Hier kommt das neue Kapitel - mal ein bisschen Zeit zum Durchatmen. Und ich schwöre, die Idee, dass Jasmin Anni beim Lernen hilft, hatte ich bereits vor ein paar Wochen und nicht erst nach der Folge der letzten Woche.
Viel Spaß beim Lesen!
Kapitel 6
Es dämmerte bereits, als Jasmin aufwachte und für einen Moment lang war sie orientierungslos. Lediglich, dass sie in einem fremden Bett, in einem anderen Zimmer, Annis Zimmer, lag, begriff Jasmin sofort. Sie schloss seufzend die Augen in Erwartung der in den letzten Tagen so allgegenwärtigen Angst, doch zu ihrer Überraschung stellte sich keine Angst ein. Im Gegenteil, sie verspürte den Wunsch, sich nochmal in die Kissen zu kuscheln und weiterzuschlafen. Ein Kichern erregte ihre Aufmerksamkeit und als Jasmin die Augen aufschlug, sah sie Anni grinsend im Türrahmen stehen. "Na, du Schlafmütze, aufgewacht?", erkundigte sich Anni gut gelaunt. Zaghaft lächelte Jasmin ihre Mitbewohnerin an, nun keinerlei Anspannung mehr verspürend. Gelassen streckte sie sich erst, lehnte sie sich dann zurück und musterte Anni. "Und ich dachte schon, ich müsste die Prince Charming Methode anwenden.", neckte diese sie und kam zu ihr herüber, um sich auf die Bettkante zu setzen.
Jasmin brauchte einen Augenblick um zu verstehen, was ihre Mitbewohnerin meinte, bevor eine tiefe Röte ihr Gesicht überzog, was Annis Grinsen nur noch verstärkte. Spielerisch schlug Jasmin ihr auf den Arm: "Das hättest du wohl gern, hm?" Anni jedoch zuckte nur mit den Schultern und steckte ihr kurz die Zunge raus. Jasmin konnte nicht anders, sie musste einfach lachen. Überraschenderweise bereitete ihr Annis leichtes Flirten keinerlei Unbehagen. Es war, wie es schon so oft zwischen ihnen gewesen war – Anni brachte sie zum Lachen und es fühlte sich gut an. Schließlich griff Jasmin nach Annis Hand und hielt sie fest.
"Danke.", sagte sie leise. Ihre Stimme zeugte von ehrlicher Dankbarkeit für alles was Anni für sie schon getan hatte.
"Gern geschehen.", kam die sanfte Antwort und sie schauten sich in die Augen. Doch bevor der Moment zu intensiv wurde, ließ Anni Jasmins Hand los, stand auf und ging zur Tür. Dort angekommen, drehte sie sich noch einmal zu Jasmin um. "Ich hab Pizza bestellt, falls du mitessen willst. Reicht für uns beide." Sie beobachtete, wie sich Jasmin zurück an die Wand lehnte und einen Augenblick lang in sich hineinzuhorchen schien.
"Ich hab Hunger."
Die Verblüffung in Jasmins Stimme entlockte Anni ein zufriedenes Lächeln. Da klingelte es schon an der Tür und Anni verließ das Zimmer, um den Pizzaboten in Empfang zu nehmen.
Jasmin blieb zurück und schloss noch einmal die Augen. Alles fühlte sich ein bisschen leichter an. Es war als ob die Nacht in den Armen ihrer Mutter und die paar Stunden Schlaf an diesem Nachmittag, ihre Kraftreserven zumindest ein wenig aufgefüllt hatten. Und jetzt hatte sie tatsächlich Hunger. Sie lachte leise auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Neugierig schaute sie sich um. Zunächst hatte es den Anschein, als wäre sämtliche Einrichtung und selbst die Dekoration in schwarz und weiß gehalten. Erst bei näherem Hinsehen, entdeckte Jasmin einen blauen Farbtupfer, verborgen hinter etwas Stoff. Sanft berührten Jasmins Hände den Stoff, worauf dieser wellenartige Schwingungen aussendete. Als Leselampte diente Anni eine einfache Glühbirne in einer Fassung an einem langen Kabel, das von einem Maßband gehalten wurde, was Jasmin schmunzeln ließ. In diesem Zimmer gab es keinen Schnickschnack, keinen überflüssigen Kram, der im Fall der Fälle nur im Weg rumstand. Der Raum war Anni – einfach, klar, aber nicht unpersönlich. Gerade als Jasmin aufstehen wollte, um sich eine bestimmte Fotografie an der Wand genauer anzusehen, steckte Anni den Kopf zur Tür rein und fragte: "Kommst du?". Erschrocken und ein bisschen verlegen ob ihrer Neugierde, blickte Jasmin Anni an, die jedoch nichts von ihrer Nervösität zu bemerken schien. "Ja, ja, ich komme." Sie stand auf und quetschte sich schnell an Anni vorbei, um ins Bad zu gehen. Die schaute ihr ein wenig verwundert nach.
