Zitat:
Carla und Hanna bzw. Carlotta und Hannah sind so schön zu lesen!
Hallo
Lahni ! Ich fühle mich geehrt, dass dir die Geschichte gefällt. Ganz vielen Dank
!
Zitat:
sehr schöööööön, weiter so
Danke,
P25 . Das ist sehr lieb von dir! Das nächste Kapitel ist leider ziemlich lang geworden, aber ich tröste mich damit, dass Soaps sich ja auch immer ziemlich hinziehen
.
5. KapitelCarlotta fühlte sich am nächsten Morgen so gerädert, dass sie am Frühstückstisch nicht einmal die strafenden Blicke ihres Vaters bemerkte. Obwohl sie am Abend zuvor deutlich früher als gewöhnlich im Wirtshaus eingetroffen war, hatte die Kirchturmuhr schon zwölf Uhr geschlagen, als sie das Lokal wieder verlassen hatte. Eigentlich hatte sie viel früher aufbrechen wollen, aber sie hatte sich nicht recht losreißen können.
Es war ein seltsames Gefühl, dass plötzlich jemand ihr Geheimnis teilte und auf ihrer Seite war. Carlotta war sich inzwischen sicher, dass Hannah sie niemals verraten würde, und nun hatte sie erstmals eine Verbündete. Ob das der Grund war, dass sie sich der jungen Wirtin so nahe fühlte? Carlotta zog die Stirn in Falten, als sie an die kleine Kammer der Wirtin dachte. Wie konnte es nur angehen, dass sie hier alles zur Verfügung hatte, was das Herz begehrte, und Hannah, die den ganzen Tag von morgens bis abends schuftete, in einem einzigen, winzigen Zimmer leben musste. Das war nicht gerecht, und Carlotta glaubte nicht, dass der Herrgott das so gewollt hatte. Sollten nicht alle Menschen vor ihm gleich sein?
An jedem Abend lernte Carlotta ein bisschen mehr über die einfachen Menschen, die in ihrer Grafschaft lebten, und sie verspürte zunehmend den Wunsch, etwas gegen die Ungerechtigkeit zu tun. Aber auf welche Weise könnte sie ihnen behilflich sein? Ihr Vater würde außerdem alles andere als begeistert sein, was die Sache zusätzlich noch erschwerte. Carlotta ging so viel im Kopf herum in letzter Zeit, aber es gab niemanden, mit dem sie darüber reden konnte oder der sie verstehen würde. Außer vielleicht Hannah. Sie lebte in dieser anderen Welt, über die in Carlottas Familie niemand etwas wissen wollte.
Aber wie sollte sie jemals die Gelegenheit haben, sich normal mit Hannah zu unterhalten? Schließlich konnte sie nicht ständig in ihrer Kammer untertauchen. Es war schon schwierig genug gewesen, ungesehen die Treppe wieder hinunter zu kommen. Später am Abend war Hannah noch einmal an Carlottas Tisch gekommen, um das Geld für den Wein in Empfang zu nehmen. Da war es überdeutlich gewesen, dass sie in Anwesenheit anderer nicht das Geringste besprechen konnten. Carlotta hatte ihr wie immer ein stummes Dankeschön zugenickt und Hannah hatte ihr wie immer einen guten Nachhauseweg gewünscht. Mehr war nicht möglich.
Dabei wollte Carlotta so gern mehr Zeit mit der jungen Wirtin verbringen. Sie fühlte sich so wohl in ihrer Nähe, und jedes Mal, wenn sie das Wirtshaus verließ, wartete sie schon auf den nächsten Abend.
„Schon ein Seufzer am frühen Morgen?“ Johannes von Lahnstein sah besorgt zu seiner Tochter hinüber. „Hast du Kummer, mein Kind?“
„Nein.“ Carlotta schüttelte den Kopf. „Es ist nur… ich mache mir Gedanken um die Möbel im roten Salon.“
Der Graf lächelte verständnisvoll. „Das wird aber leider noch eine Weile warten müssen, meine Liebe. Wie du weißt, trifft morgen der Earl von Nottingham ein.“
Oh je, der Earl! Den hatte Carlotta völlig vergessen. Erst jetzt fiel ihr die emsige Betriebsamkeit auf, die schon seit den frühen Morgenstunden im Schloss herrschte. „Ja, das ist mir klar, Vater. Kann ich Euch mit irgendetwas behilflich sein?“
„Ja, das kannst du.“ Das Gesicht des Grafen wurde strenger. „Ich möchte, dass du heute Abend mit Ansgar zu Leonard fährst und ihn persönlich abholst. Anders ist er ja nicht aufs Schloss zu bekommen, und die Familie sollte unbedingt vollständig sein, wenn der Earl morgen eintrifft.“
„Kann Ansgar das nicht allein machen? Ich habe heute Abend noch etwas zu erledigen.“ Carla sagte es so beiläufig wie möglich, aber ihr Vater ließ keine Ausrede gelten.
