Kapitel 85: Fear
„Amber?“ Ansgar war von der Arbeit nach Hause gekommen und suchte seine Frau. Er hatte ihr Blumen mitgebracht, pinkfarbene Rosen, die sie sehr liebte. Doch von Amber war weit und breit nichts zu sehen. In Ansgar stieg Angst auf dass sie wieder klammheimlich verschwunden war. Er schaute ob Kleidung fehlte, aber es war alles da. Er stellte die Rosen in eine Vase und beschloss, im Schloss nach ihr zu suchen. Als er Justus traf, teilte der ihm mit, dass die „Gräfin“ ausreiten wollte, er hätte sie vor zwei Stunden im Reitdress angetroffen. Vor zwei Stunden! Ansgar bekam es mit der Angst zu tun. Amber hätte längst zurücksein müssen. „Danke, Justus“, rief er hastig und rannte in Richtung Stall. Als er zu den Stallungen kam, sah er Shadow reiterlos und noch gesattelt und aufgetrenst vor den Boxen stehen. Es musste etwas passiert sein! Ansgar schoss zu dem Rappwallach, und ehe er es sich versah, saß er im Sattel. Er hatte schon als Kind reiten gelernt, aber es hatte ihn all die Jahre nicht mehr interessiert, so dass er es aufgegeben hatte.
Ansgar trieb Shadow an, und sobald er das Schlossgelände verlassen hatte, gab er das Kommando zum Galopp. Er hoffte, dass ihn das Pferd zu Amber bringen würde. Er hielt zwar nicht viel von diesem Psychogequatsche, aber er hatte mal gehört, dass die Pferde sich sehr gut auskannten, und den Reiter an Unglücksstellen führen konnten, und so wie Shadow ja auch allein zurück gelaufen war, so würde er sicher auch Amber finden. Es war das erste Mal seit einigen Jahren, dass er auf einem Pferd saß - das letzte Mal war mit Nathalie gewesen - aber er hatte nichts verlernt, es war wie Fahrradfahren, einmal gelernt, konnte man es für immer.
Shadow wurde schneller und schneller, und Ansgar war sich mittlerweile nicht mehr sicher, ob er Amber wirklich finden würde. Doch dann bemerkte er, dass das Pferd langsamer wurde. Ansgar sah etwas am Boden liegen. Noch halb im Galopp sprang er von Shadow hinunter. „Amber!“, rief Ansgar in Panik und beugte sich über sie. Sie bewegte sich nicht. "Amber!", rief er wieder. Dann sah er dass sie sich bewegte, sie war nicht tot!
Seine Frau lag auf der Seite und krümmte sich vor Schmerzen. Sie war fast weggetreten. Dann bemerkte sie Ansgar. „Was ist passiert? Bist du gestürzt?“ fragte Ansgar ängstlich. Amber konnte kaum sprechen. „Ich weiß es nicht“, sagte sie leise. „Mir war schwindelig, und als ich wieder zu mir kam, lag ich hier. Meine Beine tun so weh….“ wieder verzog sie ihr Gesicht vor Schmerz. „Ich rufe sofort einen Krankenwagen“, sagte Ansgar. „NEIN, keinen Krankenwagen“, wiedersprach Amber. „Bring mich hier weg, bring mich nach Hause“, bat sie. Ansgar zögerte. „Aber du hast dir doch vielleicht etwas gebrochen“, protestierte er. „Nein, das ist es nicht. Ich habe diese Schmerzen schon länger, ich muss nur meine Tabletten nehmen.“ „Bist du sicher?“, wollte Ansgar wissen. Amber nickte. „Es ist die Krankheit, mehr nicht.“ „Gut, ich versuche, den Chauffeur zu erklären, wo wir uns befinden. Und er soll jemanden mitbringen, der Shadow nach Hause bringt.“ Ansgar zog sein Mobiltelefon aus der Jacke und rief Kurt an. Dieser versprach, sofort loszufahren. „Ich friere so“, jammerte Amber. In Windeseile hatte Ansgar seine Jacke ausgezogen und sie Amber übergelegt. „Kurt wird sicher bald hier sein“, sagte er und strich ihr über die Haare. „Seit wann geht das mit den Schmerzen so?“ wollte er wissen. Amber wusste, dass es keinen Sinn machte, Ansgar auszuweichen, deswegen antwortete sie ihm. „Seit einer Woche ist es so schlimm. Dr. Schütte verschreibt mir daher diese Morphin Tabletten.“ Ansgar schluckte hart. Er wusste, was dies bedeutete. Wieder strich er Amber behutsam über die blonden, seidenweichen Haare, die schon ziemlich dünn geworden waren. Es riss ihm beinah das Herz raus, sie so zu sehen, aber riss sich zusammen. Als Kurt nach einer Viertelstunde immer noch nicht da war, beschloss, Ansgar doch einen Krankenwagen zu rufen. „Der findet uns genauso wenig“, gab Amber zu bedenken, doch dann sahen die beiden Kurt mit dem Audi anrollen. Kurz darauf stiegen Kurt und Dana aus und liefen zu Amber und Ansgar. Vorsichtig hoben die beiden Männer Amber an und trugen sie ins Auto. Dana versprach, Shadow zurückzureiten.