Zehn Minuten später kam Jasmin frisch geduscht aus dem Bad und verschwand kurz in ihrem Zimmer, um sich andere Klamotten anzuziehen. Anni hatte derweil die Pizza auf zwei Tellern verteilt und ihre Bücher zur Seite geräumt, damit sie essen konnten. Als Jasmin aus ihrem Zimmer kam, stand Anni am Kühlschrank und erkundigte sich, ob Jasmin Wasser oder Wein zum Essen haben wollte. "Wasser bitte, mit Alkohol hab ich's grad nicht so.", antwortete Jasmin, woraufhin Anni sie einen Moment lang forschend anblickte. Dann zuckte sie mit den Schultern, "Okay." und nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. "Kannst du noch...", sie deutete mit der Hand zu dem Schrank, in dem sich die Gläser befanden.
"Was hast du bestellt?", erkundigte sich Jasmin, als sie sich mit zwei Gläsern in der Hand zu Anni an den Tisch gesellte. "Ähm, Peperoni, Zwiebeln und extra Chilischoten." "Extra scharf, super." "Nicht, dass du es bräuchtest", murmelte Anni, was ihr einen Blick von Jasmin einbrachte, der eine Mischung aus Verärgerung und Amüsement war. "Anni, du musst zugeben, der Spruch ist selbst für deine Verhältnisse ziemlich platt." Anni setzte ein schuldbewusstes Gesicht auf. "'Tschuldigung." Jasmin musste über zerknirschte Anni's Miene lachen und zwinkerte ihr zu: "Ich bin mir sicher, das kannst du besser", was wiederum Anni zum Lachen brachte. Die kurzzeitig angespannte Stimmung zwischen ihnen löste sich in ausgelassenem Gelächter auf und beide griffen beherzt zu ihren Stücken Pizza. Am Ende war Jasmin mit ihrer Hälfte schneller fertig als Anni, was diese zu der Frage veranlasste, wann Jasmin das letzte Mal was Vernünftiges gegessen hatte. Jasmin schüttelte nur den Kopf: "Keine Ahnung."
Anni legte ihr Stück Pizza zur Seite und wurde ernst. Sie schaute Jasmin an, die den Blick fragend zurückwarf. Leise sagte sie: "Du hast abgenommen." Verdutzt sah Jasmin erst Anni an und warf dann einen kurzen Blick an sich selbst hinunter. "Hab ich gar nicht gemerkt." Nachdenklichkeit hatte sich in ihren Ton gemischt. Anni zögerte. Die Gedanken und Sorgen, die sie sich in den letzten Tagen um Jasmin gemacht hatte, nagten an ihr, aber sie konnte auch die Unsicherheit in Jasmins Gesicht lesen und fast bereute sie es, das Thema angesprochen zu haben. Sie wusste einfach nicht, wie sie am besten mit der Situation umgehen sollte. Anni wollte ihr so gern helfen, aber wie sollte sie das anstellen? Jasmin kämpfte mit sich. Annis Kommentar hatte den Horror der letzten Wochen wieder an die Oberfläche gebracht und Jasmin wollte nichts mehr, als ihn wegschieben, irgendwohin, wo der