„Nein“, widersprach er ungewohnt heftig. „Leonard hat schon immer mehr auf dich als auf Ansgar gehört. Ich möchte, dass ihr ihn gemeinsam abholt. Außerdem gehst du bitte an den nächsten Abenden nicht so früh ins Bett wie sonst. Ich möchte, dass du dir Zeit nimmst für die Frau und die Kinder des Earls. Ich habe mit ihm wichtige Dinge zu besprechen, und ich möchte, dass seine Familie sich hier rundum wohl fühlt.“
„Selbstverständlich, Vater.“ Carlotta schluckte ihren Protest herunter. Es führte kein Weg daran vorbei, dass sie in den nächsten Tagen im Schloss anwesend sein musste, ob sie wollte oder nicht. „Sind denn die Gemächer bereits hergerichtet?“
„Die Dienerschaft ist gerade dabei, aber ich wäre dir dankbar, wenn du nachher mal nachschaust, ob alles recht ist.“
„Ja, natürlich.“ Carlotta schob sich ein Stück Brot in den Mund und überlegte, ob Hannah es wohl mit sich in Verbindung bringen würde, wenn sie heute und auch die nächsten Abende nicht im Wirtshaus sein würde. „Vater, ist der Bote zu Fürst Moritz schon unterwegs?“
Der Graf hielt im Essen inne. „Nein, ich bin mit meiner Korrespondenz im Hintertreffen. Er wird erst heute Nachmittag aufbrechen können.“ Er tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. „Hast du noch einen Brief für ihn?“
„Ja, ich möchte mich noch selbst bei Fürst Moritz für die Stücke bedanken, die er uns übergeben hat.“ Carlotta wollte auf keinen Fall, dass Hannah sich Sorgen machte, aber wie konnte sie ihr ein Zeichen zukommen lassen? Eine Notiz konnte zu leicht in falsche Hände geraten und außerdem wusste Carlotta gar nicht, ob Hannah lesen konnte. „Würdet Ihr mich bitte entschuldigen, Vater? Es gibt noch viel zu tun, bevor der Besuch eintrifft.“
„Immer diese Eile.“ Graf von Lahnstein schüttelte missbilligend den Kopf. „Kann man in diesem Hause nicht einmal in Ruhe frühstücken?“
Carlotta wollte sich gerade erheben, als sie den entrüsteten Blick ihres Vaters bemerkte. „Entschuldigt bitte, Vater. Was habt Ihr gesagt?“
„Du stehst nicht auf, bevor ich es dir erlaube“, befahl der Graf ungehalten. „Was ist denn los mit dir, Carlotta? Dauernd bist du so abwesend. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du seist verliebt.“
* * *
Hannah strich nervös über ihr dunkelblaues Kleid, das sie extra für diesen Abend noch einmal gewaschen hatte. Es war ein Erbstück ihrer Großmutter, das ihr immer gute Dienste geleistet hatte, aber heute fürchtete sie, dass es für einen Theaterabend doch etwas zu schlicht sein könnte. Im Moment ging alles Ersparte in die geplante Reise nach Nürnberg, damit sie dort endlich das Gift der Herbstzeitlosen gegen die Gicht ihrer Mutter besorgen konnte. Also war an ein neues Kleid zurzeit nicht zu denken und das Dunkelblaue musste wohl oder übel genügen.
Mit einem Schwung fuhr Hannah sich noch einmal durchs Haar, setzte sich eine Mütze auf und eilte dann aus dem Zimmer. Die Kutsche von Herrn Schneider wartete bestimmt schon draußen.
Unten angekommen, machte Hannah noch schnell einen Schlenker zum Tresen, um sich von Isabelle zu verabschieden. „Es tut mir leid, dass ich euch hier mit der Arbeit allein lasse“, sagte sie entschuldigend. „Aber ich konnte Herrn Schneider nicht länger absagen und...“
Isabelle ließ sie gar nicht ausreden. „Mach dir bloß keine Sorgen, Hannah. Ich bin froh, dass du heute mal etwas anderes siehst als immer nur unser Wirtshaus. Genieße die Zeit mit Herrn Schneider.“
„Na gut.“ Hannah gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Das werde ich.“
„Ach, übrigens.“ Isabelle bückte sich und zog eine kleine Kiste hinter dem Tresen hervor. „Das hat jemand hier für dich abgegeben.“
„Ach ja?“ Hannah blickte ungläubig auf die Kiste. „Und wer?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht ist ein Absender in der Schachtel?“ Isabelle war mindestens genauso neugierig wie Hannah. „Mach sie doch mal auf.“
„Ja, mach ich ja schon...“ Hannah stieß einen entzückten Schrei aus, als sie den Deckel hochgehoben hatte. „Oh nein, wie süß! Schau mal, Isabelle, ein kleines Schaf aus Ton.“
Isabelle war schon dabei, den Grund der Kiste nach einer Nachricht zu durchsuchen, aber sie fand nichts. „Ein kleines Schaf ohne Absender, um genau zu sein.“ Sie zwinkerte Hannah zu. „Meine Güte, dein Herr Schneider geht ja ganz schön ran, wenn er dir schon Spielzeug schenkt.“
„Woran du gleich immer denkst.“ Hannah drückte das Schaf liebevoll an sich. „Auf die Idee, dass er das Spielzeug ganz allein für mich gedacht hat, kommst du wohl nicht?“ Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das ist das erste Spielzeug meines Lebens. Ich habe als Kind nie etwas besessen, weil meine Schwester immer alles kaputt gemacht hat.“
„Na, dann bekommt es sicher einen Ehrenplatz in deiner Kammer.“ Isabelle freute sich mit ihr. „Ich will nicht drängeln, aber der Kutscher wartet draußen schon seit einer Ewigkeit.“
„Oh je, ich eile.“ Hannah umarmte Isabelle stürmisch und lief hinaus aus dem Wirtshaus. Sie hatte Laurentius Schneider gar nicht zugetraut, dass er so liebevolle Geschenke machen konnte. „Lieber Herr Schneider“, rief sie schon von weitem. „Es tut mir leid, dass Sie warten mussten.“ Sie war so gerührt, dass sie fast ihre Arme um ihn geschlungen hätte, aber sie besann sich gerade noch rechtzeitig eines Besseren und gab ihm stattdessen die Hand. „Aber ich habe Ihr Paket noch geöffnet. Vielen Dank dafür!“
„Welches Paket?“ Herr Schneider bot ihr seinen Arm an, um sie zur Kutsche zu führen.
Hannah hob das Schaf hoch, sobald sie in der Kutsche Platz genommen hatte. „Dieses hier.“
„Was ist das?“ Herr Schneider beugte sich vor und nahm das Schaf vorsichtig in die Hand. „Das ist doch etwas für Kinder, nicht wahr? Wieso sollte ich Ihnen etwas für Kinder schenken.“ Er runzelte die Stirn. „Und Sie wissen nicht, wer Ihnen das geschenkt hat?“
„Nein.“ Hanna zuckte mit den Schultern. „Es war kein Absender dabei.“ Sie mochte sich die schöne Überraschung von Herrn Schneider nicht verderben lassen. Am liebsten hätte sie das Schaf noch schnell nach oben in die Kammer gebracht, aber die Kutsche hatte sich schon in Bewegung gesetzt und Hannah wollte ihren Begleiter nicht noch mehr verstimmen. Also nahm sie ihm das Schaf wieder ab und legte es in ihren Schoß, wo es die ganze Fahrt über blieb.
