Kapitel 21
„Eine Todesanzeige? Das ist ein Scherz, oder?“ Annis Lächeln war verflogen. „Nein Anni, darüber mach ich keine Scherze, es ist mein Ernst.“ Derweil war Anni aufgestanden und begab sich zu Jasmin in die Küche. Sie griff nach der Todesanzeige und ihre Augen flogen über den Text. Traurig nehmen wir Abschied von unserer geliebten Mutter, Grossmutter, Schwiegermutter, Schwester und Tante Martha Brehme-Wiedmer. Sie ist heute nach kurzer Krankheit im Kreise ihrer Familie friedlich eingeschlafen. Wir werden sie vermissen. „Oma?!“ hauchte Anni leise, doch Jasmin hatte es verstanden. Es war auch ihre Vermutung gewesen, nachdem sie den Namen gelesen hatte. Anni liess die Karte sinken und drehte sie sich wortlos weg. „Anni…“ Doch Jasmin wurde von ihrer Freundin unterbrochen, die eine Hand hob, um Jasmin zu signalisieren, sie solle nichts sagen. Dann ging sie ein paar Schritte, blieb stehen. Ihre Schultern verkrampften sich, sie ballte ihre Hände zu Fäusten und begann dann, am ganzen Körper zu zittern. „NEIN!“ Ein erstickter Schmerzensschrei ging über Annis Lippen und dann brach sie zusammen. Sofort war Jasmin bei ihr, kniete sich neben Anni und schlang die Arme um sie. Es tat ihr selbst im Herzen weh, Anni so zu sehen. Anni schluchzte leise und liess sich von Jasmin umarmen, erwiderte die Umarmung jedoch nicht. Stattdessen schüttelte sie nur immer wieder ungläubig den Kopf. Dann stand sie ruckartig auf. Überrascht wich Jasmin zurück und stand ebenfalls auf. „Anni hey, alles klar?“ „Nein, verdammt noch mal! Nichts ist klar! Meine Oma ist tot. Sie ist… sie war ein so wichtiger Mensch in meinem Leben. Und ich konnte mich nicht einmal von ihr verabschieden.“ Wieder wurde Anni von heftigen Schluchzern geschüttelt. Jasmin machte einen Schritt auf sie zu, streckte ihre Hand aus und wollte Annis Arm berühren. Diese zog ihn jedoch zurück. „Lass mich, ich kann jetzt nicht. Ich muss alleine sein.“ Mit diesen Worten verschwand sie in ihrem Zimmer. Das Zuschlagen der Tür war auch wie ein Schlag in Jasmins Gesicht. Total perplex stand sie da und wusste nicht, was sie tun sollte. Es tat weh, so von Anni behandelt zu werden, aber noch mehr schmerzte es sie, dass ihre Freundin alleine sein wollte. Sie wollte für Anni da sein, sie trösten, sie unterstützen. Sie hatte gedacht, dass sie sich während der Tage am See näher gekommen waren. Aber anscheinend hatte sie sich getäuscht. Total niedergeschlagen liess sie sich aufs Sofa sinken. Sie wünschte sich wieder zurück in die Hütte am See. Dort war die Welt noch in Ordnung gewesen. Kaum zurück, versank ihre Welt wieder im Chaos.
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Anni schlug die Türe hinter sich zu. Sie blickte sich im Zimmer um und entdeckte ein leeres Wasserglas auf dem Tisch. Mit voller Wucht warf sie das Glas gegen die Wand, wo es in tausend Scherben zersprang. Sie atmete heftig und suchte nach dem nächsten Gegenstand, den sie zerstören konnte. Ihr Blick blieb an ihrer Gitarre hängen, doch bevor sie nach dieser greifen konnte, warf sich aufs Bett und vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen. Sie war traurig und wütend. Verletzt und enttäuscht. In ihr herrschte das totale Gefühlschaos. Sie war traurig über den plötzlichen Tod ihrer Oma und gleichzeitig wütend auf ihre Eltern, dass sie ihr nicht gesagt hatten, dass ihre Oma anscheinend krank war. Sie hätte sie besucht und hätte sich von ihr verabschieden können. Doch dafür war es jetzt zu spät. Wie gerne hätte sie Jasmin ihrer Oma vorgestellt. Oh ja, Oma wäre sehr erfreut über Annis Frauengeschmack gewesen, dessen war Anni sich sicher. Warum bloss hatte sie sich so lange nicht bei ihr gemeldet? Und jetzt hatte sie auch noch Jasmin verletzt. Sie wollte mir doch nur helfen und ich doofe Kuh fall wieder in mein altes Verhalten und mach alles mit mir alleine aus, ging es Anni durch den Kopf. Oh Mann, die letzten Tage mit Jasmin waren so schön gewesen. Und jetzt hatte sie Jasmin von sich gestossen und diese damit sehr verletzt. Anni setzte sich auf und griff nach ihrer Gitarre. Die Musik würde ihr helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie wischte sich die Tränen weg und begann zu spielen.