„Soll ich nicht doch besser einen Arzt rufen?“, fragte Ansgar besorgt, doch Amber schüttelte den Kopf. „Nein, keinen Arzt, bitte, ich habe genug von Ärzten.“ Sie streckte eine Hand nach Ansgar aus. Dieser ergriff ihre Hand und sah sie weiterhin besorgt an. „Es geht mir schon besser, wirklich“, beharrte Amber. „Warum bist du denn überhaupt ohnmächtig geworden?“, wollte Ansgar wissen. „Das ist doch egal, wahrscheinlich war es zu viel für mich, das war alles. Ich habe schon beim Aufsatteln gemerkt, dass ich schlapp bin, ich hätte wohlmöglich gar nicht ausreiten dürfen“, sagte Amber lapidar. „Was?“ Abrupt ließ Ansgar ihre Hand los. „Ich möchte nicht, dass du das noch einmal machst, Amber, bitte schon dich.“ „Wofür?“, fragte sie sarkastisch. „Ich lasse mir nicht noch das letzte bisschen Freude nehmen von dieser gottverdammten Krankheit“, bölkte sie. „Gib mir bitte meine Zigaretten“, forderte sie dann von Ansgar und zeigte auf den Tisch. Wortlos, weil er wusste, dass sie Recht hatte, erfüllte er ihn den Wunsch. Amber steckte sich eine Zigarette an und umhüllte Ansgar in Rauchschwaden. „Jetzt geht es mir schon besser“, sagte sie und schlug bestimmt die Decke weg. Doch Ansgar merkte, wie wackelig ihre Beine noch waren. Mit einem Satz war er bei ihr und konnte sie grade noch auffangen, bevor sie fiel. „Scheiße“, fluchte Amber. „Jetzt kann ich noch nicht mal mehr laufen.“ „Du bist vom Pferd gefallen, das ist doch klar, dass du noch geschwächt bist“, versuchte Ansgar es herunterzuspielen, aber wusste, dass die Schwachheit von der Krankheit kam. Er half Amber sich wieder hinzulegen. Sorgsam bereitete er die Decke wieder über seine Frau und setzte sich zu ihr. „Ansgar?“, fragte sie ihn plötzlich. „Ich will so nicht enden. Ich will das nicht.“ Erschrocken sah Amber die kleine blonde Frau an. „Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, das weißt du?“ „Welche?“, fragte Ansgar fast tonlos. „Tabletten. In rauhen Mengen. Die 50, die ich hatte, die sind leider schon zur Hälfte alle. Das reicht nicht.“
Ansgar sah Amber total entsetzt an. „Du – du willst dich umbringen?“, fragte er. „Hab ich eine andere Wahl?“, fragte sie zynisch. Ansgar wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste überhaupt nichts mehr. Sein Herz war so schwer, tat so weh, als er sie ansah, und er wusste, er musste irgendetwas sagen, aber er brachte keinen Ton über die Lippen. Amber sah, wie fertig Ansgar war. Sie griff nach seiner Hand und streichelte sie. „Ist schon gut, ich tu´s nicht. Das könnte ich dir nicht antun.“ „Ich könnt´ dich sogar verstehen“, murmelte Ansgar zur ihrer Überraschung leise. „So wäre gewährleistet, dass ich nicht elendig krepier und du dennoch bei mir bleiben kannst bis zum Ende“, sagte sie. „Denk mal drüber nach.“ Abrupt ließ Ansgar ihre Hand wieder los. „Nein!“, sagte er dann entschieden. „Bitte, versprich mir, dass du es nicht tust, bitte“, sagte er dann und sah sie eindringlich an. Sie nickte langsam. „Okay, ich verspreche es. Ich könnte es auch gar nicht, denn ich will jede Minute, die ich kann, bei dir sein und bleiben.