„Vielleicht ein Verehrer?“ Laurentius Schneider starrte verstimmt auf die Straße. „Könnte das sein, Fräulein Novak? Sie kommen immerhin mit sehr vielen Leuten zusammen.“
„Nein, das glaube ich nicht.“ Hannah beobachtete Herrn Schneider von der Seite. Ganz offensichtlich war er eifersüchtig und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn besänftigen sollte. Schließlich wusste sie selbst nicht, von wem das Schaf kam. Allerdings hatte sie inzwischen einen konkreten Verdacht, denn niemand von ihren Freunden würde auf die Idee kommen, ihr ohne Anlass ein Spielzeug zu schenken. Wohlgemerkt ein Spielzeug, das in der Realität Wolle produzierte wie zum Beispiel diejenige, aus der die Handschuhe gestrickt waren, die Hannah Carla geliehen hatte.
Hannahs Hände umfassten das tönerne Schaf noch etwas fester. Ihr war natürlich aufgefallen, dass der Künstler am heutigen Abend nicht wie sonst an seinem Stammtisch gesessen hatte. Vielleicht war dies ein Zeichen, dass sie sich keine Sorgen machten sollte? Oder vielleicht ein Dank für die Bewahrung ihres Geheimnisses? Oder gar ein Abschiedsgeschenk?
Hannah spürte, wie ihre Kehle sich zusammenzog. Dann würde sie Carla nie wiedersehen. Warum gab es bloß keine Möglichkeit, sie irgendwie zu erreichen? Hannah wusste weder Carlas wahren Namen noch ihren Wohnort noch sonst irgendetwas. Ob sie sich wiedersehen würden oder nicht, lag allein in Carlas Hand. Dabei konnte Hannah sich nicht erinnern, sich jemals so schnell so wohl mit einem Menschen gefühlt zu haben, und wenn sie jemanden mochte, wurde sie normalerweise schnell aktiv und sorgte dafür, dass der Mensch zu einem Freund oder einer Freundin wurde.
Aber mit Carla war das alles anders. Carla lebte in einer Welt, in der sie nicht vorkam und auch nie vorkommen würde. Warum sollte sie ein Interesse daran haben, mit einer einfachen Wirtin Zeit zu verbringen? Warum verbrachte sie überhaupt in diesem Wirtshaus Zeit?
Das kleine Schaf in ihren Händen strafte Hannahs Gedanken Lügen. Wenn sie Carla egal wäre, dann hätte diese nicht die Mühe auf sich genommen, ihr ein solches Geschenk zu übermitteln. Und außerdem hatte Carla sie gemalt. Und zwar nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder.
Carla musste Hannahs kleine Kammer sehr genau in Augenschein genommen haben, denn es gab einen perfekten Platz, wo man das Schaf hinstellen konnte, nämlich auf die Fensterbank zwischen den Vasen, deren Gräser es aussehen lassen würden, als sei das Schaf von einer Wiese umgeben.
„So, da sind wir.“ Laurentius Schneider rückte seinen Hut zurecht. „Ich hoffe sehr, dass Ihnen das Stück gefallen wird.“
„Ganz bestimmt.“ Hannah ergriff lächelnd seinen dargebotenen Arm.
„Aber Sie wollen doch aber das Schaf nicht mit in die Theatervorstellung nehmen?“ Herr Schneider deutete entsetzt auf das Spielzeug in Hannahs Hand. „Die Menschen werden denken, dass Sie ein Kind erwarten.“
„Oh.“ Hannah sah unschlüssig auf das Schaf. Natürlich wollte sie Herrn Schneider nicht in Verlegenheit bringen, aber sie war sich nicht sicher, ob der Kutscher gut genug darauf aufpassen würde. Schließlich gab sie sich einen Ruck und legte das Spielzeug zurück auf die Bank. Ihr war nicht daran gelegen, die Eifersucht von Herrn Schneiders Eifersucht noch weiter zu schüren, aber sie entschloss sich trotzdem, noch schnell ihren Schal abzunehmen und das Schaf liebevoll damit zuzudecken. „Ich freue mich schon sehr auf den Abend“, versicherte sie, als sie aus der Kutsche stieg.
„Das geht mir genauso.“ Laurentius Schneider führte sie von dem Platz, auf dem die Kutschen warteten, zu dem imposanten Theatergebäude. Gemeinsam begaben sie sich im Strom der anderen Besucher in den Vorstellungssaal.
Glücklicherweise konnten sie noch Plätze in der zwölften Reihe ergattern, so dass Hannah während des Spiels die Mimik der Schauspieler erkennen konnte. Das Stück selbst war mäßig interessant, aber in jedem Fall war es eine schöne Abwechslung im grauen Alltag des Wirtshausbetriebes und außerdem kümmerte sich Herr Schneider sehr aufmerksam um sie. Er ließ sie keinen Moment aus den Augen und in der Pause erzählte er ihr sehr interessante Dinge aus seinem Alltag als Anwalt.
Vielleicht war er wirklich der Richtige für ein gemeinsames Leben. Noch hatte er ihr keinen Antrag gemacht, aber Hannah wusste, dass alles darauf hinauslief. Wahrscheinlich wartete er noch auf ein Zeichen von ihr und Hannah wusste selbst nicht, was sie zögern ließ. Es war unwahrscheinlich, dass jemals ein besserer Mann in ihr Leben treten würde.