Albtraum sie nicht mehr verfolgte und zu ersticken drohte. Warum konnte es nicht einfach aufhören, weh zu tun? Jasmin schloss kurz die Augen und schaute dann zur Seite, bevor sie schließlich nach Annis Hand griff und sie mit rauer Stimme bat: "Anni, können wir das Thema heute Abend bitte einfach mal nicht ansprechen? Ich will einfach mal ein paar Stunden nicht darüber nachdenken. Bitte?" Anni schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, der sich bei Jasmins fast flehentlicher Bitte gebildet hatte. Selten in ihrem Leben hatte sie sich so unsicher gefühlt. Ihre Skepsis, ob dies der richtige Weg war oder ob sie nicht doch darüber reden sollten, kämpfte mit dem Bedürfnis, Jasmin jeden Wunsch zu erfüllen, solange es sie glücklich machte. Sie sah ihr forschend in die Augen und konnte erkennen, wie sehr Jasmin in diesem Moment die Ruhe und den Frieden brauchte. Also drückte sie Jasmins Hand und erwiderte nach einem kurzen Räuspern: "Klar, kein Problem." Dankbar sah ihre Freundin sie an. Anni gab leise zu: "Ehrlich gesagt, muss ich auch versuchen, es aus dem Kopf zu kriegen. Ich schreib morgen meine erste Vorbereitungsklausur für die Abschlussprüfungen." Jasmin warf einen Blick auf die zur Seite geräumten Bücher. "Morgen?" Anni nickte. "Yep. Morgen nachmittag. Was mir noch ziemlich genau..." Sie schaute auf ihre Uhr. "… 17 Stunden – minus vielleicht fünf Stunden Schlaf – gibt, um mich vorzubereiten."
Noch während sie die Teller in die Spüle räumte, entschied Jasmin: "Okay, ich helf' dir!" "Helfen? Wie willst du mir dabei helfen?“, fragte Anni verwirrt. „Ich muss halt lernen." "Ich frag dich ab. Was ist das Thema?" "Akkustik.“ "Okay, ich hab keine Ahnung, außer dass es was mit Tönen zu tun hat." Jasmin machte eine wegwerfende Handbewegung. "Egal. Ich kann dich trotzdem abfragen. Wie lernst du? Nur mit den Büchern?" Annis Verwirrung wurde zunehmend größer. Das konnte sie nicht ernst meinen, oder? "Anni?", riss Jasmins Stimme sie aus ihren Gedanken. "Wie lernst du? Hast du 'nen Hefter oder sowas?" "Karteikarten. Ich lerne schon seit Jahren mit Karteikarten.", antwortete Anni, immer noch perplex über das spontane Angebot. "Wo sind die?", sah Jasmin sich suchend um. "Meinst du das wirklich ernst?", stellte Anni Jasmin schließlich die Frage, die ihr zuvor schon durch den Kopf gegangen war. "Ja.", antwortete Jasmin entschlossen und griff sich das letzte Stück Pizza von Annis Teller. "Du musst morgen fit sein und ich brauch Ablenkung. Also frag ich dich ab." Anni lächelte dankbar. "Okay, wie du willst. Ich hol die Karteikarten." "Und ich räum ab."
