. Ich dachte, er sähe mich als genau das. Als Freund. Doch eines Tages sagte er mir, dass er mich liebt.“
Sie schweigt und senkt den Kopf. Ich warte einige Augenblicke, doch sie schweigt weiter. „Shane. Was ist passiert?“
Sie hebt den Kopf und sehe die Tränen in ihren Augen glitzern.

~*~

Shane’s POV:

Ich merke die Angst in mir hochsteigen. Die Angst davor, es noch einmal laut auszusprechen. Und die Angst vor ihrer Reaktion. Doch ich darf jetzt keine Angst haben. Ich habe es Bette erzählt, und ich werde es Anna erzählen. Ich muss. Ich will.
Und plötzlich habe ich keine Angst mehr.

-----

„Hörst du, Shane, ich liebe dich.“
Immer noch schaue ich ihn an. Dann finde ich meine Stimme wieder.
„Ma, ich … ich kann nicht, ich …“. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Jetzt ist er es, der mich anstarrt und ich will ihn nicht verletzen.
„Ich kann nicht mit dir zusammen sein, versteh das doch.“
„Wieso denn nicht? Shane, ich liebe dich.“
„Marcus, ich bin aber nicht in dich verliebt. Ich bin lesbisch.“


Ich schließe meine Augen, und als ich sie wieder öffne, sehe ich in seinen nur Kälte und Hass.
Ohne ein Wort zu sagen, schlägt er mir zwei Mal ins Gesicht. Ich falle zurück und komme mit dem Hinterkopf auf dem harten Steinboden auf. Mir ist schwindelig.
„Marcus, was tust du denn da? Hör auf damit, du tust mir weh!“
Er schlägt ein drittes Mal zu und öffnet meine Hose. Reißt meine Bluse auf. Entblößt mich.
Ich habe Angst. Unsägliche Angst. Ich weiß, was er vorhat und ich kann mich nicht dagegen wehren. Mir ist kalt. Ich fange an zu weinen, zu schreien.
„Halt dein verdammtes Maul, du Hure!“
„Bitte Ma, hör auf. Bitte, hör auf.“

Nach einem weiteren Schlag auf mein Gesicht, öffnet er seine Hose. Meine Nase blutet, mein linkes Auge schwillt an. Ich weine bitterlich, nicht nur wegen der Schmerzen.
Ich bin zu schwach, um mich zu wehren. Weiß, dass mich niemand hören würde.
„Hör auf!“
Er hört nicht auf. Er dringt in mich ein. Ich schreie auf. Er stößt und stößt, immer wieder. Fügt mir unglaubliche Schmerzen zu. Schmerzen, die ich nie wieder zu spüren bekommen will. Dann wird alles um mich herum schwarz.

-----

„Meine Güte, Shane. Er hat… er hat dich vergewaltigt?“
Sie weint. Ich nicke.
„Nach diesem Tag bin ich von meiner Pflegefamilie weggelaufen. Was passiert war, war mir peinlich. Ich konnte ihnen nicht genug vertrauen, um es ihnen zu sagen. Heute weiß ich, dass das ein Fehler war. Wie auch immer. Ich bin weggegangen. Dann lernte ich Clive kennen. Er hat mich in die Welt der Drogen eingeführt. Und in das Leben auf dem Strich. Ich war anschaffen, um Geld zu verdienen.“

~*~

Anna’s POV:

Ich kann nicht glauben, was Shane mir erzählt. Kann nicht glauben, was sie alles durchgemacht hat. Ich habe Mitleid für sie, weine für sie. Mit ihr.

„Als ich 19 war, wurde endlich alles anders. Zumindest dachte ich das. Clive hat mir einen Job besorgt, ich wurde Friseuse. Durch den Job habe ich Cherie kennengelernt. Sie war älter als ich, hatte Mann und Kind, war reich. Und ich habe mich unsterblich in sie verliebt. Steve, ihr Mann, erfuhr von unserem Verhältnis, ihre Tochter Clea hatte uns in flagranti erwischt. Er hat mir gedroht mich umzubringen, käme ich noch einmal in die Nähe seiner Familie.“
Sie seufzt. „Ich habe mich mit Heroin zu trösten versucht. Und es hat eine Zeit lang funktioniert. Dann habe ich dich kennen gelernt. Und zum ersten Mal wollte ich von diesem Stoff loskommen, doch es ging nicht.“
„Nimmst du es immer noch?“
Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Wenn dieser Unfall ein Gutes hatte, dann war es die Tatsache, dass ich dadurch davon losgekommen bin.“
Sie lächelt schwach. „Anna. Als ich im Krankenhaus war und mich im Park verletzt habe, habe ich Moses gesehen. Er hat mir erzählt, dass Marcus sich umgebracht hat, wegen mir. Dass ich an allem Schuld bin. Aber ich weiß jetzt, dass das nicht stimmt. Was Marcus mir angetan hat, ist unverzeihlich.“
Wieder seufzt sie und wischt sich die Tränen vom Gesicht. „Anna, ich liebe dich. So sehr.“
„Ich liebe dich auch, Shane. Und ich bin froh, dass du mir das alles erzählt hast.“
„Es war nicht einfach, aber jetzt fühle ich mich besser. Es ist Zeit für einen Neuanfang, für mich, für uns.“

Ich lächle.
„Anna. Ich liebe dich mehr als alles andere auf dieser Welt. Ohne dich hätte ich die letzten Wochen nicht überlebt. Ich brauche dich, du bist der Grund, warum ich so glücklich bin, auch wenn ich in diesem Ding sitze.“ Sie rollt auf die andere Seite des Tisches, neben mich, und greift in die Tasche ihres Blazers und nimmt eine kleine Box heraus. Ich sehe sie verwundert an. Kann es sein, dass… ?
„Es tut mir Leid, dass ich nicht auf die Knie fallen kann.“
Sie öffnet die Box.
„Anna, willst du mich heiraten?“

_________________
ich werde mir vor deinem tor eine hütte bauen,
um meiner seele, die bei dir haust, nah zu sein.


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