Einige Stunden später, es war schon fast Mitternacht und Anni hatte sich noch immer nicht aus ihrem Zimmer getraut. Sie würde sich Morgen Jasmin stellen. Dann klopfte es leise an ihre Zimmertür. Jasmin, ging es ihr sofort durch den Kopf. Noch bevor sie antworten konnte, öffnete sich die Türe einen Spalt. „Hey, ich wollte mal schauen, wie es dir geht?“ „Nele, komm rein.“ Anni war erleichtert. Nele setzte sich Anni gegenüber auf den Stuhl. „Jasmin hat mir erzählt, was mit deiner Oma passiert ist. Es tut mir echt leid.“ Anni spürte schon wieder die Tränen aufsteigen. Mühsam brachte sie ein „Danke“ zustande. „Sie hat mir auch erzählt, dass deine Oma ein sehr wichtiger Mensch für dich war.“ Anni nickte und schluckte schwer. „Hey Süsse, lass es raus.“ Nele setzte sich neben Anni und nahm sie in den Arm. Anni schluchzte leise an ihrer Schulter, während Nele ihr beruhigend über den Rücken strich. „Danke, geht schon wieder.“ „Warum sitzt du hier alleine und bist nicht bei Jasmin? In solchen Momenten sollte man nicht alleine sein.“ Fragend blickte Nele sie an. „Ich dumme Kuh hab Jasmin vor den Kopf gestossen. Sie war dabei, als ich die Todesanzeige gelesen hab und dann hat sie mich getröstet. Wie früher hab ich mich dann zurückgezogen und wollte alles mit mir selbst ausmachen. Ich habe Jasmin ganz schön verletzt.“ „Ich denke, wenn du es ihr ehrlich erklärst, so wie mir gerade eben, wird sie Verständnis dafür haben. Das ist schliesslich eine Ausnahmesituation, in der kann man schon mal überreagieren.“ „Meinst du?“ Unsicher sah Anni Nele an. „Ich bin mir da ganz sicher.“ Nele schaute zuversichtlich und Anni brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Und, wirst du zur Beerdigung gehen?“ fragte Nele vorsichtig. „Nein, auf gar keinen Fall!“ kam es wie aus der Pistole geschossen von Anni. „Aber warum? Dann könntest du dich von deiner Oma verabschieden?“ „Mein Vater will mich sicher nicht dabei haben. Das würde eine wüste Szene geben, du kennst meinen Vater nicht.“ Enttäuscht und traurig schüttelte Anni den Kopf. „Aber deine Mutter würde sich sicher freuen, wenn du kommst. Sonst hätte sie dir nicht die Anzeige geschickt.“ „Dies war wohl der einfachste Weg, mir die unangenehme Nachricht zu überbringen. Sie waren sogar zu feige, mich anzurufen und es mir persönlich zu sagen.“ Nele spürte, dass sie heute bei diesem Thema nichts mehr erreiche konnte. „Naja, du musst dich ja nicht heute entscheiden. Vielleicht schläfst du erstmal drüber. Also, ich muss ins Bett. Und wenn etwas ist, du weisst ja, wo du mich findest. Gute Nacht.“ „Gute Nacht Nele. Und danke für deine Unterstützung.“ Nele drückte kurz Annis Hand, dann schlüpfte sie zur Türe raus.
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Jasmin stand vor Annis Zimmertüre und war unschlüssig, was sie tun sollte. Es war bereits ein Uhr in der Nacht, doch unter dem Türspalt sah sie noch Licht brennen in Annis Zimmer. Leise drückte sie die Türklinke nach unten und öffnete die Tür einen Spalt. Die kleine Lampe auf Annis Nachttisch brannte, Anni lag auf dem Bett, die Gitarre in den Händen, und schlief. Auf Zehenspitzen schlich sich Jasmin ins Zimmer. Dann griff sie vorsichtig nach der Gitarre und legte diese beiseite. Sie setzte sich neben Anni aufs Bett und strich ihrer Freundin eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie zog die Decke über Anni und streichelte über ihre Wange. „Stoss mich bitte nicht weg“, flüsterte sie leise, „ich bin doch für dich da, egal was passiert. Du musst das nicht alleine durchstehen.“ Jasmin blieb noch einen Moment sitzen, als sich Anni regte und blinzelnd die Augen öffnete. „Jasmin, was machst du hier?“ „Ich wollte nochmals nach dir sehen, bevor ich ins Bett gehe. Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.“ Jasmin war gerade im Begriff, aufzustehen, als Anni sie am Arm festhielt. „Bleibst du bei mir?“ Der verletzliche Blick von Anni traf Jasmin mitten ins Herz. „Wenn du es willst…“ „Natürlich will ich es. Es tut mir leid, dass ich dich vorhin weggestossen habe. In solchen Situationen fall ich in mein altes Muster zurück und verkriech mich in meiner Höhle. Dabei wolltest du mir nur helfen. Ich wollte dich nicht verletzen.“ Schon wieder füllten sich Annis Augen mit Tränen. „Hey Süsse, ich kann dich ja verstehen.“ Jasmin legte ihre Hand an Annis Wange. „Aber es tat halt schon weh vorhin. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich mit Nele darüber gesprochen habe. Sie hat mich vorhin im Wohnzimmer entdeckt und mich gefragt, was los sei.“ Anni nickte stumm und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ist schon ok. Nele war vorhin hier und hat mir Mut zugesprochen. Sie ist echt eine tolle Freundin.“ Ein Lächeln huschte über Annis Gesicht, welches jedoch gleich wieder verschwand. „Meine Oma… sie ist tot. Ich kann nicht… ich weiss nicht…“ Anni brach ab. Verzweifelt schlug sie sich die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Jasmin legte sich zu ihr ins Bett, schlang die Arme um sie und hielt sie fest. Dieses Mal erwiderte Anni die Umarmung und liess sich von Jasmin trösten. „Ich weiss das tut weh, einen geliebten Menschen zu verlieren. Aber ich bin mir sicher, deine Oma wäre stolz auf dich und das, was du erreicht hast. Und ich lasse dich nicht alleine, ich bin bei dir. Wir stehen das gemeinsam durch!“ Langsam kam Anni zur Ruhe und schmiegte sich eng an Jasmin. Dann schloss sie die Augen und nach einigen Minuten, in denen Jasmin sie beruhigend streichelte, konnte sie an der gleichmässigen Atmung erkennen, dass Anni eingeschlafen war. Dann schloss auch sie die Augen.
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