Als Anni mit dem Stapel Karteikarten wieder aus ihrem Zimmer kam, blätterte Jasmin gerade in einem der Lehrbücher. Ohne Anni anzusehen, bemerkte sie trocken: "Irgendwie sieht das mehr nach Mathe und Physik aus als nach Musik." "Joah, das ist es irgendwie auch. Das ist die schnöde Theorie hinter gut klingenden Konzerten.", schmunzelte Anni. "Ich glaube, mir ist die Praxis lieber.", lachte Jasmin. "Mir auch, aber leider fragt da morgen keiner nach." Sie reichte Jasmin den Stapel Karteikarten und fügte hinzu: "Die sind halbwegs sortiert, lass uns am besten mit den Definitionen anfangen." Jasmin ließ die Karten wie bei einem Daumenkino durch die Finger schnippen. "Okay, fangen wir an. Was ist Schall und wie entsteht er?" "Schall bezeichnet die Ausbreitung von Schwingungen in einem Medium, wie zum Beispiel Luft, Wasser oder in einem festen Körper. Er entsteht durch eine Änderung des Luftdrucks." "Sehr gut.", lobte Jasmin ihre Mitbewohnerin. "In welche vier Bereiche werden Schallwellen unterteilt?" "Die vier Bereiche sind der Infraschall, der unterhalb der Hörschwelle liegt, der Schall innerhalb des hörbaren Bereichs, oberhalb des hörbaren Bereichs – nennt sich Ultraschall – und der Hyperschall, der hat Frequenzen über 1 Gigahertz." Jasmin las die Antwort auf der Rückseite der Karteikarte mit und nickte. "Richtig. Ich hab zwar keine Ahnung, was eine Schallwelle zum Ton und damit hörbar macht, aber die Antwort stimmt." "Okay, pass auf. Wenn du einen Stein ins Wasser wirfst, dann kannst du sehen, wie sich die Wellen um diesen Punkt herum kreisförmig ausbreiten, ja?", setzte Anni zu einer Erklärung an, vergewisserte sich, dass Jasmin ihr folgen konnte und fuhr fort. "Nun stell dir vor, der Stein ist ein Geräusch oder ein Ton, der von einem bestimmten Punkt im Raum ausgeht, weil dir ein Glas runterfällt oder ich die Saite der Gitarre anschlage. Das Runterfallen oder Anschlagen verursacht Schwingungen in der Luft, die sich wie die Wellen bei dem Stein ausbreiten." Jasmin beobachtete Anni, die inzwischen ihre Hände unterstützend einsetzte, um ihr alles zu erklären. "Okay, mach weiter.", nickte Jasmin schließlich. "Das war's eigentlich schon fast. Diese Schwingungen bzw. Wellen treffen auf dein Ohr und dadurch nimmst du das Geräusch oder den Ton wahr." "Und was ist der Unterschied zwischen einem Ton und einem Geräusch?" "Ganz einfach. Bei einem Ton sind die Schwingungen periodisch, das heißt, sie sind regelmäßig und bei einem Geräusch sind sie unregelmäßig." "Cool." Jasmin war beeindruckt. Jetzt hatte sie zumindest eine Anfangsvorstellung, wie das funktionierte. Sie nahm die nächste Karte zur Hand und musste lachen. "Naja, den Unterschied zwischen Ton und Geräusch hatten wir dann ja jetzt gerade." Jasmin nahm die nächste Karte und begann wieder die Frage abzulesen: "Was sind die wichtigsten Eigenschaften eines Tones und wie ergeben sie sich?" "Das sind Tonhöhe und Lautstärke. Die Tonhöhe ergibt sich dabei aus der Anzahl der Schwingungen pro Sekunde und wird als Frequenz bezeichnet. Je höher die Anzahl der regelmäßigen Schwingungen pro Sekunde, desto höher der Ton. Die Lautstärke ist vom Schalldruck abhängig. Je näher du also an der Schallquelle und damit am Ausgangspunkt des Schalls stehst, desto lauter empfindest du den Ton." "Ja, logisch", sagte Jasmin. "Wenn ich 100 Meter weg stehe, ist es immer leiser, als wenn ich zwei Meter daneben stehe." "Yep, und jetzt weißt du warum." grinste Anni sie an. "Okay, nächste Karte. Wovon hängt es ab, wie schnell sich eine Schallwelle ausbreitet?" Anni überlegte kurz, dann schnippte sie mit den Fingern. "Das ist abhängig vor allem von dem Medium, in dem sich der Schall bewegt und daneben von Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und Kohlendioxidgehalt." Jasmin überlegte kurz. "Okay, wo höre ich einen Ton denn nun schneller – an der Luft oder im Wasser?" "Im Wasser breiten sich die Schallwellen bei gleicher Temperatur ungefähr viermal so schnell aus." "Wow! Viermal so schnell? Ist ja der Hammer." "Yep, das ist total cool. Stell dir vor, ein Ton wird in einer Entfernung von sagen wir zwölf Kilometern abgegeben. Dann braucht er an der Luft, wenn wir uns sämtliche Hindernisse, die den Ton aufhalten können, wegdenken, ungefähr 36 Sekunden bis du ihn hörst. Aber im Wasser braucht der Ton für die gleiche Strecke nur acht Sekunden bis du ihn hörst." "Ist ja krass, darüber hab ich mir echt noch nie Gedanken gemacht. Und welche Auswirkungen hat das jetzt, wenn du ein Konzert abmischst? Ich meine, wir führen ja keine Unterwassermusik auf im Mauerwerk." "Wäre auf jeden Fall mal eine Idee.", zwinkerte Anni Jasmin lachend zu.
