Ich hatte es ja gesagt...
„Justus, wenn Sie bitte so gut wären und Frau Linse bitte durchgeben, dass der junge Graf an einer Laktose-Intoleranz leidet. Sie soll bitte die Zutaten dementsprechend anpassen.“ Elisabeth überreichte dem Butler die Notiz von Ansgar, Hannes‘ Vater.
„Selbstverständlich, Gräfin Lahnstein. Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?“
„Nein danke, Justus. Das wäre dann alles.“
„Sehr wohl, Gräfin. Ich wünsche noch einen schönen Abend.“ Justus entfernte sich aus der Eingangshalle und Elisabeth blieb allein zurück. So allein wie sie hier stand, fühlte sie sich auch. Seit Johannes verstorben war, zerteilte sich die Familie immer mehr. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er als einziger die Familie zusammen halten konnte. Seit ein mysteriöser Unfall ihn aus dem Leben aller gerissen hatte, klaffte ein tiefes Loch in ihrer Brust. Nicht nur weil Johannes ihr jeden Tag fehlte, sondern auch weil die Familie sich auf alle Kontinente verteilte. Leonard und Sarah lebten in Boston, fernab von dem ganzen Wirrwarr über ihren Verwandtschaftsgrad, der sich am Ende zum Glück in Luft aufgelöst hatte. Carla war mit Stella auf Weltreise gegangen, hatte nach Susanne mit ihr erneut das Glück gefunden, sie geheiratet und lebte seither mit ihr und der- mittlerweile nicht mehr- kleinen Sophia seit vier Jahren in Shanghai. Lange hatte sie nichts mehr von ihnen gehört. Sie hoffte dass es ihnen gut ging. Und Ansgar. Er war zwar immer noch auf Königsbrunn. Hatte es nicht geschafft, ihr den gräflichen Namen abzusprechen oder sie des Schlosses zu verweisen, aber er war keine wirkliche Gesellschaft. Sie duldeten einander bei den Familienessen. Sie duldete zwangsläufig sogar Tanjas Anwesenheit, auch wenn sie diese abstruse Konstellation einer Ehe nicht verstand. Aber einsam war sie trotzdem. Sehr einsam.
Sie sah auf die Wanduhr. Noch keine acht Uhr. Es würde wieder ein langer Abend werden.
„Wohin soll‘s gehen?“, fragte ein mürrischer Taxifahrer. Kaum zu glauben, aber er hatte mit noch schlechterer Laune das ihr Gepäck in den Kofferraum gefrachtet, als er jetzt wieder hinterm Lenkrad saß.
„Schloss Königsbrunn, bitte.“
Er musterte sie über den Rückspiegel. Sollte sie ihm bekannt vorkommen? Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es wollte heute einfach nicht abkühlen. Heute Mittag waren die Werte auf 36°C gestiegen. Rekordwert, für Mai!
„Könnten Sie die Klimaanlage ein wenig höher drehen? Hier hinten fühle ich mich, wie in einem Backofen.“ Sie war Hitze gewöhnt. Aber hier in Düsseldorf war es nicht heiß, es war schwül. Diese drückende Luft war direkt über ihren Körper hergefallen, als sie aus dem Flieger gestiegen war.
„Das geht aber auf den Preis.“
„Wenn ich hier hinten zerfließe, bevor ich ankomme, bekommen Sie gar kein Geld“, antwortete sie leicht genervt.
„Na dann“, entgegnete er schnell und schaltete den Rückwärtsgang ein um auszuparken.
Sie versuchte sich zurückzulehnen, ohne an den alten Ledersitzen der Rückbank festzukleben. Auch ihr lief der Schweiß in die Stirn. Ihr Körper hatte sich so sehr an das andere Klima gewöhnt, dass ihr Deutschland vorkam wie eine Saune mit frischem Aufguss.
„Was wollen Sie denn von den Grafen?“
„Wie bitte?“
„Na, dat Schloss. Da wohnen doch die von Lahnsteins.“
Sie antwortete erst nicht. Den blöden Taxifahrer ging es überhaupt nichts an. „Ich komme nach Hause“, sagte sie schließlich und spielte mit ihren Locken. Zwirbelte eine Strähne zwischen Zeigefinger und Daumen ihrer linken Hand.