Als der letzte Vorhang gefallen war und sie sich zurück zur Kutsche begaben, schwärmte Herr Schneider den ganzen Weg über von der hervorragenden Leistung der Schauspieler. „Ich habe mich ausgezeichnet amüsiert“, sagte er mit feierlicher Stimme. „Darf ich hoffen, dass es Ihnen ähnlich ging?“
„Ja, es war ein wunderschöner Abend.“ Hannah drückte lächelnd seinen Arm. „Ich danke Ihnen dafür.“
„Von denen können Sie haben, so viel Sie wollen…“ Er drehte sich ganz zu ihr, als sie an der Kutsche angekommen waren. „… wenn Sie möchten, Fräulein Novak.“
Hannah zögerte. Ihr war nur zu bewusst, worauf ihr Begleiter hinauswollte. „Ja“, antwortete sie schließlich. „Ja, das möchte ich.“
Die Erleichterung im Gesicht von Laurentius Schneider ließ erahnen, was als Nächstes kam. „Liebes Fräulein Novak.“ Er fuchtelte umständlich in seiner Manteltasche herum und zog etwas heraus, das aussah wie eine kleine Schatulle. „Würden Sie mir die Ehre erweisen und mich heiraten?“
Hannah wich die Farbe aus dem Gesicht. „Herr Schneider…“ Es war ein Unterschied, ob man sich nur vorstellte, dass etwas geschah, oder ob es wirklich passierte. „Ich….“, begann sie. „Ich…“
„Sie würden mich zum glücklichsten Mann der Welt machen“, unterbrach er sie und öffnete die Schatulle. Ein schmaler, silberner Ring lag darin und Herr Schneider nahm ihn vorsichtig heraus. „Und ich verspreche, Sie für den Rest unseres Lebens auf Händen zu tragen.“
Hannah schaute auf den Ring in seiner Hand und dann in das strahlende, hoffnungsfrohe Gesicht des jungen Anwalts, und sie wusste, dass sie nie einen Mann finden würde, der sie mehr liebte. „Ja“, sagte sie klar und deutlich. „Ja, das will ich.“
„Dann habe ich mich nicht getäuscht.“ Herr Schneider nahm strahlend ihre Hand, um ihr den Ring überzustreifen. „Sie machen mich sehr glücklich, Fräulein Novak.“ Fast schüchtern beugte er sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Das gilt für mich genauso“, erwiderte sie lächelnd und fasste seine Hand, als er ihr in die Kutsche half. Ihr war ganz schwindelig von all der Aufregung und sie war froh, als sie sich setzen konnte.
Herr Schneider nahm dicht neben ihr Platz und hätte sich in der Dunkelheit fast auf das Schaf gesetzt, wenn Hannah es nicht noch geistesgegenwärtig gerettet hätte. Vorsichtig wickelte sie das Spielzeug aus dem flauschigen Wollschal und legte es zurück in ihren Schoß. Es tat gut, sich an etwas festhalten zu können, denn sie fühlte sich, als ob der Boden unter ihr schwankte. Ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte? Würde Laurentius Schneider gut für sie sorgen?
Hannah schüttelte unwillkürlich den Kopf, als sie daran dachte, dass sie Isabelle und Flurin mit all der Arbeit allein lassen würde, sobald sie heiratete. Selbstverständlich konnte Herr Schneider nicht zulassen, dass sie weiter arbeitete – das würde so aussehen als könne er sie nicht ernähren. Stattdessen würde ihre Aufgabe in Zukunft darin bestehen, ihrem Mann ein gutes Zuhause zu bereiten und ihm viele Kinder zu schenken.
Weder zu dem einen noch zu dem anderen fühlte sich Hannah wirklich bereit, schließlich hatte sie erst vor kurzem ihr Zuhause verlassen und war gerade dabei, sich bei Isabelle und Flurin einzuleben. Das gelang ihr jeden Tag ein bisschen mehr und inzwischen fühlte sie sich bei ihnen mehr zu Hause als in ihrem eigenen Elternhaus, ganz zu schweigen vom Haus ihrer Schwester.
Aber es wäre unmöglich gewesen, Herrn Schneiders Antrag abzulehnen, denn ein zweites Mal hätte er sie nicht gefragt. Trotzdem hoffte Hannah, dass er vielleicht mit einer längeren Verlobungszeit einverstanden war. Das würde ihr die Gelegenheit geben, Isabelle und Flurin noch weiter im Wirtshaus unterstützen und außerdem könnte sie das Kinderkriegen noch etwas hinauszögern.
Hannahs Blick fiel auf das Schaf in ihren Händen. Wenn sie ihre Arbeit im Wirtshaus aufgab, würde sie auch Carla nicht mehr wiedersehen können. Der Gedanke legte sich wie ein Stein auf ihre Brust und sie musste tief einatmen. Nein, sie würde schon einen Weg finden, Herrn Schneider davon zu überzeugen, dass eine lange Verlobungszeit eine sehr romantische Angelegenheit sein konnte.
„Ich werde Sie bei der nächsten Gelegenheit meinem Vater vorstellen“, unterbrach Herr Schneider ihre Gedanken. „Wenn wir erst den Segen unserer Eltern haben, kann sicher alles ganz schnell gehen.“
„Herr Schneider, genau darüber wollte ich …“ Ein lauter Knall übertönte Hannahs Worte und sie hielt erschrocken inne. „Was war das?“
„Ich weiß es nicht.“ Herr Schneider beugte sich nach vorn zum Kutscher. „Karl, fahr sofort dem Geräusch nach! Es scheint von der nächsten Straßenecke zu kommen.“
Hannah zuckte zusammen, als ein weiterer Knall ertönte. „Das klingt wie… Schüsse.“
„Vielleicht braucht jemand Hilfe.“ Herr Schneider legte seinen Arm um Hannah. „Ich möchte nicht, dass Sie sich in Gefahr begeben, Fräulein Novak. Bitte bleiben Sie in der Kutsche sitzen, bis ich zurück bin.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage“, protestierte sie. „Vielleicht kann ich auch helfen.“
Herr Schneider antwortete nicht, sondern griff nach seinem Säbel. „Mit solchem Pack ist nicht zu spaßen“, sagte er, während er sich die Waffe umschnallte. „Glauben Sie mir, ich weiß, wie man mit solchen Menschen umgeht.“
In der Ferne war bereits ein Pulk von Leuten zu erkennen. Da die Gaslampen die Straße nur unzureichend beleuchteten, war schwer auszumachen, was die Ursache des Menschenauflaufs war, aber als ihre Kutsche näher kam, konnte Hannah erkennen, dass die Leute offenbar Bewohner der umstehenden Häuser waren und im Kreis um etwas herum standen.