Dann begann Anni zu erklären, wie sich all die Theorie auf die praktische Anwendung auswirkte, dass man in einem Raum zusätzliche Lautsprecher aufstellen musste, damit sich die Wahrnehmung der Musik im Raum nicht verschob. Sie versuchte, das aufzuzeichnen, aber schnell wurde deutlich, dass ihr dafür das räumliche Denken fehlte. Schließlich nahm Jasmin ihr den Stift aus der Hand und zeichnete es nach Annis Erklärungen auf. Die beiden jungen Frauen hatten so viel Spaß dabei und waren so vertieft, dass sie kaum bemerkten wie Nele nach Hause kam und müde in ihrem Zimmer verschwand. Die Karteikarten lagen längst vergessen auf der Seite, und Jasmin konnte die Leidenschaft, mit der Anni diesen Job machte, fast mit Händen greifen. Ein bisschen erinnerte sie das an sich selbst, an ihren Traum, eine erfolgreiche Modedesignerin zu werden und sie merkte, wie sehr sie die kreative Arbeit manchmal vermisste.
Als es plötzlich an der Tür klingelte, schreckten sie beide auf. Jasmin war gerade dabei, eine neue Zeichnung anzufertigen für ein Beispiel von einem sehr verwinkelten Raum und so öffnete Anni die Tür, rief Jasmin auf dem Weg aber lachend zu: "Hey, aber die Bühne steht nicht mitten im Raum." "Warum eigentlich nicht?", fragte Jasmin zurück, während Anni die Tür öffnete, hinter der Katrin zum Vorschein kam. "Guten Abend. Ich würde gern kurz mit Jasmin sprechen. Kann ich hereinkommen?" Anni strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Klar, kommen Sie rein." Jasmin blickte auf und lächelte ihre Mutter an. "Hey, Katrin." Mit einem "Ich lass euch dann mal allein." zog sich Anni diskret zurück. "Danke.", nickte Jasmin ihrer Mitbewohnerin zu.
Katrin stand immer noch an der Tür und spielte ein bisschen nervös mit ihren Händen. Jasmin schaute sie fragend an und Katrin sagte schließlich "Ich wollte einfach nur wissen, wie es heute morgen bei der Polizei gelaufen ist und ob es dir gut geht." Sofort überkam Jasmin das schlechte Gewissen, hatte sie ihrer Mutter doch versprochen, sie wissen zu lassen, wie die Aussage bei der Polizei gelaufen war. "Es tut mir wirklich leid! Ich wollte dich anrufen.", näherte sich Jasmin Katrin mit schuldbewusster Miene. "Schon in Ordnung. Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht.", beruhigte Katrin ihre Tochter mit einem vorsichtigen Lächeln. Jasmin nickte. "Ja, alles in Ordnung. Sie haben uns nicht viel Hoffnung gemacht, aber das war wohl abzusehen." Katrin wunderte sich. Mit Jasmins Erleichterung, dass die Aussage bei der Polizei hinter ihr lag, hatte sie gerechnet, aber nicht damit, dass sie beinahe erholt wirkte. "Und das ist okay für dich?" "Kann es ja jetzt eh nicht ändern.", zuckte Jasmin mit den Schultern. "Ja, das stimmt.", stimmte Katrin ihr zu, doch dann fielen ihr die Bücher, Notizen und Jasmins Zeichnung auf, die auf dem Tisch verstreut lagen. "Was macht ihr hier?", fragte sie verwundert. Jasmin strich sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr und erwiderte: "Ähm, ich helfe Anni beim Lernen. Sie schreibt morgen eine wichtige Klausur." "Anni? Die junge Frau, die mir die Tür geöffnet hat? Ist sie nicht die Tontechnikerin aus dem Mauerwerk? Ich glaub, da hab ich sie schon mal gesehen." "Ja, genau. Sie ist noch in der Ausbildung." Katrins Blick pendelte noch einmal zwischen dem Chaos und ihrer Tochter hin und her und stellte fest, dass Jasmin schon lange nicht mehr so entspannt gewesen war. Was auch immer der Auslöser dafür war, es schien ihrer Tochter gut zu tun. "Scheint ja Spaß zu machen.", merkte sie an. "Das tut es.“, antwortete Jasmin. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus und schließlich meinte Katrin: "Okay, dann will ich euch nicht weiter stören." Mutter und Tochter umarmten sich zum Abschied. "Danke, dass du vorbeigekommen bist und wirklich, entschuldige nochmal, dass ich dir nicht Bescheid gesagt habe. Ich hätte anrufen sollen.", verabschiedete sich Jasmin, doch ihre Mutter schüttelte nur den Kopf. "Das ist schon in Ordnung. Wichtig ist nur, dass es dir gut geht." Sie strich Jasmin über die Wange. "Ich wünsch' euch noch einen schönen Abend." "Ja, ich dir auch", sah Jasmin ihrer Mutter lächelnd hinterher wie sie die WG verließ.