“ Ansgar holte tief Luft. „Schlaf jetzt ein wenig, das wird dir guttun. Ich geh auch ins Bett.“ Ansgar zog sich aus und wollte sich den Schlafanzug anziehen, bemerkte dann, wie er von Amber betrachtet wurde. Er sah sie fragend an. „Hm, lass den Schlafanzug aus“, bat sie und schlug neben sich aufs Bett. „Ohne gefällt´s du mir besser.“ Ansgar krabbelte zu Amber ins Bett und schmiegte sich an sie. Er wusste, dass er in Zukunft wohl keinen Sex mehr haben würde, denn Amber war zu geschwächt dafür, aber das war ihm egal. „Meinst du, du kannst ohne leben, zur Zeit?“, fragte Amber als hätte sie seine Gedanken lesen können. „Ohne was?“, wollte Ansgar wissen, aber er wusste genau was sie meinte. „Amber griff unter die Decke, und Ansgar zuckte zusammen als sie ihn an prekärer Stelle berührte. „Du weißt genau, was ich meine“, sagte sie und grinste. „Es tut mir leid“, sagte er schuldbewusst. „Ich kann es nicht ändern, wenn du neben mir liegst.“ Als Antwort zog Amber Ansgar an sich und küsste ihn. Als sie sich wieder lösten, strich Ansgar Amber die Haare aus der Stirn und sah ihr tief in die Augen. „Meinetwegen habe ich nie wieder Sex, ich kann ohne ihn leben, aber ich kann nicht ohne dich leben.“ „Das wirst du müssen – irgendwann“, gab sie zurück. „Ich habe Angst“, sagte Ansgar und Amber sah, wie seine Augen dunkel wurden. „Du hast Angst? Du hast doch nie Angst, Ansgar. Du darfst auch keine Angst haben, du musst stark sein für uns beide.“ „Doch, ich habe Angst, sehr große Angst sogar.“ „Wovor?“ „Ohne dich zu sein. Das macht mir Angst.“ Amber beugte sich vor und küsste Ansgar unendlich sanft auf die Lippen. „Ich werde immer bei dir sein, wenn du mich nicht vergisst, dann wirst du mich immer bei dir haben.“ Ansgars Augen wurden feucht. „Ich habe auch Angst gehabt im Zelt in Kenia, als die Hyänen da rumgeschlichen sind und auch beim Fallschirmspringen. Amber, ich bin nach außen vielleicht stark, aber auch ich habe Ängste.“ „Ich weiß“, nickte Amber, ich habe das gemerkt beim Springen und auch in Kenia. Aber ich fühle mich trotzdem immer sicher bei dir, ich habe das Gefühl, dass du mich beschützt, ist einfach so.“ „Das werde ich auch“, flüsterte Ansgar. „Ansgar?“ „Ja?“ „Halt mich fest, ganz fest und lass mich nie wieder los.“
Ansgar hatte wie ein Besessener gearbeitet, die ganze Woche und die darauffolgende Woche auch. Er tat alles um nicht nachdenken zu müssen. Er ließ keinen an sich heran, auch Victoria nicht. Jeden Tag blieb er von morgens acht bis abends acht im Büro, und wäre am liebsten noch über Nacht geblieben, aber er wusste, er musste irgendwann zur Ruhe kommen, auch wenn er kaum schlafen konnte.
Immer und immer wieder bescherte ihm sein Gehirn Flashbacks an den Moment, wo er Amber das letzte Mal sah. Es tat so weh, sich daran zu erinnern, aber er konnte die Erinnerung nicht auslöschen, egal, wie sehr er es versuchte. Amber war eines Abends von Lillian nach Hause gekommen und hatte ihm gesagt, dass sie Königsbrunn verlassen würde. Ihre Worte hallten in seinem Ohr, unaufhörlich. "Es ist soweit." Es ist soweit, ist soweit... ist soweit..
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