„Natürlich! Sie sind die junge Gräfin. Mensch. Waren Sie nich in Tokio?“
„Shanghai.“
„Isset da nich so dolle?“
Sie schwieg wieder und starrte aus dem Fenster. Sie registrierte einige neue Geschäfte im Vorbeifahren. Darunter eine Modeboutique mit dem Namen ‚Micca‘, der in großen Lettern über dem Schaufenster prangte. Eine Mischung aus Miriam und Rebecca. Durch Elisabeth wusste sie, dass ihre Cousine sich nach einigen Misslungenen Versuchen doch einen Namen in der Branche gemacht hatte. Das war kurz nachdem sie offenkundig zu ihrer sexuellen Orientierung gestanden hatte. An den verwirrten Anruf konnte sie sich auch noch erinnern. „Oh Gott, Carla. Was ist, wenn ich lesbisch bin? Und was ist, wenn Miriam es nicht ist?“ Rebecca war halb durchgedreht. Wusste nicht hin, noch her. Ja oder nein. Wollte es versuchen, wagte den Schritt dann doch nicht. Soweit sie sich erinnerte, ging dieses ganze hin und her fast ein Jahr. Solange, bis Miriam Rebecca einfach vor die Wahl gestellt hatte: wenn du jetzt nicht dazu stehen kannst, dann brauchst du es dir in Zukunft nicht mal mehr überlegen- zumindest nicht bei mir. Und das hatte ihr geholfen. Eigentlich fand sie es schade, dass sie ihr nicht immer zur Seite hatte stehen können. Ihr eigenes Outing war ihr auch noch lebhaft in Erinnerung. Es war nicht leicht, wenn man in der Öffentlichkeit stand. Auch wenn sie schon einige Vorurteile und Hürden aus dem Weg geräumt hatte. Sie. Mit Hanna. Mit Susanne. Mit ihren kleinen oder größeren Affären. Mit Stella. Autsch, da war es wieder. Dieses Stechen. Wann würde es weggehen? Wann würde es endlich aufhören?
„So, das macht dann 35,70.“
Er war einen Umweg gefahren. Das wusste Carla. Dachte vermutlich, dass sie es sich leisten konnte. Sie konnte, daran sollte es nicht scheitern. Aber korrupte Menschen waren ihr zuwider. Ansgar reichte ihr, für den Rest ihres Lebens. „Stimmt so“, sagte sie, drückte ihm zwei Zwanziger in die Hand und verlangte dafür von ihm, dass er ihr das Gepäck auch die Treppe hinauf trug. Er tat es, aber auch erst, als sie ihn auf den Umweg aufmerksam machte. „Danke.“
„Jaja“, sagte der Taxifahrer nur und ließ sie oben auf der Treppe stehen.
Sie wusste nicht, ob sie einfach reingehen sollte. Sie sah auf die Uhr. Gerade mal kurz vor acht. Es würde noch niemand schlafen. Dabei würde sie viel lieber heimlich und ohne dass es jemand bemerkte einfach auf ihrer Suite verschwinden und dort bleiben.
Sie drehte den Schlüssel und trat ein. Ihre Lunge füllte sich mit Luft, als sie den wohlbekannten Geruch des Foyers einatmete. Zu Hause, dachte sie erneut.
„Sebastian, hast du doch etwas vergessen?“ Mit den Worten kam Elisabeth ins Foyer. „Träume ich?“
Carla stellte ihr Gepäck ab und versuchte zu lächeln.
„Carla? Was machst du hier? Bist du alleine? Wo ist Sophia? Wo ist Stella?“
„In Shanghai“, antwortete Carla. Für weitere Erklärungen war sie noch nicht bereit.
„Wie geht es dir? Wie lange bleibst du? Ich meine, komm her.“ Sie umarmte sie herzlich. Zu Carla hatte sie schon immer ein besonderes Verhältnis gehabt. Wie Mutter und Tochter, auch wenn sie sich nicht als solches bezeichneten. „Ich bin so froh, dass du da bist“, sagte Elisabeth.
„Ich auch, Elisabeth. Ich auch.“
_________________ “If you live to be a hundred, I want to live to be a hundred minus one day so I never have to live without you.” https://www.fanfiction.net/s/8764822/1/Two-In-A-Million
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