Jasmin stand noch einen Moment lang mit gesenktem Kopf an der Tür. Trotz Katrins Besänftigung plagte sie das schlechte Gewissen, dass sie nicht daran gedacht hatte, ihre Mutter anzurufen. Irgendwie hatte sie das total vergessen. Nele kam die Treppe herunter und sah Jasmin an der Tür stehen. Verflogen war die gelöste Atmosphäre, die geherrscht hatte als sie nach Hause gekommen war. Zögerlich fragte Nele: "Hey, alles in Ordnung? Jasmin wiegelte ab, deutete auf ihr Zimmer und bat Nele, Anni mitzuteilen, sie sei müde und in ihr Zimmer gegangen. Verwundert über Jasmins gedrückte Stimmung schickte sich Nele an, Jasmins Auftrag auszuführen. "Hey, bereit weiterzu... Oh, du bist es." "Sorry, ich weiß, du dachtest, es wäre Jasmin.", bedauerte Nele. "Schon okay.“ Anni machte eine wegwerfende Handbewegung, woraufhin ihr Nele berichtete, was Jasmin ihr aufgetragen hatte. "Müde?", fragte Anni ungläubig, woraufhin Nele nur ratlos mit den Schultern zuckte. "Das ist Quatsch! Sie hat den ganzen Nachmittag hier bei mir gepennt." Nele hob verwundert beide Augenbrauen. "Es ist nichts passiert, Nele. Wir haben nur geschlafen.", rollte Anni mit den Augen. "Ja, klar.", grinste Nele, nur um Minuten später wieder ein besorgtes Gesicht zu machen. "Ich hatte das Gefühl, irgendwas bedrückt sie. Vielleicht solltest du..." Anni nickte nur abwesend und so verabschiedete sich Nele und wünschte eine gute Nacht, doch Anni sah kaum auf, so sehr war sie in Gedanken darüber, was zwischen Jasmin und ihrer Mutter passiert sein könnte, dass sich Jasmin jetzt wieder so zurückzog. 'Nachfragen oder in Ruhe lassen?', fragte sich Anni und beschloss dann, dass sie über die 'in Ruhe lassen ohne Erklärung'-Phase hinaus waren. Das hatte ihnen auch noch nie so richtig gut getan. Also ging sie zu Jasmins Zimmer und klopfte leise. Keine Antwort. Sie klopfte nochmals und sagte leise: "Jasmin? Ich will nur wissen, ob alles okay ist. Und ich geh hier nicht weg, bevor du nicht mit mir gesprochen hast."