„Ich bitte Sie, bleiben Sie sitzen!“ Laurentius Schneider sprang aus seiner Kutsche, kaum dass die Pferde angehalten hatten, und lief mit großen Schritten in Richtung des Pulkes. Hannah folgte ihm in einiger Entfernung und konnte bald erkennen, dass sich in der Mitte der Menschenmenge zwei Kutschen befanden, die sich gegenüber standen und offenbar auf der Straße kollidiert waren.
Die Kutsche, die Hannah am nächsten stand, schien keinen großen Schaden erlitten zu haben, was die beiden Männer, die vor ihr auf und ab liefen, nicht daran hinderte, aufgebracht mit ihren Pistolen hin- und her zu fuchteln und dabei lautstark abwechselnd die Menge und die drei Insassen der anderen Kutsche zu beschimpfen. Diese versuchten vergeblich, den Zorn der beiden Männer zu beschwichtigen, bewirkten jedoch offenbar nur das Gegenteil. Etwas abseits von ihnen standen die zwei Kutscher, die sich ebenfalls in den Haaren hatten.
Schon auf den ersten Blick war zu sehen, dass die zweite Kutsche wesentlich stärker beschädigt worden war und die Insassen hatten großes Glück, dass die vier Pferde offenbar nicht verletzt worden waren. Sie schnaubten nervös und die drei Insassen hatten alle Hände voll zu tun, sie zu beruhigen. Das rechte Vorderrad und die Achse der Kutsche schienen gebrochen und das linke Vorderrad lag nutzlos auf der Straße. Trotzdem war die Schönheit der Kutsche noch gut zu erkennen. Um genau zu sein war sie das schönste und prunkvollste Gefährt, das Hannah je unter die Augen gekommen war. Es war weiß mit goldener Umrandung und das geschwungene Holz war überall mit aufgemalten Rosenzweigen verziert. In der Mitte der Kutsche prankte ein goldenes, gut sichtbares Wappen, das jeder in dieser Gegend kannte. Es war das Wappen des Grafen von Lahnstein, und Hannah schlussfolgerte, dass es sich bei den drei Insassen wahrscheinlich um dessen drei erwachsene Kinder handelte. Hannah wusste, dass der Graf zwei Söhne und eine Tochter hatte, wenngleich sie niemanden kannte, der sie je zu Gesicht bekommen hatte.
Waren die beiden Streithähne tatsächlich so unvorsichtig, sich mit der Grafenfamilie anzulegen? Hannah konnte gar nicht glauben, wie man so dumm sein konnte, zumal ihre Kutsche ja noch glimpflich davon gekommen zu sein schien.
Herr Schneider hatte sich inzwischen zu den beiden Männern gesellt und Hannah war beeindruckt, dass er sich von ihren Pistolen überhaupt nicht irritieren ließ. Sie konnte nicht verstehen, was er den Herren sagte, aber als Anwalt hatte er sicher Erfahrung im Schlichten von Streit und schien mit seiner Taktik tatsächlich Erfolg zu haben. Wenig später gesellten sich auch die drei Insassen der beschädigten Kutsche dazu und man besprach das weitere Vorgehen, immer mal wieder unterbrochen von wüsten Beschimpfungen und Flüchen, die die beiden Streitsüchtigen nicht lassen konnten.
Endlich gaben sich alle Beteiligten die Hand und Laurentius Schneider begleitete die zwei Männer zurück zu ihrer Kutsche, während die Gräfin und einer ihrer Brüder ihre Pferde zu einem nahegelegenen Stall führten. Sie wurden von einem älteren Mann im Nachthemd begleitet, der wohl seinen Stall als Notunterkunft zur Verfügung gestellt hatte.
Als die zwei Männer unter lautstarken Schimpftiraden in ihre Kutsche eingestiegen waren, machte Herr Schneider kehrt und trat zu Hannah, die noch immer in der Menge stand. „Ich hatte Sie doch gebeten, in der Kutsche zu bleiben“, rügte er sie kopfschüttelnd, aber er lächelte dabei. „Ich habe mir offensichtlich eine Verlobte gesucht, die ihren eigenen Kopf hat.“
„Es würde Ihnen sicher schnell zu langweilig werden, wenn alle Menschen immer tun würden, was Sie sagen“, erwiderte Hannah mit einem charmanten Lächeln. „Wie haben Sie es denn geschafft, diese Raufbolde zur Vernunft zu bringen?“
„Man hat so seine Routine.“ Herr Schneider konnte nicht verbergen, wie sehr Hannahs Kompliment ihm schmeichelte, aber er wurde schnell wieder ernst. „Leider muss ich Ihnen einen Umweg zumuten, Fräulein Novak. Die Kutsche der Familie von Lahnstein ist nicht mehr fahrfähig und ich habe angeboten, sie zum Schloss zu fahren. Ich hoffe, das macht Ihnen nicht zu viel aus.“
„Nein, natürlich nicht.“ Zwar war es inzwischen recht frisch geworden und Hannah fröstelte seit geraumer Zeit, aber selbstverständlich konnte man die Grafenfamilie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. „Ich werde Karl informieren, wenn Ihnen das Recht ist“, bot sie an und machte sich auf den Weg zurück zu ihrer Kutsche.
Der beleibte Kutscher von Herrn Schneider hatte es trotz des Tumults geschafft, friedlich einzunicken, und Hannah musste ihn sanft anstoßen, um ihn über die neue Route zu informieren. Er brummte nur etwas Unverständliches, bevor er sich in seiner vollen Größe reckte und streckte, um dann wieder auf dem Kutschbock zusammenzusinken.
„Ihr solltet das nicht auf die leichte Schulter nehmen, Herr Graf“, hörte Hannah Herrn Schneider hinter sich sagen. „Mit solchen Querulanten ist nicht zu spaßen.“
Hannah wandte sich um und machte einen Knicks vor dem ältesten Sohn der Familie von Lahnstein. „Guten Abend, Herr Graf“, sagte sie, als er ihr zunickte.