Nochmal würde Anni Jasmin nicht in ihrem Zimmer vor sich hin grübeln lassen. Nach ein oder zwei Minuten Stille hörte Anni ein leises "Komm rein." und öffnete die Tür. Jasmin saß im Dunkeln auf ihrem Bett und spielte mit ihrem Handy herum. Sie sah Anni nicht an und so setzte sich Anni einfach neben sie. Als Jasmin nach einer paar Minuten immer noch nicht auf ihre Anwesenheit reagierte, legte Anni ihre Hand auf Jasmins, die mit dem Handy hantierte. "Was ist los?" fragte Anni, leise und besorgt. "Nichts.", antwortete Jasmin beinahe trotzig. 'Okay', dachte Anni, 'du bist stur? Das kann ich auch.' Sie ließ Jasmins Hand los und umfasste Jasmins Gesicht mit beiden Händen, so dass Jasmin gezwungen war, sie anzusehen. Eine Mischung aus Ärger, Schuldgefühlen und Verzweiflung spiegelten sich in Jasmins braun-grünen Augen. Schließlich wandte Jasmin den Blick ab. "Jetzt komm schon, Jasmin", schubste Anni ihre Mitbewohnerin an der Schulter. "Sag mir was los ist." Jasmin druckste herum und schließlich antwortete sie so leise, dass Anni sie kaum verstehen konnte: "Ich hab vergessen, Katrin anzurufen, nachdem Nik und ich bei der Polizei waren." Anni schaute sie entgeistert an. "Und???" Sie hatte sprichwörtlich Fragezeichen im Gesicht. "Katrin hat sich voll die Sorgen gemacht und sie hat sich gestern total lieb um mich gekümmert." Anni verstand immer noch nicht, warum Jasmin das so quälte. "Ja, und? Sie ist deine Mutter. Natürlich kümmert sie sich um dich und natürlich macht sie sich Sorgen." Jasmin schüttelte den Kopf. "Du verstehst das nicht. Das mit Katrin und mir, das ist kompliziert. Ich hätte das einfach nicht vergessen dürfen."
Anni setzte sich im Schneidersitz auf Jasmins Bett und nahm wieder ihre Hand. "Schau mich mal an." Jasmin gehorchte. "Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder du erklärst mir, warum es so kompliziert ist..." Jasmin schüttelte den Kopf und unterbrach Anni mit einem scheuen Lächeln "Glaub mir, DIE Geschichte willst du heute Nacht nicht hören." "Lass mich raten, lang und kompliziert?", fragte Anni sanft. Jasmin nickte und Anni fuhr entschlossen fort. "Okay, dann hier Möglichkeit zwei: Du hörst mir jetzt gleich ganz genau zu und dann gehen wir wieder da raus und du machst, um was du mich gebeten hast – einfach den ganzen Scheiß für heute Abend wegschieben. Du hast gesagt, du hilfst mir beim Lernen und ich nehm' dich jetzt beim Wort." Jasmin musste lachen und schloss die Augen. "Okay, Meister Yoda – erleuchte mich mit deiner Weisheit." Anni war einen Moment lang still und verschränkte schließlich ihre Finger mit denen von Jasmin, die daraufhin ein bisschen erschrocken die Augen wieder aufschlug, es aber geschehen ließ. Dann sah Anni ihr in die Augen und sagte ruhig: "Was glaubst du, ist deiner Mama lieber? Dass du sie anrufst, weil es dir beschissen geht oder dass du es vergisst, weil es dir gut geht?" Jasmin blieb der Mund offen stehen. So hatte sie das noch nie betrachtet. Sie löste ihre Finger aus denen von Anni und umarmte sie spontan. "Danke", flüsterte sie. "Gern geschehen", antwortete Anni leise. Erst nach ein paar Minuten lösten sie die Umarmung. Obwohl sie wusste, dass sie das nicht sollte, weil sie unterschiedliche Dinge voneinander wollten, genoss Anni die Nähe zu ihrer Mitbewohnerin, während Jasmin sich so wohl und sicher fühlte wie schon lange nicht mehr. Es fühlte sich einfach richtig und gut in Annis Armen an. Als sie sich schließlich voneinander lösten, strich Anni Jasmin eine Haarsträhne aus dem Gesicht und legte ihre Hand an ihre Wange. Jasmin schluckte. "Okay?", fragte Anni und Jasmin nickte. Anni stand auf und reichte ihr die Hand. Gemeinsam gingen sie wieder nach draußen, um da weiterzumachen, wo sie vor Katrins Besuch aufgehört hatten.
Ende Kapitel 6.
_________________ These two gorgeous, messed up, totally compelling characters are simultaneously falling in love and breaking each other's hearts (and their own). And I can't get enough of it! L-Chat
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