Ansgar von Lahnstein machte eine abfällige Handbewegung. „Bisher ist noch nichts an diesem Abend gut gewesen, aber noch ist er ja nicht zu Ende.“ Er drehte sich zu seiner Schwester um. „Wie du siehst, wird es ein wenig eng werden, Carlotta. Herr Schneider hat noch eine charmante Begleitung dabei.“
„Guten Abend, Gräfin.“ Hannah knickste erneut und hätte fast das Gleichgewicht verloren, als sie wieder aufschaute. Sie hätte dieses Gesicht überall auf der Welt wiedererkannt. Die blauen Augen, die edlen Züge, die blonden Locken, der fein geschwungene Mund. Der Schock in den Augen der Gräfin spiegelte ihren eigenen wider und Hannah senkte den Blick, um sich nicht zu verraten. „Es ist mir eine Ehre“, murmelte sie und trat einen Schritt zur Seite, um die Grafenfamilie einsteigen zu lassen.
Konnte das wahr sein? Carla, oder `der Künstler`, wie die Leute sagten, war in Wirklichkeit Carlotta, Gräfin von Lahnstein? Hannah hatte ja geahnt, dass hinter der lumpigen Künstlermaskerade eine adelige Dame steckte, aber die Gräfin von Lahnstein? Die ganze Gegend hier war im Besitz der Familie. Jeder Grashalm, auf den Hannah je getreten war, gehörte den von Lahnsteins.
„Herr Graf, das ist meine Verlobte Frau Novak.“ Hannah hörte wie von Ferne, dass Herr Schneider ihren Namen sagte und gerade noch rechtzeitig knickste sie vor dem jüngsten Spross der Familie. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, wie Carla scharf einatmete, aber da sie auf den Boden schaute, konnte sie den Grund dafür nicht ausmachen.
„Guten Abend, Fräulein Novak.“ Leonard von Lahnstein lächelte Hannah freundlich zu. „Da passen wir schon alle rein, wenn wir etwas zusammenrücken“, stellte er fröhlich fest. „Das wird bestimmt gemütlich.“
Ansgar von Lahnstein wies seinen Kutscher an, sich vorn zu seinem Kollegen zu setzen, bevor er seiner Schwester in die Kutsche half. Ihr aufwändig verziertes Kleid ging tief bis zum Boden und Carla musste es anheben, damit es beim Einsteigen nicht schmutzig wurde. Dabei kamen feine, spitz zulaufende Schuhe zum Vorschein, wie Hannah sie bisher nur auf Gemälden gesehen hatte. „Jetzt die nächste Dame“, sagte der Graf in Richtung Hannah, aber sein arrogantes Lächeln ließ keinen Zweifel darüber, dass er sie für alles andere als für eine Dame hielt.
Hannah nahm neben Carla Platz und Laurentius Schneider quetschte sich neben sie. Hannah hatte den Verdacht, dass er die Gelegenheit nutzte, um ihr näher zu sein, denn so wenig Platz war auf der Bank nun auch wieder nicht. Ihnen gegenüber ließen sich die beiden Grafenbrüder nieder und Ansgar von Lahnstein gab dem Kutscher ein Zeichen, dass er losfahren könne. Für einen Moment fürchtete Hannah, Herr Schneider würde sich nicht gefallen lassen, dass der Graf Karl behandelte als wäre er sein Angestellter, aber glücklicherweise war er klug genug, sich nicht mit den von Lahnsteins anzulegen.
„Was ist das?“, unterbrach Leonard von Lahnstein die Stille und führte seine Hand hinter seinen Rücken. Kurz darauf zog er Hannahs Schal samt Schaf hervor. „Ist das nicht eins von deinen Schafen, Carlotta?“, wandte er sich an die Gräfin.
„Nein, das gehört mir, Herr Graf“, sagte Hannah schnell. „Verzeiht bitte, dass ich es dort liegen gelassen habe.“
„Sagten Sie nicht, Sie sind verlobt?“ Ansgar von Lahnstein sah Herrn Schneider fragend an und dieser beeilte sich zu erklären, dass es sich hier nicht um ein zukünftiges Kinderspielzeug handelte.
„Ich stehe manchmal auf Kitsch“, kam ihm Hannah zur Hilfe und warf einen verstohlenen Blick zur Gräfin, als sie das Schaf entgegennahm. Carla hielt ihren Kopf gesenkt, aber Hannah konnte sehen, dass sie lächelte. Und damit hatte Hannah die Antwort auf die Frage, die sie sich den ganzen Abend gestellt hatte.
Das war also der Grund gewesen, weshalb der Künstler heute nicht im Wirtshaus erschienen war. Die Gräfin war mit ihrer Familie unterwegs gewesen und hatte versucht, Hannah ein Zeichen zu übermitteln, damit sie sich keine Sorgen machte. Hannah war so gerührt über diese Geste, dass sie Carla am liebsten in die Arme geschlossen hätte. Natürlich war das ganz und gar unmöglich, aber Hannah konnte gar nicht anders als ihre Hand unauffällig in Carlas zu schieben und sie kurz zu drücken. Zu ihrem Erstaunen erwiderte Carla den sanften Druck und behielt ihre Hand fest in ihrer. Die Berührung verursachte ein wohliges Kribbeln in Hannah, und die Wärme, die von Carlas Hand ausging, war selbst durch ihre Handschuhe hindurch spürbar. Plötzlich war Hannah gar nicht mehr fröstelig, im Gegenteil, ihr Gesicht glühte und ihre Füße begannen endlich wieder warm zu werden.
Von ihren Kleidern verdeckt, war die Geste für die anderen nicht zu sehen und Hannah musste innerlich lächeln bei dem Gedanken, dass sie schon wieder ein Geheimnis mit Carla teilte, wenn auch in anderen Rollen. Carlas Hand in ihrer fühlte sich wunderbar an und während die Kutsche in gemächlichem Trapp durch die Nacht zuckelte, unterhielten sich Leonard von Lahnstein und Herr Schneider angeregt über den Hergang des Unfalls. Carlas älterer Bruder Ansgar schien eher gelangweilt oder zumindest müde zu sein, denn er hatte die Augen geschlossen und beteiligte sich nicht an dem lebhaften Gespräch der beiden anderen.
Carla hingegen mischte sich ab und zu in die Diskussion ein und Hannah beobachtete fasziniert, wie klug und charmant sie sich einbrachte. Carlotta von Lahnstein war eine Gräfin durch und durch, und wenn Hannah es nicht besser gewusst hätte, wäre sie nicht im Traum darauf gekommen, dass der zerlumpte, wortkarge Künstler, der allabendlich in ihr Wirtshaus trottete, und die stolze, wortgewandte Dame neben ihr ein und dieselbe Person waren.
Aber die schmale Hand in ihrer eigenen war der Beweis dafür, dass es wahr war. Hannah hatte keine Ahnung, warum Carla ihre Hand nicht los ließ, aber eines wusste sie ganz genau: Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben so glücklich gewesen zu sein.
* * *
Carlotta schaute nachdenklich in den Nachthimmel, während die Kutsche durch den großen Torbogen zum Anwesen der von Lahnsteins fuhr. Warum war sie eifersüchtig auf Laurentius Schneider? Eigentlich sollte sie ihm dankbar dafür sein, dass er sich bereit erklärt hatte, sie nach Hause zu fahren, aber stattdessen wünschte sie, dass er tot umfallen würde. Seine beiläufige Aussage, dass er mit Hannah Novak verlobt war, hatte sie wie eine Ohrfeige getroffen, dabei sollte sie sich für Hannah freuen, dass sie so einen anständigen Herrn als Ehemann bekommen würde.
Aber Carlotta freute sich überhaupt nicht, im Gegenteil, sie triumphierte heimlich, dass der Anwalt von der weichen Hand, die sich schon die ganze Fahrt über in ihre schmiegte, nichts ahnte. Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sich Carlotta, ein Mann zu sein, und der Gedanke verwirrte sie zutiefst. Sie wollte Hannah ganz für sich haben, und so albern das war, konnte sie das Gefühl doch nicht abschütteln.
„Wir danken Ihnen für Ihr Entgegenkommen, Herr Schneider.“ Das Klappern der Hufe auf den Pflastersteinen hatte Ansgars Schlummer beendet und er übernahm sofort die Formalitäten. „Wenn wir uns irgendwie erkenntlich zeigen können…“
„Nein, nein“, winkte Herr Schneider ab. „Das war doch selbstverständlich. Ich hoffe, dass Ihr nicht zu große Unannehmlichkeiten durch den Unfall hattet.“
„Das Wichtigste ist, dass es den Pferden gut geht“, versicherte Carlotta lächelnd. „Alles andere wird sich finden.“
„Außerdem hatte die Begebenheit den Vorteil, dass wir jetzt wissen, wo sich in der Stadt ein guter Anwalt aufhält“, ergänzte Leonard grinsend. „Vielleicht wartet ja der ein oder andere Auftrag auf Sie.“
„Ihr seid immer willkommen, wenn irgendetwas sein sollte, Graf.“ Herr Schneider deutete eine Verbeugung an und wandte sich dann an Hannah. „Kommen Sie, Fräulein Novak. Wir sollten kurz aussteigen, damit wir unseren Gästen nicht im Weg sind.“
Hannah nickte und löste ihre Hand aus Carlottas. Wortlos folgte sie ihrem Verlobten aus der Kutsche und wartete draußen darauf, wieder einsteigen zu können. Der Kutscher hatte direkt vor der gut beleuchteten Außentreppe des Schlosses gehalten, so dass Carlotta beim Austeigen sehen konnte, wie Hannah fröstelnd die Arme um sich schlang.
„Es tut mir leid, dass Sie für uns eine so lange Fahrt auf sich nehmen mussten“, wandte Carlotta sich an Herrn Schneider. „Ich fürchte, Ihre Verlobte wird sich erkälten, wenn sie nicht schnell einen wärmenden Umhang bekommt. Darf ich sie Ihnen kurz entführen?“
„Sehr gern, wenn es Euch keine zu großen Umstände macht, Gräfin.“ Herr Schneider tätschelte Hannahs Schulter. „Lassen Sie sich Zeit, Fräulein Novak. Ich werde hier draußen auf Sie warten.“
Nach eine kurzen Verabschiedung stieg Carlotta mit Hannah und ihren Brüdern die Außentreppe zum Schloss hinauf und wurde sogleich von einem ungewöhnlich aufgeregten Benedikt empfangen. „Oh, da sind ja die Herrschaften“, rief er erleichtert. „Euer Vater hat sich schon Sorgen gemacht.“
„Wir hatten einen Zwischenfall auf der Fahrt“, berichtete Ansgar kurz angebunden. „Ist unser Vater noch wach?“
„Ja, er hat auf Euch gewartet, Graf.“ Benedikt verbeugte sich vor Ansgar und Leonard. „Ich führe Euch sofort zu ihm.“
„Bitte entschuldige mich bei meinem Vater, Benedikt.“ Carlotta war schon auf dem Weg zur Innentreppe. „Ich werde unserer Retterin noch etwas Warmes zum Anziehen borgen, damit sie sich auf dem Rückweg nicht erkältet.“ Mit einer freundlichen Geste wies sie Hannah an, ihr zu folgen, und schweigend stiegen sie die Stufen in den ersten Stock hinauf. „Wir müssen einmal den ganzen Gang entlang“, informierte Carlotta Hannah, die stumm auf die vielen Türen starrte, die von dem langen Flur abgingen. Es musste seltsam für sie sein, von so viel Raum umgeben zu sein.
Endlich waren sie an Carlottas Schlafgemach angelangt, von dem ein eigener Raum abging, in dem sich Carlottas Garderobe befand. Es beunruhigte sie, dass Hannah seit fast einer Stunde kein Wort gesagt hatte und sie fragte sich, ob sie noch so überrascht über ihre Begegnung war, oder ob das Schloss sie mit seinem demonstrativen Prunk einschüchterte. Eigentlich war Hannah nicht leicht einzuschüchtern, weshalb Carlotta fürchtete, dass etwas anderes sie so ungewöhnlich still sein ließ. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen“, fragte sie leise.
„Ja.“ Hannah nickte, aber vermied es, Carlotta anzusehen.
„So, dann will ich mal schauen, was wir für Sie haben.“ Carlotta bat Hannah, in ihrem Schlafgemach zu warten, bis sie mit ein paar Sachen aus der Garderobe zurückkommen würde. Leider musste sie feststellen, dass die meisten Umhänge in ihrer Garderobe eher elegant als warm waren, aber der grüne Umhang, den sie normalerweise für die Jagd verwendete, sollte die Kälte genügend abhalten.
Als Carlotta in ihr Schlafgemach zurückkam, stand Hannah am Fenster bei der kleinen tönernen Schafherde, die dort auf dem Fenstersims stand. Sie drehte sich um, als sie Carlotta hereinkommen hörte und Carlotta konnte sehen, dass ihre Augen feucht waren. „Gräfin, Ihr ahnt nicht, was Ihr mir für eine Freude bereitet habt“, sagte sie bewegt.
„Carla“, korrigierte Carlotta lächelnd. „Ich wusste nicht, wie ich Sie darüber unterrichten sollte, dass ich die nächsten Abende nicht ins Wirtshaus kommen kann. Und dann sind mir die Schafe ins Auge gefallen.“
„So eines wollte ich schon immer haben.“ Hannah fuhr mit dem Finger über den tönernen Hirten, der die Herde bewachte. „Und ich bin sehr dankbar, dass Sie mich informieren wollten. Ich hätte mir nämlich tatsächlich Sorgen gemacht.“
Carlotta trat zu ihr ans Fenster. „Hier, probieren Sie mal diesen Umhang.“ Sie half Hannah dabei, sich das Kleidungsstück umzuwerfen. „Wie ich höre, haben Sie sich verlobt?“
„Ja.“ Hannah schüttelte den Kopf, als könnte sie es selbst noch nicht glauben. „Herr Schneider hat mir heute einen Antrag gemacht.“
„Sie haben bestimmt Glück mit ihm“, versicherte Carlotta, obwohl ihr die Worte nur schwer über die Lippen kamen. „Er scheint ein sehr anständiger Mann zu sein.“
„Ja, das ist er.“ Hannah strich versonnen über den Filzstoff des Umhangs. „Aber ich habe Angst vor dem, was auf mich zukommt.“
Carlotta fasste Hannah an den Schultern und drehte sie zu sich. „So dürfen Sie nicht denken, Hannah. Es wird bestimmt alles gutgehen. Und wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, wenn ich Ihnen irgendwie mit etwas behilflich sein kann, dann lassen Sie es mich unbedingt wissen.“ Sie hielt inne, als Hannah den Kopf senkte. „Ich stehe tief in Ihrer Schuld, das wissen Sie.“
„Nein, das tun Sie nicht.“ Hannah schüttelte erneut den Kopf. „Ich möchte nicht, dass Sie das denken.“
Carlotta nickte und sah Hannah lange an. „Es gibt etwas, das ich tun kann, nicht wahr?“
Hannahs Erröten bestätigte ihre Vermutung. „Es ist… nur eine einzige Sache…“, sagte Hannah zögernd. „Und normalerweise würde ich Sie niemals um so etwas bitten…“
„Nun sagen Sie schon, was ist es?“ Allein der Gedanke, für Hannah etwas tun zu können, machte Carlotta froh und glücklich. „Geben Sie sich einen Ruck.“
Hannah atmete tief ein. „Es geht um meine Mutter“, sagte sie schließlich. „Sie ist schwer gichtkrank und ich muss nach Nürnberg reisen, um ihr das Gift der Herbstzeitlosen zu besorgen. Aber ich bekomme das Geld dafür nicht zusammen, weil Isabelle und Flurin mir nicht genügend Lohn zahlen können.“
Carlotta musste den Kopf schütteln über dieses bescheidene Mädchen. Darum machte sie so ein Gewese? Um ein paar Taler? „Das ist überhaupt kein Problem, Hannah“, beruhigte sie sie lächelnd. „Wie viel brauchen Sie?“
„Ich muss noch einmal mit dem Arzt meiner Mutter Rücksprache halten.“ Hannah war völlig perplex, dass es für Carlotta so selbstverständlich war, ihr zu helfen. „Sie würden mir wirklich etwas leihen?“
„Nein, nicht leihen“, widerspach Carlotta lächelnd. „Geben natürlich. Glauben Sie mir, es kommt von Herzen.“
Hannah traten Tränen die Augen und Carlotta konnte nur vermuten, wie lange sie schon für die Reise gespart haben musste. „Ich könnte Sie küssen“, sagte Hannah leise.
Dann tu’s doch, dachte Carlotta und noch ehe sie einschreiten konnte, neigte sie den Kopf und drückte einen Kuss auf Hannahs Lippen. Die samtweiche Berührung ließ sie erschrocken zurückweichen, aber Hannahs Lippen waren schon wieder auf ihren. Eine Explosion in ihrem Innern hinderte Carlotta am Denken, und sie wollte Hannah nur näher, noch näher haben, während ihre Lippen wieder und wieder Hannahs suchten.
Erst die Not nach Luft brachte sie wieder auseinander, und Carlotta schlang die Arme um Hannah, als diese sich schwer atmend an sie schmiegte. „Großer Gott“, flüsterte Carlotta.
Hannah antwortete nicht, aber Carlotta konnte fühlen, dass sie zitterte. „Warum habe ich Sie so lieb?“, fragte sie leise.
Carlotta fühlte sich außerstande, etwas zu sagen. Stattdessen fuhren ihre Finger immer wieder durch Hannahs zerzaustes Haar, und sie wusste nicht, ob sie Hannah beruhigen wollte oder sich selbst. „Ich muss Sie wiedersehen, Hannah“, flüsterte sie kaum hörbar. „Ich muss Sie unbedingt wiedersehen.“